'Der Stille Don' - 3. Buch, 1. Teil - Kapitel 01 - 17

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  • Ups, muss ich den Anfang machen zu diesem Abschnitt? Nun denn:


    Interessant, über die Geschichte der Kosaken zu lesen: „...waren sie die zuverlässigste Stütze aller Rebellen“ (gleich am Anfang dieses Abschnitts, bei mir dritter Absatz). Das hätte ich in dieser Deutlichkeit nicht so erwartet. Dass ihnen eine ganz eigene Grausamkeit nachgesagt wurde, habe ich allerdings schon mitbekommen, wobei natürlich immer zu fragen wäre, ob sie sich wirklich so sehr von anderen Völker(gruppen) unterschieden.
    Jedenfalls (und das hat mich nun endlich mal schmunzeln lassen): Der „Wahlkampf“ auf kosakisch (Wahl von Krasnow, in meiner Ausgabe Seite 17ff.) ist keinesfalls so anders wie anderenorts. Was macht man nicht alles für Versprechungen. Und wer hat nicht alles Schuld. Und jeder will es glauben.
    Der Brief von Krasnow an Kaiser Wilhelm – was für ein Freibrief für die gewieften Taktiker, die daraus ihren Vorteil zu ziehen wussten.


    Grigori – ich werd und werde nicht warm mit ihm. „Du hast dich selber bis heute noch nicht gefunden“, wirft ihm sein Bruder vor (in II, Seite 26). Vielleicht ist es das, dass er sich in gewisser Weise seiner selbst nicht sicher ist. Vielleicht wird er sich überhaupt nicht finden, da bin ich sehr gespannt auf seine weitere Entwicklung. Eines steht für mich jedenfalls sehr fest: Als Held taugt er für mich nicht, auch wenn er Orden bekommen hat, auch wenn er so tapfer draufhaut, wo er nur draufhauen kann.


    Auch mit den anderen Figuren werde ich immer noch nicht recht warm. Sie transportieren für mich „nur“ die Geschichte, die Scholochow erzählen will, sie sind „nur“ Teil des großen Ganzen. Ob die, die sterben, nun Buntschuk heißen oder Valet oder wie auch immer, ob die, die Kinder gebären, Natalja gerufen werden oder wie auch immer, die Figuren sind zwar Individuen, aber letztlich … Staffage. (Pardon für die Härte!)


    Michail Koschewoi muss Pferdehüter werden. Eigentlich sollte er doch zufrieden sein, aber es wird seinen Stolz kränken. Aber allemal interessant, wie wenig Widerworte zu lesen sind, Befehl ist anscheinend doch Befehl und den gilt es zu befolgen.


    Listnizki gibt es also auch noch. Und er wird von einem Freund mit dessen zukünftiger Witwe verkuppelt. Nun ja... Gut, dass die Arme wenigstens noch „ja“ sagen darf. Ob sie wohl die Möglichkeit gehabt hätte, allein zu leben?


    Und Aksinja. Dem Mädchen wird übel mitgespielt. Hat sie sich wohl vorgestellt, wenn sie Listnizki zum „liebhaben“ überredet, würde sie vielleicht bleiben können? Für mich schwer vorstellbar, wie solch ein Leben dort noch gelingen könnte.


    Und schau an, Stepan gibt es wirklich noch. Das Leben hat „ihn hat mitgenommen, gründlich durchgerüttelt, verändert und umgemodelt“. Man darf gespannt sein, wie tiefgreifend die Veränderungen sind oder ob das Leben bei den Kosaken nicht altes Verhalten wieder herauskitzelt. Aksinja geht zu ihm zurück.


    Die Szene, in der Rotarmisten die Familie Melechow „besucht“, hat es in sich. Da habe ich mit angehaltenem Atem gelesen und eigentlich immer erwartet, dass jemand er- oder angeschossen oder mitgenommen wird. „Nur“ der Hund musste dran glauben. „Dem einfach Mann, so einem Rotzkerl, treten die ihre Weiber nicht ab...“ - das ist heftig. Alles gehört allen, auch die Frauen, wenn die Kommunisten erst mal gesiegt haben, oder wie darf man das verstehen? Und da hab ich mir doch tatsächlich eingebildet, diese „Gleichheit“ solle auch für sie gelten, die Frauen nämlich.


    Die Beschreibungen der Natur, was wächst und blüht, auch des Himmels, finde ich einfach nur großartig. Der Mann hat ein unglaubliches Auge für Details, wo manch anderer einfach nur „Steppe“ sagen würde, erzählt er mal eben so über die unterschiedlichen Pflanzen, ihr Wuchsverhalten, ihre Beschaffenheit. Und seine Schilderung der Wolken! Allein deshalb schon liebe ich viele Seiten.


    Aber auch die Kämpfe beschreibt er sehr detailliert. Das hätte er für mich ruhig etwas straffen dürfen. Den Satz „von euch erwarte ich nichts Gutes, dafür seid ihr ja Kosaken“ (vorletzter Absatz in VIII) in dem Roman unterzubringen, hat schon was. Vielleicht meinte Scholochow ja dieses gar nicht so besonders gute Bild, das er von den Kosaken zeichnete, als er dem Ataman bestellen ließ, „es täte ihm leid“ - sh. Wikipedia.


    Aber er kritisiert ja nicht nur die Kosaken, sondern auch die Offiziere – z. B. in meiner Ausgabe Seite 48 (in IV), wenn er von der „sogenannten denkenden Intelligenz im Militärrock“ parliert. Mir fällt dazu nur immer wieder ein, was unter den Nationalsozialisten (unter anderem in Polen, aber bei weitem nicht nur dort) und unter Stalin mit der Intelligenz gerne veranstaltet wurde.
    Und wenn ich schon mal dabei bin: Auch in diesem Abschnitt gibt es wieder die Erwähnung von „den Juden“, an die dieses und jenes „verkauft werden sollte“. Bedrückend, wie international solches Denken doch war. Und noch unendlich viel bedrückender, dass die Leute solches auch noch geglaubt und sich zu eigen gemacht haben. Interessant finde ich allerdings, dass Scholochow es immer mal wieder erwähnt.

  • Ich bin noch nicht ganz durch, aber hier schon mal ein paar Bemerkungen:


    Zitat

    Original von Lipperin
    ...
    Grigori – ich werd und werde nicht warm mit ihm. „Du hast dich selber bis heute noch nicht gefunden“, wirft ihm sein Bruder vor (in II, Seite 26). Vielleicht ist es das, dass er sich in gewisser Weise seiner selbst nicht sicher ist. Vielleicht wird er sich überhaupt nicht finden, da bin ich sehr gespannt auf seine weitere Entwicklung. Eines steht für mich jedenfalls sehr fest: Als Held taugt er für mich nicht, auch wenn er Orden bekommen hat, auch wenn er so tapfer draufhaut, wo er nur draufhauen kann.


    Grigori sagt in diesem Abschnitt von sich selbst, dass er er zu den Bolschewiki gegangen ist, weil er Orientierung suchte, meinte aber, dass er sie irgendwie nicht gefunden hätte. Er ist immer noch der Hin- und Hergetriebene. Ich denke ja, dass er sich irgendwann nochmal auf die Seite der Roten schlagen wird.


    Zitat

    Auch mit den anderen Figuren werde ich immer noch nicht recht warm. Sie transportieren für mich „nur“ die Geschichte, die Scholochow erzählen will, sie sind „nur“ Teil des großen Ganzen. Ob die, die sterben, nun Buntschuk heißen oder Valet oder wie auch immer, ob die, die Kinder gebären, Natalja gerufen werden oder wie auch immer, die Figuren sind zwar Individuen, aber letztlich … Staffage. (Pardon für die Härte!)


    Besser hätte ich es nicht ausdrücken können.
    Bei manchen Figuren ist das Bedauern bei mir relativ gering, von anderen hätte ich gerne mehr gehört, Anna z.B..


    Zitat

    Michail Koschewoi muss Pferdehüter werden. Eigentlich sollte er doch zufrieden sein, aber es wird seinen Stolz kränken. Aber allemal interessant, wie wenig Widerworte zu lesen sind, Befehl ist anscheinend doch Befehl und den gilt es zu befolgen.


    Interessant an dieser Episode fand ich Koschewois Angst vor der Denunziation. Mir war nicht bewusst, dass diese Angst, die in der späteren Sowjetunion Gang und Gebe war, in anderen soz. Ländern auch. Aber hier ist es genau anders herum. Koschewoi hat Angst, dass seine Vergangenheit bei den Roten Garden herauskommt.


    Zitat

    Listnizki gibt es also auch noch. Und er wird von einem Freund mit dessen zukünftiger Witwe verkuppelt. Nun ja... Gut, dass die Arme wenigstens noch „ja“ sagen darf. Ob sie wohl die Möglichkeit gehabt hätte, allein zu leben?
    Und Aksinja. Dem Mädchen wird übel mitgespielt. Hat sie sich wohl vorgestellt, wenn sie Listnizki zum „liebhaben“ überredet, würde sie vielleicht bleiben können? Für mich schwer vorstellbar, wie solch ein Leben dort noch gelingen könnte.


    Ich will nicht herzlos erscheinen, aber so sehr Leid tun kann mir Aksinja nicht. Selbst betrogen hat sie auch schon. Dumm ist sie nicht. Es muss ihr klar gewesen sein, dass der Gutsherr irgendwann mit einer Ehefrau ankommen würde. Hat sie wirklich erwartet, dass Listnizki das Verhältnis mit ihr weiter führen würde? Nun, scheinbar wird er ja doch schwach, und sie hatte Recht (da bin ich gerade).

  • Zitat

    Original von Clare


    Ich will nicht herzlos erscheinen, aber so sehr Leid tun kann mir Aksinja nicht. Selbst betrogen hat sie auch schon. Dumm ist sie nicht. Es muss ihr klar gewesen sein, dass der Gutsherr irgendwann mit einer Ehefrau ankommen würde. Hat sie wirklich erwartet, dass Listnizki das Verhältnis mit ihr weiter führen würde? Nun, scheinbar wird er ja doch schwach, und sie hatte Recht (da bin ich gerade).



    Mein "Problem" mit dem Buch ist, dass mir die Leute samt und sonders so leid tun, wie wenn ich über jemanden, den ein Unglück getroffen hat, in der Zeitung lese. Da denke ich dann "die Arme". Aber Du hast Recht; Aksinja ist keine Frau, mit der ich befreundet sein möchte, um es mal so auszudrücken.


  • Meine Meinung zu den handelnden Figuren:
    Über allem, sozusagen als Motto des Romans steht Scholochows Wille die Haltung der Kosaken in der konkreten historischen Situation zu erklären. Dazu dient ihm sein Personal lediglich als Fallbeispiel für die entsprechende Strömung, Anhänger der Roten oder Weißen oder auch die Wankelmütigen. Damit gibt er den politschen Strömungen ein Gesicht und dem Leser die Möglichkeit sich zu orientieren. Ich glaube nicht, dass es ihm darum geht jemanden als Helden darzustellen. Er möchte in meinen Augen gelebte/erlebte Geschichte transportieren und die dazu notwendigen Figuren sind nur ein Mittels zum Zweck, Staffage, wie sie Lipperin treffend bezeichnete.


    Zitat

    Original von Clare
    Interessant an dieser Episode fand ich Koschewois Angst vor der Denunziation. Mir war nicht bewusst, dass diese Angst, die in der späteren Sowjetunion Gang und Gebe war, in anderen soz. Ländern auch. Aber hier ist es genau anders herum. Koschewoi hat Angst, dass seine Vergangenheit bei den Roten Garden herauskommt.


    Ist das nicht, so glaube ich jedenfalls, normal? Auch heute gibt es in unserer Gesellschaft sicher sehr viele, die hoffen, dass Dinge aus ihrer Vergangenheit nicht ruchbar werden. Weil sonst die Karriere, das politische Amt oder auch nur das persönliche Ansehen beschädigt würden.

  • Zitat

    Original von Karthause
    ...
    Ist das nicht, so glaube ich jedenfalls, normal? Auch heute gibt es in unserer Gesellschaft sicher sehr viele, die hoffen, dass Dinge aus ihrer Vergangenheit nicht ruchbar werden. Weil sonst die Karriere, das politische Amt oder auch nur das persönliche Ansehen beschädigt würden.


    Nun, hier oder bei der Angst von Denunziation, die ich meine, geht es nicht um die Angst vor Entdeckung irgendeiner unliebsamen Begebenheit aus der Vergangenheit.
    Hier geht es darum, für mangelnde System- oder Linientreue denunziert zu werden, für Verrat, den man vielleicht gar nicht begangen hat, vom Nachbarn bespitzelt zu werden, der sich einen Vorteil verschaffen will oder sich anbiedern; darum dafür bestraft zu werden, dass man eine Meinung hat, die nicht die Meinung der herrschenden ist. Das gab es mit Sicherheit auch schon zu Zeiten vor den Kommunisten, aber gerade bei ihnen trieb es reiche Blüten.

  • Die Kämpfe sind im Gange, Bruderkrieg. Inzwischen (3. Kapitel) blicke ich gar nicht mehr durch, wer auf welcher Seite steht, welche gerade beschrieben wird, und wie überhaupt alles vor sich geht. Ich schätze, vielen Beteiligten ging es damals ähnlich.


    In der Mitte des 4. Kapitels (Seite 41) dann ein ungewohnter „Ausbruch“ des Schriftstellers, als er gegen die wettert, die sich weder den Roten noch den Weißen angeschlossen haben, die in den Jahren der Revolution Ehre und Gewissen verloren hatten.


    Bei der Gelegenheit: mir war nicht bewußt, daß Deutsche Truppen noch zu dieser Zeit so weit in Rußland standen. Auch was weiter in diesem Abschnitt über deutsche Truppen beschrieben wird, paßt so gar nicht zu einem Kriegsende ein paar Monate später. Ich werde mich doch mal näher mit dem 1. Weltkrieg beschäftigen müssen.


    Beim Schreiben an den Deutschen Kaiser (4. Kapitel, S. 42ff) habe ich mich unwillkürlich gefragt, wie der weitere Verlauf der Geschichte gewesen wäre, wenn das was ergeben hätte ...


    Und dann taucht ein Toter unter den Lebendigen auf! Stepan Astachow ist doch am Leben geblieben und zurückgekehrt! Damit habe ich nun überhaupt nicht gerechnet. Genausowenig wie damit, daß Axinja doch zu ihm zurückkehrt, nachdem sie ihn zuerst abgewiesen hatte. Aber ich fürchte, da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Ihre Gedanken zuvor lassen nichts Gutes erahnen.


    Als Pantelej Prokofjewitsch die Bauersfrau beraubt, habe ich doch erst mal gestutzt. Das hätte ich ihm nun doch nicht zugetraut. Man lernt eben nie aus.


    Seite 91, im 10. Kapitel, ein Hinweis darauf, was wir schon hatten; daß der 1. Weltkrieg ein gewaltiger Einschnitt war und eine völlig neue Art von Kriegführung darstellte bzw. etablierte:
    „Früher, zu Napoleons Zeiten, da kämpfte es sich gut! (...)


    Dann bricht die Front zusammen, immer mehr Kosaken kehren heim. Um dort von den Rotarmisten aufgespürt zu werden.


    Wenn man das so liest und davon ausgeht, daß das Prinzipielle damals wirklich etwa so abgelaufen ist, frage ich mich, wovon die Leute lebten, wenn die Felder dauernd durch Soldaten niedergewalzt wurden. Wenn sie dauernd Einquartierungen hatten, die Soldaten sich einfach nahmen, was sie brauchten, und man sich so gut wie nicht dagegen wehren konnte.



    Zitat

    Original von Lipperin
    „...waren sie die zuverlässigste Stütze aller Rebellen“ (gleich am Anfang dieses Abschnitts, bei mir dritter Absatz)


    Der Satz lautet bei mir: Sie waren von Stanka Rasin bis Sekatsch die zuverlässige Stütze aller Rebellen.



    Zitat

    Original von Lipperin
    Als Held taugt er für mich nicht, auch wenn er Orden bekommen hat, auch wenn er so tapfer draufhaut, wo er nur draufhauen kann.


    Ja, Grigori ist ein Fall für sich. Als „Held“ im Sinne davon, wie man einen Helden normalerweise so bezeichnet, würde ich ihn auch nicht titulieren. Aber „nicht mit ihm warm werden“ kann ich nun für mich durchaus nicht sagen. Er mag kein Held sein, aber für mich ist er die das Buch zusammenhaltende Figur geworden.



    Zitat

    Original von Lipperin
    Sie transportieren für mich „nur“ die Geschichte, die Scholochow erzählen will, sie sind „nur“ Teil des großen Ganzen. Ob die, die sterben, nun Buntschuk heißen oder Valet oder wie auch immer, ob die, die Kinder gebären, Natalja gerufen werden oder wie auch immer, die Figuren sind zwar Individuen, aber letztlich … Staffage.


    Mag sein. Das erinnert mich an die Diskussionen mit Birgit Fiolka zu ihrem Fantasyroman „Blutschwestern“ in der damaligen Leserunde, in der ich ähnliche Probleme hatte. Sie nannte das eine „Breitbildpanorama-Geschichte“, in der die Handlung, nicht die Figuren die Hauptrolle spielen. Ähnlich sehe ich es hier, nur daß es mich hier nicht stört. Seltsamerweise.



    Zitat

    Original von Lipperin
    Die Szene, in der Rotarmisten die Familie Melechow „besucht“, hat es in sich. Da habe ich mit angehaltenem Atem gelesen und eigentlich immer erwartet, dass jemand er- oder angeschossen oder mitgenommen wird.


    :write Ich auch. Ich hatte fest mit einem (blutigen) Zusammenstoß gerechnet.



    @ Lipperin
    Ich hatte mir schon gedacht, daß Du diese Stelle mit den Juden erwähnst, sie ist mir auch aufgefallen. Zum einen war das wohl die damalige Einstellung, zum anderen paßt das nach Rußland. Ich zitiere aus Jürgen Osterhammels „Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts“ von Seite 1.232: Man findet keine einfache Erklärung für den gleichzeitigen, aber keineswegs gleichmäßigen Aufstieg des Antisemitismus in Europa. Wer 1910 eine Voraussage hätte wagen wollen, wo in Europa dreißig Jahre später Massenverbrechen gegen Juden begangen würden, der hätte auf Russland, Rumänien oder gar Frankreich getippt, aber wohl erst an nachgeordneter Stelle auf Deutschland.


    "Pogrom" ist ebenfalls ein russisches (Fremd-)Wort.
    .

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Zitat

    Original von SiCollier
    @ Lipperin
    Ich hatte mir schon gedacht, daß Du diese Stelle mit den Juden erwähnst, sie ist mir auch aufgefallen. Zum einen war das wohl die damalige Einstellung, zum anderen paßt das nach Rußland. Ich zitiere aus Jürgen Osterhammels „Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts“ von Seite 1.232: Man findet keine einfache Erklärung für den gleichzeitigen, aber keineswegs gleichmäßigen Aufstieg des Antisemitismus in Europa. Wer 1910 eine Voraussage hätte wagen wollen, wo in Europa dreißig Jahre später Massenverbrechen gegen Juden begangen würden, der hätte auf Russland, Rumänien oder gar Frankreich getippt, aber wohl erst an nachgeordneter Stelle auf Deutschland.


    "Pogrom" ist ebenfalls ein russisches (Fremd-)Wort.
    .


    Ähnliches wie Herr Osterhammel haben auch andere Historiker (mit durchaus variierender Jahreszahl) gesagt, es war eben der ganz gemeine (in beider Bedeutung des Wortes) und der ganz alltägliche Antisemitismus, brutal trotzdem für die Betroffenen, aber doch noch einen gewaltigen Schritt von dem Massenvernichtungswahn der Nazis und seiner Ausführung durch sie entfernt.
    Mich bedrückt sehr, wie oft sich solche Erwähnungen in dem Buch finden lassen.

  • Zitat

    Original von Lipperin
    Ähnliches wie Herr Osterhammel haben auch andere Historiker (mit durchaus variierender Jahreszahl) gesagt, es war eben der ganz gemeine (in beider Bedeutung des Wortes) und der ganz alltägliche Antisemitismus, brutal trotzdem für die Betroffenen, (...)


    Das (die Brutalität für die Betroffenen) bestreite ich nicht, sondern sehe ich auch. Was ich meine ist, daß man das durch die Brille der Zeit, in der das Buch spielt, sehen muß/sollte. Oder anders: ich kann Figuren (Menschen) der Vergangenheit nur mit deren damaligen, nicht mit unseren heutigen messen bzw. beurteilen. Denn denen fehlen die Kenntnisse und Erfahrungen, die wir heute haben.


    Ich schreibe hier von Zeiten deutlich vor 1933. Für die Jahre ab 1933 wird es problematisch. (Mir hat vor Jahren mal jemand, der damals jung war, erzählt, daß man wohl vom KZ Dachau wußte - die wohnte dort - , aber auch als Nachbar keine Ahnung hatte, was hinter den Mauern vorging. Ähm, da wird es dann auch für mich schwierig, solches nachzuvollziehen bzw. zu glauben.) Was ich oben schrieb, läßt sich für diese Zeit nicht mehr so einfach sagen.


    Aber hat sich etwa irgendetwas geändert? Derzeit finden ethnische Säuberungen ziemlichen Ausmaßes statt, Christen werden aus ihren jahrhundertelangen Siedlungsräumen vertrieben, wenn man sie nicht gleich umbringt. Und was tut die "inrternationale Gemeinschaft"? Richtig - Nichts.


    Ich verstehe es zwar nicht, aber manche Dinge ziehen sich durch die Jahrhunderte hindurch wie ein Thema mit Variationen. Und niemand lernt aus der Geschichte.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Zitat

    Original von SiCollier


    Das (die Brutalität für die Betroffenen) bestreite ich nicht, sondern sehe ich auch. Was ich meine ist, daß man das durch die Brille der Zeit, in der das Buch spielt, sehen muß/sollte. Oder anders: ich kann Figuren (Menschen) der Vergangenheit nur mit deren damaligen, nicht mit unseren heutigen messen bzw. beurteilen. Denn denen fehlen die Kenntnisse und Erfahrungen, die wir heute haben.


    Dass sich die "Ausübenden" ihrer Brutalität durchaus bewusst waren, darf man wohl annehmen. Juden galten in vielen Regionen fast schon als "Freiwild", gleichwohl gab es immer wieder - auch einflussreiche - Leute, die sich schützend vor sie stellten (auch oder im Besonderen, weil sie mit ihnen Geschäfte machen wollten). Aber ohne irgendeinen Prügelknaben kommt die Menschheit wohl nicht aus.
    Darf man aber irgendetwas von dem damals Geschehenen damit entschuldigen, weil es so viele Teile der Bevölkerung damals für richtig erwachtet haben? Ich meine, erklären ja, aber entschuldigen?


    Zitat


    Ich schreibe hier von Zeiten deutlich vor 1933.


    Dessen bin ich mir bewusst. Mein Zusatz betreffend der Nazis galt ja nur als "Abgrenzung", sozusagen.


    Zitat

    Für die Jahre ab 1933 wird es problematisch. (Mir hat vor Jahren mal jemand, der damals jung war, erzählt, daß man wohl vom KZ Dachau wußte - die wohnte dort - , aber auch als Nachbar keine Ahnung hatte, was hinter den Mauern vorging. Ähm, da wird es dann auch für mich schwierig, solches nachzuvollziehen bzw. zu glauben.)


    Seltsamerweise wussten ziemlich viele Leute Bescheid, aber wenn man die Augen nur fest genug zumacht, kann man natürlich nicht sehr viel sehen, das ist schon richtig.


    Zitat

    Aber hat sich etwa irgendetwas geändert?


    Weit davon entfernt, Dir die Hofnung nehmen zu wollen: Es wird sich nichts mehr ändern. Warum? Weil Mensch eben so ist, wie er ist. Und deshalb werden auch all die hübschen Ideen scheitern.

  • Zitat

    Original von Lipperin
    1) Darf man aber irgendetwas von dem damals Geschehenen damit entschuldigen, weil es so viele Teile der Bevölkerung damals für richtig erwachtet haben? 2) Ich meine, erklären ja, aber entschuldigen?


    Zu 1) Nein
    Zu 2) So habe ich es gemeint: erklären.


    Das ist ganz allgemein eine sehr schwierige Thematik. Jesus sagte etwas in der Richtung wie „wenn dich einer auf die eine Backe schlägt, halte auch die andere hin“. Wie läßt sich das beispielsweise mit der Inquisition vereinbaren? Wir heutigen sagen, das (Inquisition) war ein falsches Verständnis. Aber die damaligen sahen das ganz anders.


    In der Richtung (gewandelte Meinungen und Einstellungen) gäbe es vieles, was wir heute ganz anders sehen und beurteilen als vor Jahren, Jahrzehnten oder Jahrhunderten. Nur wenn ich einen Roman lese, der um 1918 in Rußland spielt, dann müssen die Protas auch so denken und handeln, wie das damals war, müssen die Welt durch ihre eigene damalige Brille sehen und nicht durch unsere heutige mit dem Wissen und den Einstellungen, welche wir heute haben.


    Ist das in etwa verständlich?



    Zitat

    Original von Lipperin
    Weit davon entfernt, Dir die Hofnung nehmen zu wollen: Es wird sich nichts mehr ändern. Warum? Weil Mensch eben so ist, wie er ist. Und deshalb werden auch all die hübschen Ideen scheitern.


    :write Ich fürchte, da hast Du nur zu recht.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Zitat

    Original von SiCollier
    ...
    Das ist ganz allgemein eine sehr schwierige Thematik. Jesus sagte etwas in der Richtung wie „wenn dich einer auf die eine Backe schlägt, halte auch die andere hin“. Wie läßt sich das beispielsweise mit der Inquisition vereinbaren? Wir heutigen sagen, das (Inquisition) war ein falsches Verständnis. Aber die damaligen sahen das ganz anders.


    In der Richtung (gewandelte Meinungen und Einstellungen) gäbe es vieles, was wir heute ganz anders sehen und beurteilen als vor Jahren, Jahrzehnten oder Jahrhunderten. Nur wenn ich einen Roman lese, der um 1918 in Rußland spielt, dann müssen die Protas auch so denken und handeln, wie das damals war, müssen die Welt durch ihre eigene damalige Brille sehen und nicht durch unsere heutige mit dem Wissen und den Einstellungen, welche wir heute haben.


    Ist das in etwa verständlich?


    Ich sehe das auch so. Die Handlungen und auch die inneren Konflikte der Figuren z.B. in unserem Roman muss man schon in die entsprechende Zeit einordnen und den damaligen Wissensstand und die Erfahrungswelt dieser Menschen einordnen.
    Das ist es, was ich damit meinte als ich schrieb, dass wir/ich dazu neigen, Handlungen vom Standpunkt unserer Erfahrungen aus zu bewerten. Ich muss nicht alles gut finden, was die Menschen damals richtig fanden, aber ich kann es versuchen zu verstehen.



    Zitat

    Original von Lipperin
    Weit davon entfernt, Dir die Hofnung nehmen zu wollen: Es wird sich nichts mehr ändern. Warum? Weil Mensch eben so ist, wie er ist. Und deshalb werden auch all die hübschen Ideen scheitern.


    Zitat

    Original von SiCollier
    :write Ich fürchte, da hast Du nur zu recht.


    Also ich möchte die Hoffnung nicht aufgeben. Das wäre für mich persönlich wäre das eine Art Bankrotterklärung. Manchmal sind es auch nur kleine positive Veränderungen, die auch etwas wert sind. Der Mensch ist so? Vielleicht...Aber es gibt und gab zu allen Zeiten Menschen, die nicht aufgeben für sich selbst dagegen anzukämpfen, mit wechselndem Erfolg, aber immerhin. Und das ist immer ein Anlass für Hoffnung, finde ich jedenfalls.

    - Freiheit, die den Himmel streift -

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  • Zitat

    Original von Clare


    Ich sehe das auch so. Die Handlungen und auch die inneren Konflikte der Figuren z.B. in unserem Roman muss man schon in die entsprechende Zeit einordnen und den damaligen Wissensstand und die Erfahrungswelt dieser Menschen einordnen.
    Das ist es, was ich damit meinte als ich schrieb, dass wir/ich dazu neigen, Handlungen vom Standpunkt unserer Erfahrungen aus zu bewerten.


    Dem stimme ich zu.


    SiCollier : Da scheine ich etwas ganz anders verstanden zu haben, wie Du es gemeint hast. Pardon! :knuddel1


    Zitat

    Ich muss nicht alles gut finden, was die Menschen damals richtig fanden, aber ich kann es versuchen zu verstehen.


    Genau so ist es.



    Zitat

    Original von Lipperin
    Weit davon entfernt, Dir die Hofnung nehmen zu wollen: Es wird sich nichts mehr ändern. Warum? Weil Mensch eben so ist, wie er ist. Und deshalb werden auch all die hübschen Ideen scheitern.


    Zitat

    Original von SiCollier
    :write Ich fürchte, da hast Du nur zu recht.


    Also ich möchte die Hoffnung nicht aufgeben. Das wäre für mich persönlich wäre das eine Art Bankrotterklärung. Manchmal sind es auch nur kleine positive Veränderungen, die auch etwas wert sind. Der Mensch ist so? Vielleicht...Aber es gibt und gab zu allen Zeiten Menschen, die nicht aufgeben für sich selbst dagegen anzukämpfen, mit wechselndem Erfolg, aber immerhin. Und das ist immer ein Anlass für Hoffnung, finde ich jedenfalls.


    Wenn man die Hoffnung aufgibt, braucht man ja gar nicht mehr morgens aufzustehen... Ich kämpfe derzeit schwer gegen meine immer stärker werdende Resignation.
    Das sogenannte Gute im Menschen - ich habe das Gefühl, es wird immer weniger.
    Hoffnung: Ein Sonnenstrahl durch dunkle Wolken, eine Blüte zwischen Un... äh ... Beikräutern, ein Lächeln geschenkt irgendwo auf dem Weg, ja, natürlich gibt es immer wieder Anlass zu Hoffnung. Mein "globaler" Eindruck wird davon nur kaum noch berührt. Hoffnung habe ich sozusagen nur noch privat, als berufstätiges Mitglied der Gesellschaft ... sorry!




    Edit: Zitieren will gelernt sein. Ob es wohl noch Hoffnung für mich gibt?

  • @ Lipperin
    Kein Problem. Das ist ein schwieriges Thema und wie geschaffen für Mißverständnisse, weil man selbst ja weiß, was man ausdrücken will, und die vielleicht für das Verständnis des Gegenübers wesentliche Formulierung (wegen - aus eigener Sicht - Selbstverständlichkeit) wegläßt. :wave



    Zitat

    Original von Clare
    Das ist es, was ich damit meinte als ich schrieb, dass wir/ich dazu neigen, Handlungen vom Standpunkt unserer Erfahrungen aus zu bewerten. Ich muss nicht alles gut finden, was die Menschen damals richtig fanden, aber ich kann es versuchen zu verstehen.


    Ja genau, in die Richtung meine ich das. Wir können von Menschen von (hier) 1918 nicht mit Maßstäben von 2012 beurteilen. Wir können deren Meinung/Einstellung für falsch halten (von unserem heutigen Standpunkt aus gesehen, obwohl es da Dinge gibt, die mE auch damals schon hätten falsch sein sollen, aber das führt hier denn zu weit), müssen aber bedenken, daß die eben nicht wußten, was die nächsten Jahre/Jahrzehnte passiert und wie sich Einstellungen, Staatsform, Gesetze etc. pp. ändern.


    Das ist genau das, worauf ich immer hinaus will. Man stelle sich vor, jemand würde uns heutige im Jahre 2112 mit den dann gültigen Maßstäben, Erkenntnissen und vor allem Kenntnis, was in diesen kommenden hundert Jahren alles passiert ist, beurteilen - wäre ziemlich absurd und unmöglich, weil wir eben nicht wissen, was in den nächsten hundert Jahren passiert, und wie sich die Gesellschaft bis dann verändern wird.



    Hoffnung, tja, worauf soll man noch hoffen? Daß der Mensch aus der Geschichte lernt? Jeden Tag aufs Neue beweist ein Blick in die Tageszeitung, daß das nicht der Fall ist. Mir geht es da ähnlich Lipperin. Als Konsequenz ziehe ich mich mehr und mehr zurück und versuche, irgendwie bis zum Ende über die Runden zu kommen, ohne groß irgendwo anzuecken.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Stepan und Aksinja sind wieder zusammen. Stepan scheint Aksinja zu lieben. Er bereut, dass er sie schlecht behandelt hat und will es jetzt besser machen. Die Gründe, warum Aksinja zu ihm zurückkehrt, sind mir nicht klar geworden. Ich vermute, es sind Vernunftgründe, da sie sonst nicht wüsste wohin, da ihr Liebhaber geheiratet hat.


    Und Lisnitzki heiratet die Witwe seines Freundes. Große Gefühle scheinen da nicht vorhanden zu sein. Das klang eher so, naja, ist halt gerade praktisch und außerdem hat der Tote das so gewollt. Ob das gut geht? In Gedanken hängt er ja immer noch an Aksinja.


    Die Szene, in der Rotarmisten die Familie Melechow „besucht“, hat es in sich. Da habe ich mit angehaltenem Atem gelesen und eigentlich immer erwartet, dass jemand er- oder angeschossen oder mitgenommen wird.

    Ja, das war wieder eine ganz starke Stelle.

    (16. Kap. für diejenigen, die das nochmal nachlesen wollen.;) )


    Ich weiß überhaupt nicht mehr, in welchem Jahr wir uns befinden. Ist der 1. WK beendet? Man hört nichts mehr davon. Er spielt offensichtlich keine Rolle mehr. Die Situation ist völlig verworren. Ich weiß nicht, wo welche Fronten verlaufen in diesem Bürgerkrieg und wer auf welcher Seite ist.