Julia Schramm ist mit dem Internet aufgewachsen, von seinen Vorformen bis zum Web 2.0, sie gehört damit zur ersten Generation derer, für die das Internet zu Leben gehört. In ihrem ersten Buch möchte sie ihre Erfahrungen damit beschrieben und ihre darauf basierenden Vorstellungen zum Einsatz des Internets für das, was sie sich als eine bessere Welt vorstellt. Sie bezeichnet sich selbst als digital native, nicht allein das Internet, sondern gleich ‚die Wolke’ ist ihre eigentlich Heimat, behauptet sie.
Ein Erfahrungsbericht aus erster Hand, also, und damit attraktiv genug, möchte man meinen, ihn zu lesen.
Um es gleich zu sagen, bei diesem Buch blendet eine nicht nur das strahlende Gelb des Covers. Auch der Inhalt ist Blendwerk. Trotzdem offenbart er Überraschendes. Obwohl Schramm gern von ‚der Wolke’ spricht, in der sie sich heimisch fühlt, konzentriert sich ihr Bericht auf ihr Leben in sozialen Netzwerken. Chats, Twitter, Blogs, Facebook, Email, das ist ihr Biotop. Man liest von der Dreizehnjährigen, die sich im Chat auf den Austausch sexueller Anspielungen einläßt, von der Schülerin, die ihr Pensum nicht mehr lernt, sondern im Internet abkupfert, ihrerseits eine Menge ideologischer Versatzstücke zur Rettung der Welt und Schaffung einer besseren Menschheit (oder umgekehrt) abläßt, ihren Weltschmerz hinausschreit oder mit Freundinnen und Freunden herumalbert. Sie tut es unter unterschiedlichen Namen, probiert Rollen aus, nimmt Posen ein. Das ist nicht ganz uninteressant zu verfolgen, aber man fragt sich nach einigen Seiten, was daran neu sein soll. Teenager längst vergangener Zeiten schrieben glühende und nicht selten sexuell eindeutige Briefe an angeschwärmte Stars (beiderlei Geschlechts) oder hatten das Pech, an Erwachsene zu geraten, die sie bedrängten. Das Betrügen bei Hausaufgaben und Prüfungen ist wahrscheinlich so alt, wie die Schule, kaum jünger ist die Erkenntnis, daß es sich dabei um Selbstbetrug handelt. Abgeschrieben ist eben nicht gelernt. Die Tagebücher voller Weltschmerz füllten zusammen mit schlechten Gedichten der gleichen Gemütslage zahllose Bibliotheken, glücklicherweise werden sie in der Regel nicht gesammelt. Hin und wieder dienen einzelne Belegstücke vor allem nachfolgenden Generationen zur Erheiterung. Kinder und Teenager haben sich schon immer vor dem Spiegel verkleidet, nicht nur am Karneval, Posen gehören dazu, in extenso, wenn es sein muß, das dünner gewordene Nervenkostüm der Eltern pubertierender Kinder hat schon seine Gründe.
Nimmt man nun an, daß das Neue darin besteht, daß sich das Ganze eben nicht mehr im Leben, sondern nur noch virtuell abspielt, so sieht man sich bald getäuscht. Diejenigen, die Schramm als Gegenüber in ihren virtuellen Gesprächen im Buch anführt, sind bis auf einen, eben diejenigen Freundinnen, Freunde und Bekannte. die sie in ihrem Alltag auch trifft. Mit denen sie unterwegs ist, Kaffee trinkt, Parties feiert. Mit denen sie in Dauer-Kommunikation steht, sich auseinandersetzt, streitet, Weltrettungsideen ausspinnt, verwirft und neu erdenkt. Im RL wird sogar auf Papier geschrieben.
Das Fazit aus diesen Beschreibungen ist für die Leserin bereits nach wenigen Kapiteln, daß man das Internet gar nicht braucht. Diesen Eindruck zu erwecken ist eine erstklassige Leistung für eine Autorin, die behauptet, eine digital native zu sein.
Wie um dieses Vakuum auszufüllen, beschwört Schramm zugleich eine virtuelle Gegenwelt. In ihr sind alle Menschen - Schramm spricht gern umfassend - gleich, sobald sie bereit sind, sich völlig auf das Internet einzulassen, sich preiszugeben, nichts zurückzuhalten. ‚Wenn jede und jeder von jeder und jedem alles wissen, dann ist keiner mehr erpreßbar’, so etwa lautet die Argumentation. Wir stehen nackt da, wie am Schöpfungstag, und sehen uns im Paradies der umfassenden Wissens und der Kommunikation. Natürlich müssen alle mitmachen, keine/r darf mehr kontrollieren. Wir werden schwerelos. Das ist Freiheit.
Dummerweise ist diese Freiheit verordnet. Wie steht es mit der alten Behauptung, daß Freiheit heißt, die Wahl zu haben? In diesem Fall geht nicht einmal um die Wahl, welche Informationen man über sich öffentlich machen möchte, sondern schon im Vorfeld um die Entscheidung, in welchen Lebensbereichen man überhaupt auf das Internet zurückgreifen möchte. Schramm ist glücklich, wenn sie stundenlang Worte in die Tastatur hämmert. Sie fragt nicht, ob andere, um der Freiheit à la Schramm Willen, ihr anderes Glück nicht unbedingt aufgeben möchten. Damit wird die digital native im Handumdrehen zum digital dictator.
Eingebettet sind ihre Erfahrungen und Visionen in eine Diskussion der Autorin mit sich selbst. Für und Wider, eine Position auf die andere getürmt, Ängste, Zweifel, all die Widersprüche, die das Leben mit sich bringt. Sie lähmen sie und hindern sie am Handeln. Am selbständigen Denken auch. Schramm posiert gern als Denkerin, ihre Ausbeute sind alberne Wortschöpfungen. Da sie kein einziges Arbeitsgebiet jener Philosophen und Theoretiker - es sind immer Männer - , die sie ergriffen zitiert, selbst erarbeitet hat, bleibt der Rest es eine Zitatensammlung reinster Beliebigkeit. Schramm geht Denkwege, die längst mehrspurig ausgebaute und gepflasterte Boulevards sind, mit sorgsam gepflegten Blumenrabatten rechts und links. Sie wäre gern originell, aber das ist nicht angeboren, das muß man sich erarbeiten. Eben daran hapert’s. Das kommt davon, wenn man das Internet als Steinbruch für Informationsbrocken aller Art benutzt. Wenn es ums Argumentieren, um Schlüssiges, Logisches, formal oder komplex, um schiere Stringenz geht, finden wir im Buch nur Datensalat. Und dann wird der Monitor schwarz. In dem, was sie als eigene Ideen präsentiert, zeigt sich die digital native als digital naive.
Das Ende dieses kurzen Buchs soll dramatisch sein, tragisch sogar. Aber als aufmerksame Leserin kann man der Autorin mittlerweile gar nichts mehr glauben. Zu oft hat sie die Rolle gewechselt, zuviel posiert. Gegen Kontrolle getobt und selbst kontrolliert, Freiheit verlangt, die anderen ihren Lebensstil aufzwingt, ihre Lebensform zu einem Mythos hochstilisiert, der die rosige Zukunft der Welt sein soll. Einer Welt, die Schramm tatsächlich nicht interessiert. Julia Schramm interessiert sich vornehmlich für Julia Schramm.
So kam auch, um in ihren eigenen Worten zu sprechen, dieses Totholzbuch bei der Content Mafia heraus.
Schramm fordert ein Recht darauf, Fehler zu machen. Die Forderung stammt nicht von ihr, deswegen ist sie im Kern auch richtig. Nach der Lektüre des Buchs jedoch kann man bei diesem Appell nur eine Gegenforderung in den Raum stellen, die nämlich, einmal etwas richtig zu machen.