Der Roman beginnt kurz vor dem eigentlichen Ende der Geschichte: Wasil, der Ich-Erzähler, trifft Mordvorbereitungen, er manipuliert den Pürierstab seiner Tante, um sie zu Elektrokutieren. Seine Tante, mit der er vor Kurzem noch heftigen (von leidenschaftlich kann nur bedingt die Rede sein) Sex hatte. Das klingt erst mal ziemlich verquast, es scheint vollkommen unvorstellbar, wie es zu dieser seltsamen Konstellation kommen konnte. Doch im Laufe des Romans entfaltet sich eine nahezu griechische Tragödie.
Nach und nach wird die Geschichte von Wasil und die seiner Familie erzählt. Der Großvater, gebürtiger Ungar im weißrussischen Exil, Revolutionär, Patriarch und Säufer, ist Gründervater einer, gelinde gesagt, seltsamen Familie. Über 30 Jahre verteilt setzt er mit seiner sehr viel jüngeren Frau vier Kinder in der Welt: Zunächst Kolja, Vater des Ich-Erzählers Wasil, und dann, Jahre später, zeitgleich mit der Geburt seines Enkels, eine Tochter, dann eine weitere und schließlich, noch eine dritte. Damit hat er seine Schuldigkeit getan und stirbt. Mit seinem Tod zerfällt die Familie, die Erwachsenen ziehen sich in ihre eigenen Parallelwelten zurück, und Wasil und seine Tanten, die älteste gerade mal 14 Jahre alt, müssen ganz allein ihren Weg in die Welt der Erwachsenen finden. Und der führt ziemlich zwingend ins Unheil.
Dass alles spielt vor der Kulisse der wechselvollen Geschichte Osteuropas. Obwohl in der Sowjetunion geboren, ist Wasils Sippe, die Ungarn, hier nicht weniger fremd als die „Hiesigen“, Polen, die in der neuen Weltordnung nach dem zweiten Weltkrieg plötzlich zu Weißrussen wurden, ohne sich auch nur einen Zentimeter aus ihrer Heimat wegbewegt zu haben. Nachdem Zerfall der Sowjetunion dann ist alles wieder ganz anders, mit dem Ende des Kommunismus kommen die Freuden des westlichen Konsums nach Weißrussland.
Aber im Unterschied zu vielen anderen Ländern Osteuropas, erlebt der Kapitalismus in Weißrussland keinen Kantersieg. Wasil, mit einigen Oppositionellen befreundet, hadert mit deren Ruf nach Freiheit. Was ist das? Ungehemmter Konsum? Meinungsfreiheit? Offenbar ist das eine nicht ohne das andere zu haben und Wasil merkt am eigenen Leib, wie mit dem Ruf nach Freiheit auch ein ganz anderes, unangenehmes Gewächs verbunden ist: Nationalismus und gesellschaftlicher Reaktionismus.
Von diesem ganzen Durcheinander, dem familiären wie dem gesellschaftlichen, erzählt Wasil seltsam distanziert, zwar ehrlich wie es scheint, mit einem ziemlich sarkatischen Blick auf die Dinge, aber doch wie ein Außenstehender. Fast autistisch wirkt er, wie er das Gefühlschaos schildert, in dem er doch eigentlich selbst steckt. Aber diese Perspektive ist es gerade, die diesen Roman erträglich macht, der so seine Tragik zwischen lapidaren Sätzen versteckt. Und manchmal, besonders wenn es um die Beziehung zwischen Wasil und seinem seltsamen Großvater geht, ist dieses Buch einfach nur wunderbar schwarzhumorig.
Kein leichter Stoff, wahrlich, aber mit so leichter Feder präsentiert, dass man erst spät merkt, welche Ungeheuerlichkeiten einem hier präsentiert werden. Immerhin, man merkt's irgendwann.
Über den Autor
Martin von Arndt wurde 1968 als Sohn ungarischer Eltern geboren. Nach der Promotion in Religionswissenschaft lebt er heute als Schriftsteller und Musiker bei Stuttgart. Er ist stellvertretender Vorsitzender des Verbands deutscher Schriftsteller (VS) in Baden-Württemberg. Veröffentlichte bislang erzählende Prosa, Lyrik, Theaterstücke, auch vier Sachbücher, und erhielt für sein Werk mehrere Preise und Stipendien.