Die Kinderkarawane - An Rutgers (ab 12 J.)

  • OT: De kinderkaravaan 1949; dt.: 1953



    Die Kinderkarawane erzählt die Geschichte einer Gruppe von Kindern, Geschwister, die sich 1844 unvermutet allein auf dem Weg nach Oregon befinden. Ursprünglich aus der Gegend von St. Louis stammend, hat sich die Familie Sager auf den Weg gemacht, um im sagenhaften Nordwesten zu neuem Besitz und Reichtum zu kommen. Die Eltern werden jedoch krank und sterben. Ehe die Kinder, im Alter zwischen fünf und 14 Jahren, sowie ein Neugeborenes von wenigen Wochen, zu ihrer Versorgung und Sicherheit auf andere Familien des Wagentercks aufgeteilt werden können, brennen sie unter Führung ihres ältesten Bruders John durch, mit Ochse, Kuh und Hund. John hat die Vaterstelle und damit die Führung übernommen. Tatsächlich bringt er seine Geschwister unter Einsatz aller Kräfte und größter Härte an das ersehnte Ziel. Unterwegs sind die sechs sämtlichen Gefahren von Wildnis, Wüsten, Gebirge, Wetter und wilden Tieren ausgesetzt. Sie trotzen allem, auch Hunger und Krankheiten. Am Ende werden sie von einem Missionarsehepaar adoptiert.


    Diese Geschichte gilt als Kinderbuchklassiker, als historisch verbürgt, weil sie auf einigen tatsächlichen Geschehnissen beruht, und überdies als pädagogisch wertvoll, sie wird auch heute noch im Schulunterricht eingesetzt.
    Das verwundert eine nun doch. Erzählt wird hier die Geschichte eines Mannes, Ehemann und Vater von sechs Kindern, der aus keinem anderen Grund, als dem, daß er glaubt, die Decke falle ihm auf den Kopf, seine gar nicht schlecht gehende Farm aufgibt und davon zieht, um ins Paradies zu gelangen, also dem Geld nach. Seine Frau ist schwanger, die Kinder sind auch für 1840er Jahre noch recht jung, aber das hält ihn nicht ab. Der Himmel wird es schon richten. Gut, wenn man die Verantwortung so leicht abgeben kann.
    Wie das Leben so spielt, übernimmt nicht der Himmel, sondern der älteste Sohn die Verantwortung. Er ist fest entschlossen, um jeden Preis den Wunsch seines Vaters zu erfüllen. Wie der Vater vor ihm, bringt er bedenkenlos sich und seine Geschwister in Gefahr. Der Lohn für ihr Leiden ist die Aufnahme ins Gelobte Land.


    Erzählt wird das alles mit viel Ernst und Überzeugung, als gäbe es keine Zweifel an einem so verantwortungslosen Verhalten. Schlimmer noch, das Ganze wird zu einem großartigen Abenteuer. Die sind am spannendsten, wenn echte Lebensgefahr droht. Um ein Land zu erobern, in Besitz zu nehmen, dürfen keine Opfer gescheut werden. Treffen die Kinder andere Menschen, sogenannte Erwachsene, sind die auch prompt des Lobes voll angesichts dieses Opfermuts. Auch Johns Leiden an seiner neuen Rolle als Härtester der Harten wird geschildert. Er gab seine Kindheit auf, um seine Geschwister zu retten. Dafür muß er hin und wieder nicht nur ihren Zorn, sondern sogar Augenblicke des Hasses ertragen. Aber die Sache ist es wert, versichert die Autorin. Die wahren Helden, psychisch wie physisch, sind Pioniere.


    War da noch etwas? Ja, doch. Es gibt da etwas, das nennt sich Indianer. Die hüpfen auch herum. Das stört ziemlich, die gehören doch gar nicht dorthin. Oder irgendwie doch? Schließlich müssen Missionare auch etwas zum Bekehren haben. Das macht im übrigen ordentlich Arbeit, weil Indianer nichts taugen. Die Kinder machen diese Erfahrung auch. Als sie auf dem letzten Stück des Wegs auf Anweisung des Kommandeurs eines Forts von Indianern begleitet werden, stehlen diese ihnen kurz darauf Gepäck und Pferde und verschwinden damit. War ja klar. Kann gar nicht anders sein. Daß dieser Teil der Geschichte, wie so manches andere, nicht historisch ist, interessiert offenbar bis heute niemanden.


    Über dieses Buch kann man nur den Kopf schütteln. Es glorifiziert einen realitätsfernen Pioniergeist, vergoldet eine Vergangenheit, als gäbe es keine kritische Auseinandersetzung mit der Besiedelung des US-amerikanischen Westens durch weiße SiedlerInnen. Es ist billig sentimental. Es leugnet Unrecht, verwandelt Verantwortungslosigkeit in nobles Entdeckertum, macht aus denen, die hier die Leidtragenden solcher Einstellungen sind, die Kinder nämlich, zu Symbolen menschlicher Leidensfähigkeit um einer Sache Willen. Die Sache heißt Besitzerwerb.
    Gruseliges Buch. Kann man das bitte in den Keller bringen, ganz nach hinten?

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus