Anja Kümmel, 1978 in Karlsruhe geboren, erhielt 2010 den GEDOK-Literaturförderpreis. Dies ist eine literarische Auszeichnung, die alle drei Jahre an eine Autorin für einen herausragenden Text vergeben wird, der den Blick auf die Frau in der Gesellschaft und aufs soziale Geschlecht lenkt. Ich selbst durfte die Laudatio auf diese wunderbare, talentierte Schriftstellerin halten und hoffe seitdem, dass endlich ein großer Publikumsverlag aufmerksam wird und dem Schattendasein dieser Autorin ein verdientes Ende bereitet. Im Mai 2012 erschien nun "Träume digitaler Schläfer", eine außergewöhnlichen Dystopie, der ich viel mehr Aufmerksamkeit und LeserInnen wünsche.
Klappentext:
Sieben Jahre nach Ende des dritten Weltkriegs. Wirtschaftskonzerne regieren den ehemaligen Nordblock. Geschlechterunterschiede gibt es nicht mehr. Zumindest an der Oberfläche. Ashur und Elf leben im Untergrund. In virtuellen Räumen, in U-Bahn-Schächten, in der Kanalisation. Obwohl sie einander nicht kennen, haben sie etwas gemeinsam: Sie träumen. Von vergangenen Zeiten, von sich, von einander, in veränderter Gestalt. Ashur wird Adina wird Ana Luz. Elf wird Emrys wird Eva. Und nichts ist mehr, wie es schien.
Meine Meinung:
Als ich „Träume digitaler Schläfer“ gelesen habe, hat es mir buchstäblich den Atem verschlagen. Was für ein sprachgewaltiges, denkerweiterndes, herrliches Buch! Warum wird es nicht im großen Feuilleton besprochen? Wieso wird die Autorin nicht als neue Stimme in der deutschen Gegenwartsliteratur gefeiert?
Nun – offenbar ist der Verlag thealit zu klein. Zu unbekannt, obwohl er sehr engagiert und rührig ist. Er rutscht leider trotzdem durch die Wahrnehmung der Presse. Was ich in diesem Falle hier unerhört bedauere. Hier bleiben ein brillantes Buch und ein echtes Talent unentdeckt! Umso mehr ist jetzt die Stimme der LeserInnen gefragt, die dieses Buch entdeckt haben und die es genauso atemberaubend finden wie ich. Redet darüber! Postet eure Meinung!
Der Markt ist gerade bis zum Bersten mit Dystopien gefüllt. Und meist heftet sich da eine Wiederholung an die nächste. Es wird imitiert, was das Zeug hält. Wie berauschend anders, wie unverschämt, wie herausragend dieser Roman dagegen ist!
Anja Kümmel entwirft mit sicherer Hand eine Dystopie, die ihresgleichen erst einmal sucht. Ich möchte zum Inhalt eigentlich nichts mehr sagen – das tut der Klappentext. Vielleicht nur dies noch: Diese Zukunftsvision zeigt eine Welt ohne Geschlechter. Das Geschlecht wurde ausgemerzt. Diese Ausmerzung zieht bis in die Sprache hinein, wo Personen nur noch sächlich beschrieben werden.
Das Buch ist nicht nur inhaltlich, sondern auch formal ein Kleinod. Hier wird ein Buch-im-Buch-im-Buch entworfen. Mit großer Raffinesse werden die Plots entrollt, schieben sich gegenseitig an, überlappen, fasern aus, blinken an anderen Stellen wieder auf, und verlöschen, verweisen auf etwas Vergangenes oder Zukünftiges, und überall und unentwegt klingen andere Bücher, andere AutorInnen, andere Gedankenwelten mit. Echoräume tun sich auf, schwebende Geschichten, die nicht erzählt, sondern im Leser ausgelöst werden. Eine postmoderne Wundertüte.
Es ist schwer, über einen Roman zu erzählen, der so stark von und mit und durch seine außergewöhnliche Form lebt. Vielleicht so: Wer dieses Buch betritt, betritt ein lebendiges Schloss voller Korridore, Treppenaufgänge, Geheimtüren, Verliese und Zinnen – und hier wie da tun sich plötzlich Tapetentüren auf, und man landet in einem verborgenen Seitenflügel des Schlosses, im Wandschrank oder … in der Luft. Zwischen zwei Zuständen.
An vielen, vielen, vielen Stellen gelingen der Autorin unfassbar atmosphärische Stimmungen, entwirft sie atmende, düstere Räume und poetisiert Technik mit einer beneidenswerten Leichthändigkeit und Sprachkraft. Selbst die „Kopfigkeit“ mancher Passage, die manchmal die Lebendigkeit der Handlung übertönt, hält Spannung bereit: Sie belohnt einen mit ungewöhnlichen, ja beglückenden Denkimpulsen.
Wer Bücher er-leben will, wer die Nase voll davon hat, immer alles bereits vorgekaut und ausgelutscht präsentiert zu bekommen, wer erfahren möchte, wie ein Buch einen selbst ständig verwandelt und in Räume und Gedanken mitnimmt, die man noch nie gesehen und gehabt hat, wer nichts dagegen hat, als veränderter Mensch aus der Lektüre hervorzugehen - der sollte dieses Buch auf keinen Fall verpassen.
Fazit:
Lesen, darin versinken, den Atem komplett verlieren, ihn am Ende wiederfinden und dann dieses Buch laut weiterempfehlen. Diese Autorin hat es verdient!
.
.
.