Ursprünglich war dieses Konzertdoppel (29.9./30.9.) für Anfang Juli gesetzt, und diese beiden Gigs waren auch schnell ausverkauft. Dann kam es im Frühsommer während der Aufbauarbeiten für ein Konzert in Toronto zur Katastrophe: Der Bühnenaufbau stürzte ein, viel Material wurde vernichtet, und ein Roadie kam sogar ums Leben. Als schließlich die Nachholtermine bekanntgegeben wurden, gab es plötzlich wieder Karten, übrigens sogar noch an der Abendkasse. Zu Beginn des Hauptsets war die Freilichtbühne Wuhlheide allerdings komplett gefüllt.
Das Ärgerliche vorweg: Vornehmlich, um den Schwarzmarkthandel zu unterbinden, gab es für die Auftritte ausschließlich personalisierte Tickets, die auch bei nur einem Anbieter erhältlich waren. Um Einlass zu erhalten, war nicht nur das Ticket notwendig, sondern auch ein Ausweisdokument, und wollte man, wie ich beispielsweise, die Tickets umtauschen bzw. umwidmen, musste man den gescannten Ausweis (!) desjenigen hochladen, für den man ursprünglich eine Karte gekauft hatte, und fünf Euro "Bearbeitungsgebühr" ablatzen. Ich nehme an, dass es am Abend selbst nahezu unmöglich gewesen wäre, ein Ticket umzutauschen oder zurückzugeben, vom Privatverkauf ganz zu schweigen. Hier wird ein prinzipiell guter Ansatz zur Drangsalierung für die treuen Fans. Ich überlege noch, ob ich versuche, mir die fünf Euro zurückzuholen, denn solche Bedingungen überschreiten jede Zumutbarkeitsgrenze.
Viele kamen in Winterklamotten, obwohl am frühen Abend noch knapp über zwanzig Grad herrschten. Nach einem sehr kurzen Schauer, der einen fantastischen Regenbogen über das Areal zauberte und dieserart vorwegnahm, dass die Band viel vom - meiner Meinung nach besten - Album "In Rainbows" spielen würde, riss der Himmel auf und blieb auch bis spät in die Nacht weitgehend klar. Und gefroren hat sicher niemand. Was viele davon abgehalten haben dürfte, die Julitickets umzutauschen, nämlich ein herbstlicher Open-Air-Termin, erwies sich schon beim Beginn des Supports ("Caribou"), vor allem aber beim Hauptact als Vorteil: Ohne die früh eintretende Dunkelheit wäre viel vom Zauber der unglaublich originellen Lichtshow einfach verpufft.
Es gehört in gewisser Weise zur Tradition von "Radiohead"-Konzerten, dass Vorbands auftreten, bei denen man das Gefühl hat, sie würden eigentlich nicht auf eine Live-Bühne gehören. So auch "Caribou". Nur wenig Raum auf der weitläufigen Bühne einnehmend und quasi einander zugewandt, spielte die vierköpfige Gruppe um den kanadischen Elektromusiker Daniel Victor Snaith ein halbstündiges Set, das nicht nur viel zu leise war, sondern auch als höhepunktefreier Klangbrei beim Publikum ankam. "Fahrstuhlmusik für Intellektuelle" nannte es mein Begleiter. Jedenfalls konnten wir uns in Zimmerlautstärke unterhalten, obwohl wir nur zehn Meter von der Bühne entfernt standen. Mit großem Erstaunen beobachtete ich einen Schlagzeuger, der sich zu verausgaben schien, ohne dass Töne zu hören waren, die damit auch nur entfernt in Verbindung standen. Geschenkt. Ich nutzte die Gelegenheit, um mich umzuschauen. Das Publikum zu achtzig Prozent männlich, im Schnitt Mitte dreißig und älter, viele englisch sprechende Menschen um uns herum, darunter auch fünf fröhliche, hackedichte Briten Ende zwanzig, von denen einer bei "Radiohead" dann lautstark, falsch und viel zu früh einsetzend mitsang, oder, wenn er das nicht tat, auf meinen Füßen herumtanzte, obwohl ich mich häufig hinter ihm (weg)bewegte. Irgendwie fand er mich immer wieder.
Schlag zwanzig Uhr dreißig. Thom Yorke und Mitmusiker betreten unter viel Applaus die Bühne, darunter auch "Portishead"-Schlagzeuger Clive Beamer, der "Radiohead" auf dieser Tour an einem zweiten Schlagwerk unterstützt. Der Abend wird sehr percussionlastig werden, ohne dass dies irgendwas mit Gebummer zu tun hätte. Doch eins nach dem anderen.
Die Bühne wird beherrscht von einer durchgehenden, übermannshohen Lichtwand im Hintergrund, vor der die beiden Schlagzeuge platziert sind. Über den Köpfen der Musiker hängen zwanzig etwa drei Quadratmeter große Panels - wie sich herausstellt, ebenfalls Videoschirme.
Die ersten Klänge von "Lotus Flower" sind zu hören, der Single von "The King of Limbs", dem letzten Album. Für ein paar Sekunden ist der Sound gewöhnungsbedürftig, aber bald entsteht ein fein nuancierter Klangteppich, während die Musiker eindrucksvoll demonstrieren, ihr Handwerk mehr als zu beherrschen. Unprätentiös, aber eingebunden in eine virtuose, jeden Song optisch einrahmende Lichtshow, die mehr als nur beeindruckt, spielen "Radiohead" an diesem Abend vor allem Stücke der letzten beiden Alben, also auch von "In Rainbows". "Radiohead"-Konzerte verlaufen nicht nach dem Schema, das viele Bands pflegen: Vier, fünf neue Songs, zwei Überraschungen und ansonsten ein Best of. Wer die "Hits" wie "Karma Police" oder "Creep" erwartet, wird enttäuscht werden, oder wer auf Mitklatschorgien, La Olas, pogende Zuschauer oder ähnliches hofft. Abende mit "Radiohead" sind echte Konzerte, wohlkomponierte Inszenierungen, die einer eigenen Dramaturgie folgen, schwer kategorisierbar (wie auch das gesamte Oeuvre der Band), optisch unvergleichlich - und mit einer Spielfreude vorgetragen, die mitreißt und schlicht glücklich macht. Thom Yorke vermittelt den Eindruck, etwas zu tun, das er über alles liebt, das für ihn eine Bedeutung hat, die über simplen "Rock" weit hinausgeht. Folgerichtig lässt er sich zu einigen Tanzeinlagen hinreißen, die mindestens jene nicht überraschen, die das unkonventionelle Video zu "Lotus Flower" gesehen haben.
Der Auftritt dauert zwei Stunden und fünfzehn Minuten, von denen keine einzige langweilig ist. Schon mit der zweiten Zugabe überschreitet die Band die 22.30-Uhr-Marke, die hier eigentlich das absolute Limit darstellt, und der Auftritt endet mit der dritten, einem meiner Lieblingslieder: "Idioteque". Ein Eindruck hiervon:
Schon der letzte Gig hatte es in meine umkämpfte Top-10-Liste geschafft, aber diesem Konzert gelang ein müheloser Durchmarsch bis (fast) an die Spitze. "Radiohead" stehen ohnehin für eine sehr eigene Qualität, aber wer das Glück hat, die Band live zu erleben, wird mit einem Erlebnis beschenkt, das fast alle anderen Rockbands des Planeten die Schamesröte in die Gesichter treiben müsste. "Großartig" ist das falsche Wort; es ist weit mehr als das. Musikalisch ohne Vergleich, optisch ein Genuss.
Am 15. Oktober folgt das dritte Konzert in Deutschland: Köln, Lanxess-Arena.