MINI-LR "Messias-Maschine" von Chris Beckett ab 2.10.

  • Zitat

    Original von Clare
    Die Szene, in der Ruth gefunden wird, allein und seit 5 Tagen leblos in der Gurten ihres SenSpace hängend, malt ein wirklich trostloses Bild davon, was sie sich noch als ihren Weg vorstellt. Ihre Verstümmlung ist ihre Eintrittskarte in das "Leben", das sie sich noch wünscht. Nun wo George weg ist, ist sie sozial gänzlich verarmt. Traurig.
    ...


    Die Abschnitte mit Ruth fand ich schon ziemlich überzeugend.

  • Ich finde Ruth als Figur bisher überzeugender als z.B. George.
    Was ich meinte war, dass Beckett mir ein bisschen zu direkt den Finger in die Wunden, die die Technisierung in unser Sozialverhalten schlägt, legt. Ich persönlich mag es lieber etwas subtiler. Sonst fühle ich mich schnell belehrt.

  • Ich muss sagen, ich war ziemlich schnell drin in der Geschichte und es lässt sich, zumindest für mich, ziemlich gut lesen. Auch wenn vieles verwirrend ist.


    Die Entwicklung der Welt lässt mich frösteln, irgendwie schafft es der Autor, mit wenigen Worten das bei mir zu erreichen. Auch sonst habe ich ein ziemlich gutes Bild von dieser seltsamen neuen Welt.


    Die Perspektive finde ich gut gewählt, und nicht nur die Hauptfigur ist interessant. Gerade das letzte Kapitel, was wohl von Lucy erzählt, macht sehr viel Lust auf mehr.



    Zitat


    Rosha
    Erschreckend finde ich den massiven Mangel an zwischenmenschlicher Zuwendung. Seine Mutter, mit der er zusammen in einer Wohnung lebt, ist dazu nicht fähig. Ihre Erfahrungen der Vergangenheit machen ihr das anscheinend unmöglich. Sie ist ziemlich egozentrisch.


    Oder traumatisiert, so wirkt sie zumindest auf mich. Knapp dem Tod zu entrinnen ist nicht ohne und wirkt sich auf das gesamte spätere Leben aus.

  • Im Prinzip sind die Rollen im Mutter-Sohn-Verhältnis zwischen Ruth und George vertauscht. Ruth gibt sich extrem infantil und George muss der Vernünftige sein, der sich kümmert.


    Ich frage mich, ob Ruths Verhalten aus ihren traumatischen Erlebnissen von früher herrührt oder ob sie schon immer einen Hang zu diesem beinahe autistischem Leben hatte. Sie schien ja auch schon vor der "Reaktion" kein tolles Verhältnis zu ihrem Sohn gehabt und die meiste Zeit in ihrem Labor samt Roboter verbracht zu haben.


    SenSpace ist für mich das Aquivalent zu Second Life, das ja bekanntermaßen dieses extreme Suchtpotential liefert. Auch habe ich schon Berichte gehört/gelesen, dass gerade körperlich behinderte Menschen sich gern in dieser Alternativwelt tummeln, weil sie dort "normal" sein können.


    Der Bericht über Ruths Abdriften in diese Scheinwelt empfinde ich daher als sehr realistisch. Allerdings frage ich mich, ob es medizinisch wirklich möglich ist, innerhalb so kurzer Zeit (fünf Tage) den Körper derart massiv zu schädigen. Das fand ich etwas übertrieben, aber ich habe zu wenig Zeit, das zu recherchieren. Ich bleibe daher skeptisch.

  • Zitat

    Original von Rosha
    Im Prinzip sind die Rollen im Mutter-Sohn-Verhältnis zwischen Ruth und George vertauscht. Ruth gibt sich extrem infantil und George muss der Vernünftige sein, der sich kümmert.


    Ich frage mich, ob Ruths Verhalten aus ihren traumatischen Erlebnissen von früher herrührt oder ob sie schon immer einen Hang zu diesem beinahe autistischem Leben hatte.


    Ruth ist von religiösen Fanatikern gefoltert/misshandelt worden. Wie genau, erfahren wir bisher nicht, vielleicht bleibt es auch bei der Andeutung, aber es ist anzunehmen, dass ihr das gleiche geschehen ist wie dem Verurteilten vor ihr. Ich glaube nicht, dass sie, um sich zu retten, leugnen konnte und Abbitte leisten für etwas, das sie nicht als Unrecht empfand, nicht aus moralischer Stärke, eher aus der Unfähigkeit heraus zu taktieren, die ich zuschreiben würde.


    Zitat

    ...
    Der Bericht über Ruths Abdriften in diese Scheinwelt empfinde ich daher als sehr realistisch. Allerdings frage ich mich, ob es medizinisch wirklich möglich ist, innerhalb so kurzer Zeit (fünf Tage) den Körper derart massiv zu schädigen. Das fand ich etwas übertrieben, aber ich habe zu wenig Zeit, das zu recherchieren. Ich bleibe daher skeptisch.


    Das habe ich mich, rein von den medizinischen Möglichkeiten heraus, auch gefragt, und ich halte es für möglich. Ruth wird als unterernährt und dehydriert beschrieben, da sie nicht gut für sich sorgt und nur all zu oft im SenSpace ist.
    5Tage war sie im SenSpace: Sie hat nicht gegessen, nicht getrunken, und die Gurte dürften, von ihrem körperlichen Zustand ausgehend, schon nach wenigen Stunden die ersten Druckstellen 1. Grades verursacht haben. Da sich an ihrer Haltung nichts mehr wesentlich änderte, wurde die bald zu Dekubiti 2. Grades. Sie war umgeben von ihren Exkrementen, die in die offenen Stellen drangen...
    Die schlimmen Verletzungen könnten vielleicht wirklich so möglich sein. Aber ob Amputationen wirklich notwendig gewesen wären, kann ich schwer beurteilen.

  • Hm :gruebel
    Ich muss leider sagen, dass mich das Buch nach wie vor nicht überzeugt. Es liest sich recht schnell und ganz nett, aber mehr auch nicht.


    Immer mehr fühle ich mich, wenn es um die virtuelle Realität SenSpace geht, in der Ruth nun "Lebt", an "Otherland" von Williams erinnert, nur dass er mich ungemein fesseln konnte mit seinen Ideen.
    Besonders als der vituelle Mund bei der Störung im SenSpace dabei war, die dortige Welt zu verschlingen, wollte ich das Buch schon fast weglegen.. denn das große Verschlingen gibt es auch da, allerdings nicht mit so einer lapidaren Erklärung wie einer technischen Störung, die die Sozialarbeiterin bringt, die Mr Sol steuert.


    George hat nun Lucy doch zerstört, auf andere Art als gedacht, aber Verrat mit Zerstörungsfolge ist letztendlich auch nichts anderes als wenn er selbst den Meißel geführt hätte.

  • Mich haben die Ausmaße von Ruths körperlichen Zustand ziemlich schockiert.
    Und George war nicht da. Ich denke, dass das für George nur noch mehr dazu führt, dass er eine noch labilere Person wird.


    Er hat sich schon lange in einem moralischen Graubereich bewegt, aber der Verrat an Lucy bringt ihn dann endgültig einen Schritt über die Grenze.


    Die (Fehl)-Entwicklung der Figur ist das, was mich an dem Roman so sehr interessiert hat.

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Mich haben die Ausmaße von Ruths körperlichen Zustand ziemlich schockiert.
    Und George war nicht da. Ich denke, dass das für George nur noch mehr dazu führt, dass er eine noch labilere Person wird.


    Verstehe ich jetzt nicht? Wie kann das George beeinflussen, er ist zwar möglicherweise moralisch für Ruths Zustand verantwortlich, aber er weiß doch gar nichts davon und so schnell wird er es wohl auch nicht erfahren.


    Auch halte ich ihn nicht für labil, eher für einsam, unausgefüllt.

    "Sie lesen?"
    "Seit der Grundschule, aber nur, wenn's keiner sieht."


    Geoffrey Wigham in "London Calling" von Finn Tomson

  • Ich empfinde George als unheimlich naiv und weltfremd. Und beziehungsunfähig. Aber trotz allem noch viel vernünftiger und ausgelichener als seine Mutter. Die ist ja komplett aus der Bahn geschüsselt. :keks

  • Für mich ist es mittlerweile recht vorhersehbar, die Flucht mit Lucy war ja quasi angekündigt und ist jetzt eingetroffen. Ruths Entwicklung bzw. ihr eintauchen in diese künstliche Welt war auch vorhersehbar. So gut es sich lesen lässt, so vorhersehbar ist es für mich. Und wohin die Reise gehen soll ist mir nicht ganz klar. :rolleyes


    Edit meint noch, dass sich die verschiedenen "Welten" immer mehr angleichen, nicht in ihrem Inhalt sondern in ihrem Verhalten andersdenkenden gegenüber.

    „Die Tränen, die wir weinen, verdunsten vielleicht, aber sie verschwinden nicht.“
    (Zwischen zwei Träumen von Selim Özdogan)


    Mein Tauschregal

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  • Zitat

    Original von Rosha
    Ich frage mich, ob Ruths Verhalten aus ihren traumatischen Erlebnissen von früher herrührt oder ob sie schon immer einen Hang zu diesem beinahe autistischem Leben hatte. Sie schien ja auch schon vor der "Reaktion" kein tolles Verhältnis zu ihrem Sohn gehabt und die meiste Zeit in ihrem Labor samt Roboter verbracht zu haben.


    Der Sohn ist doch erst auf der Flucht aus den USA gezeugt worden, da war die Reaktion doch schon im vollen Gange. Soweit ich es nicht komplett falsch verstanden habe.
    Von Ruths Leben vorher erfahren wir ja nicht besonders viel, eben weil der Sohn damals noch nicht gelebt hat und es eben nicht berichten kann.

  • Mir geht es wie euch, das Buch reißt mich nicht mit, es überrascht mich nicht. Und emotional hat mich noch keine Zeile an den Text gebunden. Die Lektüre bleibt seltsam hohl und macht mich nicht satt.


    George weiß nicht, was er will. Er dümpelt irgendwie ziellos vor sich hin. Und das überträgt sich auf den ganzen Roman. Was wollte der Autor damit erreichen?


    Am ehesten entdecke ich noch Leben in den Passagen, in denen es um Religionen geht. Zum Beispiel in Kapitel 56, als George einen Priester aufsucht und in der Beichte Vergebung für seinen Verrat an Lucy sucht. In diesem Abschnitt habe ich so etwas wie Leidenschaft gespürt. Gut möglich, dass es diese Thematik ist, die dem Autor am Herzen liegt. Religion, Glaube und das, was die Menschen daraus machen.


    George bezeichnet sich selbst als genauso hohl wie Lucy und ich fürchte, er hat recht. Er meint, Lucy zu lieben, dabei fährt er hauptsächlich auf ihre optischen Reize ab. Er meint, er muss sie retten, hat aber nicht bedacht, was das letztendlich bedeutet. Als sie sich nicht so verhält, wie er gerne hätte (im Prinzip soll sie so sein wie ein echter Mensch), ist er sehr schnell genervt von ihr. Als sie sich das Fleisch vom Plastikkörper reißt, ekelt sie ihn an, wird wertlos für ihn, weil er in diesem Zustand schließlich keinen Sex mehr mit ihr will.


    Jetzt kommt die gleiche Egozentrik, die auch schon seine Mutter pflegt, mehr als deutlich zum Vorschein: er will Lucy loshaben und verrät sie.


    Was ich auch nicht als nachvollziehbar empfand, warum der Lynchmob zwar Lucy erledigt hat, aber ihn so gänzlich ungeschoren davon kommen lässt. Das erscheint mir wenig glaubhaft. Die Leute waren so aufgepeitscht, dass sie ihn mindestens verprügeln hätten müssen. Mal ganz davon abgesehen, dass ich an Georges Stelle sofort abgehauen wäre, als alle hinter Lucy hergelaufen sind.
    Ich habe mir nur gedacht, was für ein winselnder Trottel! Läuft hinter den Massen her, obwohl klar war, dass er Lucy nicht mehr helfen konnte (was er im Grunde auch gar nicht wollte). Er war in einer Zwickmühle, dem klassischen "wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass". Lucy sollte verschwinden, aber er hätte gerne seine Hände in Unschuld gebadet.


    Von einer einigermaßen netten Figur hat sich George inzwischen zu einem A... entwickelt. Bleibt aber trotzdem flach und uninteressant.

  • Zitat

    Original von Rosha
    Was wollte der Autor damit erreichen?


    Ich halte noch ein bisschen meine Klappe, da ich das Buch bereits am Mittwoch beendet habe. Aber ich wollte es abhaken, bei Seite legen.


    Und das frage ich mich immer noch?
    So wie das Buch angelegt ist, ist es keines der üblichen SF-Abenteuer, sondern scheint mehr zu wollen. Nur was?

    "Sie lesen?"
    "Seit der Grundschule, aber nur, wenn's keiner sieht."


    Geoffrey Wigham in "London Calling" von Finn Tomson

  • Zitat

    Original von dyke
    So wie das Buch angelegt ist, ist es keines der üblichen SF-Abenteuer, sondern scheint mehr zu wollen. Nur was?


    Oh, ich bin gespannt! Vielleicht kommen wir zur eigentlichen Diskussion erst nach Beendigung der Lektüre! Harre noch aus, dyke, ich bin bald fertig mit dem Roman. :trippel

  • Zitat

    Original von Rosha
    Mir geht es wie euch, das Buch reißt mich nicht mit, es überrascht mich nicht. Und emotional hat mich noch keine Zeile an den Text gebunden. Die Lektüre bleibt seltsam hohl und macht mich nicht satt.
    ...


    Besser hätte ich es auch nicht zusammenfassen können.
    Selbst Entwicklungen, die sicher dazu gedacht waren, den Leser zu überraschen, waren seltsam vorhersehbar.


  • So, nun, fertig. ?(
    Ehe ich eine Rezi schreibe, werde ich das Ganzen noch sacken lassen, aber der Brüller war das Buch leider nicht.


    Der Autor hat sich emotional aus diesem Buch ziemlich herausgehalten. Das ist jedenfalls der Eindruck, den es auf mich gemacht hat. Sogar die Szene, in der George vergewaltigt wird, war seltsam trocken und gefühlsarm. Dadurch, dass der Autor George eine außerkörperliche Perspektive zugesteht, hat er sich meines Erachtens einfach davor gedrückt, sich dem Schwierigen zu stellen.


    Es ist nämlich sehr schwierig, Gewalt zuzulassen, sie zu beschreiben, denn als Autor musst du das auch an dich heranlassen. Das tut weh, kostet Schweiß und Herzblut - wenn man es richtig macht. Beckett hat jedoch durch seinen Kunstgriff den Abstand gewählt und hält damit auch den Leser auf Abstand. Das ist leider verschenktes Potential. Schade.


    Die Prämisse, die dem Buch zugrunde liegt oder liegen sollte, habe ich für mich noch nicht ausmachen können. Habt ihr sie entdeckt? Ein wirklich guter Roman basiert auf einer einzigen Prämisse.Mit einem einzigen Satz muss sich der Sinn, der Grundgedanke, die Basis der Geschichte ausdrücken lassen. Ich suche noch.


    Allerdings muss ich jetzt sagen, dass sich das Lesen aufgrund einer einzigen Stelle definitiv für mich gelohnt hat. Ich zitiere von Seite 296 (die Messias-Maschine spricht):


    "Seit Tausenden von Jahren versucht eure Art, sich selbst zu verbessern", fügte sie hinzu, "und ihr seid noch immer so böse wie eh und je. Aber wir sind anders. Die Wissenschaftler in der Stadt haben uns hergestellt, damit wir ihnen als Sklaven dienen, und deshalb haben wir kein Ich, nur eine Seele. Wir sind selbstlos - nicht, weil wir uns wie die Heiligen bemühen, es zu sein, sondern von Natur aus.


    Das ist wirklich eine interessante Definition für einen Roboter.

  • So, ich bin auch vorhin fertig geworden. Insgesamt gab es wenig überraschendes, viele Entwicklungen waren mir zu schnell und trotz der gewählten Perspektive kommt mir der Ich-Erzähler nicht wirklich nahe.
    Besonders seltsam fand ich, dass tief religiöse Menschen auf einmal eine Maschine anbeten. Klar, diese, ehemals Lucy, ist anders, aber abgesehen davon? Auch die anderen Entwicklungen in Georgs ehemaliger Heimat sind mir zu schnell und zu unlogisch. Will uns der Autor damit sagen, dass die Menschen einfach nicht ohne Religion sein können und über kurz oder lang sich diese wieder erhebt?


    Ich glaube nicht so recht, dass ich ein weiteres Buch des Autors lesen möchte. Auch wenn er sehr interessante Ideen hat, aber die Umsetzung hat mich hier einfach nicht überzeugt.