Literatur-Nobelpreis an Mo Yan

  • Habe jetzt ungefähr 50 Seiten in die "Knoblauch-Revolte" hineingelesen. Als übermäßig systemergeben hätte ich dies nicht bezeichnet. Das Leben der Bauern ist archaisch und ärmlich, die lokalen Behörden sind unfähig, frech und auch brutal. Auch das dem Buch als Motto vorangestellte Zitat von Josef Stalin (!) wirkt doppelbödig.
    Es ist aus meiner Sicht auch unerträglich arrogant, wenn chinesische Literatur aus bestimmter westlicher Sicht offenbar nur anerkennenswert ist, wenn sie unserer Vorstellung von "Systemkritik" entspricht. 1,3 Milliarden Menschen? Pah, was kann es da außer politischen Büchern schon interessantes zu schreiben geben?

  • Zitat

    Original von Buchdoktor: Ein Beispiel für eine frustrierende Leseerfahrung war Gerettete Worte, in dem entweder die Interviewten historische Ereignisse als "Schicksal" bagatellisierten oder aber die Interviewerin die Gespräche in dem Moment abbrach, in dem persönliche Konsequenzen aus Fehlern der Vergangenheit zur Sprache kamen. Auch das neueste von mir gelesene Buch China in zehn Wörtern vollzieht m. A. keinen Schritt vom Erkennen von Zusammenhängen (die Zerschlagung der Familien zur Zeit der Kulturrevolution) zu persönlichen Konsequenzen. Der Autor erkennt zwar als Erwachsener, warum Gewalt seine Träume und sein Werk bestimmten - aber wen kümmert es? Mir fällt kein Roman eines chinesischen Autors ein, den ich spontan empfehlen würde. Denn selbst eine tragikomische, ironische Geschichte wie Warten setzt landeskundliche Kenntnisse voraus, um wirken zu können.


    Danke für Eure Beispiele, Buchdoktor und Vulkan.


    Zum Absatz von Buchdoktor würde ich gern noch etwas schreiben.
    In Deinem Beispiel ist die Rede vom Abtun von historischen Ereignissen als Schicksale.
    Vorweg, "Gerettete Schicksale" habe ich nicht gelesen. Wenn ich mich nicht schon länger mit China beschäftiget hätte, würde ich mutmaßlich Deine Sicht der Dinge teilen.
    Der erste Zugang zum Verständnis der chinesischen Kultur ist der, dass man als Europäer seine humanistischen Vorstellungen ablegen sollte. Der Wert des menschlichen Lebens wurde und wird in China immer noch nicht so hoch angesehen wie es in Deutschland der Fall ist.
    Das ist schwer begreiflich, hält man sich diese Tatsache allerdings vor Augen, dann wird die chinesische Literatur aus sich heraus verständlicher. Wer sich fernab der Literatur hierfür interessiert, dem empfehle ich, sich mit der Problematik der Wanderarbeiter auseinanderzusetzen, deren Geschichte (auch die aktuelle) deutlich macht, welche Opfer China für seinen Fortschritt bringt.


    Zu "China in zehn Wörtern": Im August habe ich die Lesung des Schriftstellers Hua Yu besucht, in der er auch auf sein neuestes Buch zu sprechen kam.
    In der Diskussion berichtete er davon, dass "China in zehn Wörtern" aus gewissen Gründen noch gar nicht in China erschienen sei. Damals hatte ich nicht den Eindruck, dass es Hua Yu darum ging, sein Land anzuprangern, sondern er sein China der Welt vorstellen wollte. Eine Art Bestandaufnahme, mit allen Stärken und Schwächen.


    Zitat

    Original von Buchdoktor: Denn selbst eine tragikomische, ironische Geschichte wie Warten setzt landeskundliche Kenntnisse voraus, um wirken zu können.


    Darf der Literatur der Vorwurf gemacht werden, sie nicht zu verstehen, weil die landeskundlichen Kenntnisse fehlen?
    Wenn es auf unserer Erdkugel knapp 200 Staaten gibt und China darunter zu den mächtigsten zählt, sollte es dann nicht an der Zeit sein, sich mit diesem gigantischen Land wenigstens grundsätzlich zu beschäftigen?

  • Zitat

    Original von Salonlöwin ... Wenn es auf unserer Erdkugel knapp 200 Staaten gibt und China darunter zu den mächtigsten zählt, sollte es dann nicht an der Zeit sein, sich mit diesem gigantischen Land wenigstens grundsätzlich zu beschäftigen?


    Die grundsätzliche Beschäftigung wird wirkungslos bleiben, wenn, wie du richtig anmerkst, grundlegende Kenntnisse über eine Kultur fehlen, wie z. B. dass unser Anspruch an individuelle Rechte und Menschenrechte nicht exisitiert und auch nicht zu erhoffen ist. Ich habe schon so manche Diskussion frustriert abgebrochen, in der mir beleidigt entgegengeschleudert wurde, dass doch die Menschenrechte universell seien, etc. pp. Die Kombination aus Yu Huas "Brüder", das ich grotesk und schwer zu ertragen fand, und seinen Kindheitserinnerungen eröffnen m. A. einen Weg zum modernen China. Der kleine Yu Hua, der als Kind in den Krankenzimmern spielt und dessen Vater im blutigen OP-Kittel zum Essen kommt, kann keine Vorstellung von Menschenwürde haben, wie wir sie beanspruchen, weil sie ihm nicht vorgelebt wird. Wenn die grundsätzliche Beschäftigung mit China per biografischem Ansatz klappt, aber kaum mit Romanen, könnten Romane - noch - der falsche Zugangsweg sein.


    "Gerettete Worte" finde ich auf seine Art höchst interessant, weil die Gesprächspartner in ihrer Analyse der historischen Ereignisse der Interviewerin teils weit voraus sind, bzw. man sich als Leser fragt, warum eine Autorin, die längst im Ausland lebt, ein so angepasstes Buch veröffentlicht.

  • Ich habe gerade gelesen, das ein Streit um den Literaturpreis entstanden ist, weil einer der Juroren die Werke von Mo Yan übersetzt hat und sich dadurch einen finanziellen Vorteil erhofft, hier der Link zum Artikel klick


    Finde ich ja schon ein wenig merkwürdig, das so jemand dann in der Jury sitzen darf :pille

  • Besteht die schwedische Akademie nicht aus 17 oder 18 Mitgliedern? Die sollen sich mehrheitlich für einen Preisträger entschieden haben, weil ein 88 Jähriger als Übersetzer richtig Kasse machen will (kann man das als Übersetzer ins Schwedische überhaupt?)? Nicht wirklich, oder? Irgendwelche Interessenskonflikte wird man bei solchen Juryentscheidungen immer ausgraben können.


    Im Übrigen bin ich etwas überrascht über die hier getroffenen Aussagen. Zugegeben bin ich über chinesische Literatur praktisch kaum informiert, vom "Traum der roten Kammer" (nicht gerade zeitgenössisch) und eher trivialer Literatur wie den im Schanghai der 90er spielenden Kriminalromanen von Qiu Xiaolong einmal abgesehen. Warum kann uns der Roman keinen Zugang eröffnen, nur weil in China ein anderes Wertesystem herrscht? Würde man auch die Geschichte vom Prinzen Genji von Murasaki nicht als großen Roman betrachten, nur weil uns das Wertesystem fremd ist?
    Auch Russland war nie ein Hort des westlichen Individualismus, dennoch würde niemand russische Romane als nicht lohnend betrachten.