Unordnung und frühes Leid - Thomas Mann

  • Das Leben von Abel Cornelius, ehrenwerter, gutsituierter Familienvater und Professor für Geschichte, ist durcheinander geraten. Schuld daran sind die Zeiten. Sie ändern sich. Ein Umstand, den ein Historiker wie Cornelius, ehrenwert und konservativ, einfach nicht fassen kann. Probleme, wie Kriege oder Staatsschulden haben sich gefälligst in der Vergangenheit abzuspielen, über die Distanz von 200 Jahren und mehr kann man derartige Vorkommnisse hübsch und in aller ruhigen Vornehmheit diskutieren.
    Ihn aber Inflationsgeld, Hausdiener in Sandalen und jungen Leuten auszusetzen, die ohne Hut aus dem Haus stürzen und gar vom Theater träumen, anstatt eine ordentliche Karriere ins Auge zu fassen, ist unerhört. Die eigenen Kinder reden ihn mit ‚ehrenwerter Greis’ an! Gut, daß es neben seinen beiden älteren Kindern noch die Kleinen gibt, sie lassen sich noch behüten und leiten.
    Bei einem kleinen Fest im Haus Cornelius aber wird auch diese Illusion zerstört. Die fünfjährige Tochter verliebt sich in einen Partygast und erfährt, als sie sich wegen der späten Stunde von ihm trennen muß, tiefes echtes Liebesleid. Unordnung auch hier, auch wenn ihr besorgter Papa sich am Ende einredet, daß das Ganze schnell vergessen sein wird.


    Unordnung und frühes Leid erschien erstmals 1925 in der Zeitschrift ‚’Die neue Rundschau’, im Jahr darauf mit seinen gut 125 Seiten dann als kleines Buch beim S. Fischer Verlag. Erzählt wird in einem humorvoll-ironischen Ton, der im entscheidenden Augenblick, dem Herzeleid der kleinen Eleonore, aufbricht und ernst wird. Der Ernst kommt nicht ganz unvermutet, er unterliegt der Geschichte von Anfang an. Denn auch Professor Cornelius, aus dessen Augen man alles miterlebt, leidet. Veränderungen wachsen vor ihm geradezu aus dem Boden, aber er reagiert nur ablehnend. Sie machen ihm Angst, das gibt er jedoch nicht zu. Er verweigert sich. Die neue Zeit ist unverschämt und frech.


    Die Neuerungen schildert Mann weder ausschließlich positiv noch negativ, sondern durchaus kritisch. Die Arroganz der beiden älteren Kinder, die sich in der Überzeugung, über die Gegenwart zu herrschen, gedankenlos über die Gefühle anderer hinwegsetzen, verbergen Unsicherheit und einen Idealismus, den sie sich nur deswegen leisten könne, weil die so verachtete ältere Generation ihnen finanziell den Boden bereitet hat. Die Dienerschaft, die sich die Professorenfamilie trotz der schlechten Zeiten immer noch leistet, muß sich anpassen. Auch sie hat Träume, aber diese lebt sie außerhalb des Hauses aus. Im Haus setzt sie nur vorsichtige Zeichen von Veränderung.


    Im Mittelpunkt von Ironie, Mitgefühl und Kritik steht Cornelius. Seien Betrachtungen darüber, daß nur das, was vergangen ist, wirklich ‚historisch’ ist und das, was geschieht, ‚unhistorisch’ sind wunderbar komisch und zugleich sehr realistisch erfaßt. Cornelius verkörpert jenen Typ Konservativer, die ein Staubkorn hüten, nur weil es gestern niedergerieselt ist, aber übersehen, daß die Zeit voranschreitet und jeder Moment im nächsten Vergangenheit geworden ist. In Manns Beschreibungen steckt viel von der langen Tradition des deutschen Idealismus und der heftigen Diskussion darüber. Schon darin erweist sich die Novelle durchaus als politisch. Die wenigen Äußerungen von Cornelius über seine Gegenwart, also Nachkriegszeit und Anfänge der Weimarer Republik, die er ablehnt, sind die Folge seiner konservativen Einstellung.


    Lebendig sind nicht nur die auftretenden Figuren, sondern auch ihre Interaktion. Die Beziehungen untereinander sind wichtig. Wer verbündet sich mit wem, wer ist wessen Vorbild, wer spricht wie worüber. Das gilt sogar für die Allerkleinsten. Mann fängt die Töne und Zwischentöne ein, väterliche Herablassung, vornehm gezügelten Zorn, Trotz, aufkommende und zurückgedrängte Gefühle von Zuneigung und Liebe, Überschwang, Ängste und Hoffnung, alles klingt in unterschiedlicher Zusammensetzung bei den Figuren immer wieder an. Trotz der Ruhe, mit der erzählt wird, ist die eigentliche Beunruhigung, die den Kern der Geschichte bildet, immer spürbar. Die beunruhigende Frage lautet nämlich, wie die Zukunft aussehen wird. Und sie kann niemand beantworten.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von magali ()

  • Verlinkt habe ich einen Band der Ausgabe sämtlicher Erzählungen, weil die Geschichte als Einzelband zur Zeit nicht aufgelegt wird. Antiquarisch ist sie aber noch zu bekommen.
    Es ist schade, daß zur Zeit wenig Einzelgeschichten lieferbar sind, für Neugierige etwa. Man will ja nicht immer gleich mehrere Geschichten lesen.




    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus