'Der Stille Don' - 4. Buch - 2. Teil

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  • Zitat

    Original von SiCollier


    Wenn ich das richtig verstanden habe, bist Du noch zu Zeiten der DDR dort aufgewachsen. Damit hast Du einen ganz anderen Erfahrungshintergrund als etwa ich, der im Westen aufwuchs. Insofern fand/finde ich Deine Kommentare sehr interessant, weil Du das System, das damals begann, eben selbst erlebt hast.
    ...
    Übrigens Respekt, daß Du Deine Schullektüre fertig gelesen hast. Ich war, glaube ich, der einzige, der „Berlin Alexanderplatz“ abgebrochen hat; ich habe mich schlicht und einfach geweigert, das zu Ende zu lesen. Die Zwangsbeschäftigung damit hat mir das Interesse an moderner, zeitgenössischer Literatur so gründlich ausgetrieben, daß das immer noch wirkt und ich in diesem Genre nur extrem wenig lese. (Übrigens hatte ich diese Woche mein Zeugnis von damals in der Hand, in Deutsch hatte ich trotzdem eine „1“ :grin .)


    Du hast es richtig verstanden: Ich habe meine Kindheit und einen Teil der Jugend in der DDR gelebt. 1989 habe ich gerade mein Abi gemacht.
    Wie gesagt, der Roman ist sehr gut geschrieben, und ich ziehe meinen Hut vor der schriftstellerischen Leistung. Die Indirektheit der Aussage hat mich aber wirklich gestört. Scholchow war ein regimetreuer Schriftsteller. Seine Haltung war zu allen Zeiten, so habe ich es zumindest gelernt und auch neben dieser LR gelesen, untadelig. Einem Oppositionellen, der seine Haltung versteckt mitteilen muss, um überhaupt gedruckt zu werden an der Zensur vorbei, steht diese Unverbindlichkeit der politischen Aussage zu, und seine Leser hätten mit Spannung zwischen den Zeilen gelesen. Für mich persönlich sollten Scholochow und sein Roman einen Anschein, sicher auch weltweit, erwecken, der nicht der Realität entspricht, und das hat mich beim Lesen wirklich sehr irritiert.



    Zitat

    Bevor ich’s vergesse: ich fand/finde unsere kleine Runde und unseren Gedankenaustausch prima klasse. Auch und vor allem, daß wir auch bei verschiedenen Meinungen so gut (und zum Nachdenken anregend) diskutieren konnten/können. :wave
    .


    Das kann ich so nur :write
    Diese LR war anstrengend im positiven Sinne, und ich habe den Austausch mit euch sehr genossen!

  • Zitat

    Original von Lipperin


    Und vom Wissen über die historischen Fakten - Entschuldigung, aber ich glaube wirklich, dass man das Buch anders - vielleicht auch besser - "genießen" kann, wenn man das, was Scholochow schreibt, für Fakt und zwar alleinigen Fakt ansieht. Im Gegensatz vielleicht zu jemandem, der die eine oder andere Erinnerung an anderweitig Gelesenes hat.
    Damit möchte ich keinesfalls andeuten, dass die Wirkung des Buches auf euch/andere Leser eine falsche sei oder etwas in dieser Preislage, ich möchte auch keinesfalls andeuten, dass eure Meinung deshalb nicht wichtig oder was auch immer sei (im Gegenteil, mir ist sie sehr wichtig!) - es ist halt nur so, dass ich einiges anders sehe. Wie gesagt, in meiner Meinung zum Buch werde ich versuchen, mich zu erklären.
    Nochmals Pardon! :knuddel1


    Am Ende meines 4. Bandes gibt es eine Art Nachwort von Alfred Kurella von 1963(Schriftsteller, Übersetzer und Kulturfunktionär der SED in der DDR) mit der Überschrift:
    "Von Schönheit und Härte, Grausamkeit und Größe der Revolution"
    Habt ihr das auch?


    Dort geht Kurella zusammenfassend auf die Figur des Grigori Melechow ein, den "intellektuellen Kleinbürger, der, zwischen den Klassen hin und her gerissen, schließlich von den Mahlsteinen der Revolution zermalmt wird."(Zitat Kurella)
    Laut Kurella hat Scholochow seinen Roman mehrfach verändert, um sich den Weiterentwicklungen der sozialistischen Literatur in seiner Zeit anzupassen und stilistisch aktuell zu bleiben.
    Ob ich das glaube, weiß ich noch nicht.
    Außerdem bemerkt der Schreiber dieses Nachwortes, dass die Leser des Vorabdruckes des Vierten Bandes in diversen Zeitungen in zahlreichen Leserbriefen ein glückliches Ende für Grigori und Aksinja gefordert hätten, was Scholochow aber ablehnte, weil es nicht der Wahrheit entsprochen hätte.
    Und da gebe ich ihm Recht.

  • Zitat

    Original von Clare
    Scholchow war ein regimetreuer Schriftsteller. Seine Haltung war zu allen Zeiten, so habe ich es zumindest gelernt und auch neben dieser LR gelesen, untadelig.


    Ein erster diagonaler Blick in das weiter oben verlinkte Buch „Michail Scholochow - Werk und Wirkung“, das ja 1996 in der DDR erschienen ist, bestätigt das sehr offen.


    Ich gucke ja quasi von „außen“ auf das System, Du hast einen „Innenblick“. Insofern sind die Unterschiede interessant, wie der Roman auf uns verschieden wirkt, einen verschiedenen Eindruck macht bzw. unterschiedlich gelesen wird. Wenn ich dann noch an die Pressestimmen auf meinen Bänden (die ja alle westlich sind) denke, kann einem schon der Verdacht kommen, daß Scholochow (s)ein Ziel erreicht hat, nämlich die Roten als besser darzustellen.



    Zitat

    Original von Clare
    Am Ende meines 4. Bandes gibt es eine Art Nachwort von Alfred Kurella von 1963(Schriftsteller, Übersetzer und Kulturfunktionär der SED in der DDR) mit der Überschrift:
    "Von Schönheit und Härte, Grausamkeit und Größe der Revolution"
    Habt ihr das auch?


    Nein, ich habe eine reine Textausgabe



    Zitat

    Original von Clare
    Laut Kurella hat Scholochow seinen Roman mehrfach verändert, um sich den Weiterentwicklungen der sozialistischen Literatur in seiner Zeit anzupassen und stilistisch aktuell zu bleiben.


    Verändert ja, das hat auch das schon erwähnte Buch bestätigt. Aber weshalb, so weit habe ich noch nicht gelesen. Sollte ich dazu etwas finden, trage ich es - auch später - auf jeden Fall hier im Thread noch nach.



    Zitat

    Original von Clare
    Außerdem bemerkt der Schreiber dieses Nachwortes, dass die Leser des Vorabdruckes des Vierten Bandes in diversen Zeitungen in zahlreichen Leserbriefen ein glückliches Ende für Grigori und Aksinja gefordert hätten, was Scholochow aber ablehnte, weil es nicht der Wahrheit entsprochen hätte.
    Und da gebe ich ihm Recht.


    Ausnahmsweise muß ich zustimmen, daß ein Happy End für die beiden sehr unwahrscheinlich gewesen und hier in der Tat unpassend gewesen wäre. (Ausnahmsweise, weil ich eigentlich zur „harten Happy End Fraktion“ zähle.)




    Franz Stadelmaier: Die Sowjetunion 1917 bis 1991


    Das Buch habe ich mir aus der Stadtbücherei ausgeliehen und lese es gerade. Selten hatte ich ein so flüssig lesbares Geschichtssachbuch. Schon bei der Vorgeschichte zur Revolution im 19. Jahrhundert wird klar, daß da etwas passieren mußte.


    Die große Linie vom „Stillen Don“, was die historischen Ereignisse betrifft, habe ich hier bestätigt gefunden. Auch ein paar bekannte Namen sind aufgetaucht. Desgleichen was Scholochow an Grausamkeiten über die Kosaken schreibt, entspricht wohl den historischen Tatsachen. Allerdings haben dem (der Grausamkeit) die Roten in Nichts nachgestanden. Mehr dann in meiner Rezi zum Buch.
    .

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Zitat

    Original von SiCollier


    Ein erster diagonaler Blick in das weiter oben verlinkte Buch „Michail Scholochow - Werk und Wirkung“, das ja 1996 in der DDR erschienen ist, bestätigt das sehr offen.


    Ich gucke ja quasi von „außen“ auf das System, Du hast einen „Innenblick“. Insofern sind die Unterschiede interessant, wie der Roman auf uns verschieden wirkt, einen verschiedenen Eindruck macht bzw. unterschiedlich gelesen wird. Wenn ich dann noch an die Pressestimmen auf meinen Bänden (die ja alle westlich sind) denke, kann einem schon der Verdacht kommen, daß Scholochow (s)ein Ziel erreicht hat, nämlich die Roten als besser darzustellen.


    Ich hätte nicht gedacht, dass die Unterschiede, wie wir ein Buch lesen, immer noch so merkbar sind, nach so vielen Jahren und auch so vielen Büchern, die ich seitdem gelesen habe. Wahrscheinlich ist es wirklich so, dass gerade das Lesen solcher Romane stark von unserer Entwicklung geprägt ist, den Erfahrungen, die wir mit den Systemen gemacht haben.
    Ich fand es jedenfalls sehr interessant, euren Blickwinkel zu lesen. Spannend, so eine LR zu politisch stark gefärbten Büchern. Vielleicht war es ganz gut, dass wir eine kleine, überschaubare Gruppe waren.



    Zitat

    Original von SiCollier
    Ausnahmsweise muß ich zustimmen, daß ein Happy End für die beiden sehr unwahrscheinlich gewesen und hier in der Tat unpassend gewesen wäre. (Ausnahmsweise, weil ich eigentlich zur „harten Happy End Fraktion“ zähle.)


    Ich gehöre ja nicht zur Happy-End-Fraktion. Bei diesem Roman hätte mich ein glückliches Ende für Grischa und Ksjuscha wirklich gestört, weil es einfach nicht gepasst hätte.

  • Zitat

    Original von Clare
    Am Ende meines 4. Bandes gibt es eine Art Nachwort von Alfred Kurella von 1963(Schriftsteller, Übersetzer und Kulturfunktionär der SED in der DDR) mit der Überschrift:
    "Von Schönheit und Härte, Grausamkeit und Größe der Revolution"
    Habt ihr das auch?


    Leider nein.


    Zitat

    Laut Kurella hat Scholochow seinen Roman mehrfach verändert, um sich den Weiterentwicklungen der sozialistischen Literatur in seiner Zeit anzupassen und stilistisch aktuell zu bleiben.
    Ob ich das glaube, weiß ich noch nicht.


    Das glaube ich in gewisser Weise, allerdings keinesfalls, soweit es "stilistische" Dinge betroffen haben soll. Einen (in meinen Augen) wesentlichen Punkt haben wir ja schon festgestellt - die Erwähnung bzw. Streichung von Trotzki und Stalin, was wohl eindeutig der geänderten politischen Wetterlage geschuldet war. Wenn man sich so überlegt, wie nach Stalins Tod ein sanftes Tauwetter einsetzte, um dann wieder einer Froststarre Platz zu machen, wundern mit die "Weiterentwicklungen der sozialistischen Literatur" jetzt nicht wirklich.

  • Zitat

    Original von SiCollier


    Auch die habe ich bisher nur diagonal gelesen, aber den Eindruck gewonnen, daß sich Scholochow im Vergleich zur Historie mit antijüdischen Stellen sehr zurückgehalten hat. Das war ja grauenhaft, was damals an Pogromen passiert ist! :yikes


    Nicht nur an Juden geschahen diese grauenhaften Pogrome (ohne dass ich jetzt in die Links hineingeschaut hätte, erwähne ich es einfach mal der Vollständigkeit halber).


    Edit: Vielleicht sollte ich hinzufügen, dass auch die Muslime Opfer dieser Ausschreitungen waren, sonst gibt der obige Satz nicht so sonderlich viel Sinn.

  • Zitat

    Original von Lipperin
    ...


    Das glaube ich in gewisser Weise, allerdings keinesfalls, soweit es "stilistische" Dinge betroffen haben soll. Einen (in meinen Augen) wesentlichen Punkt haben wir ja schon festgestellt - die Erwähnung bzw. Streichung von Trotzki und Stalin, was wohl eindeutig der geänderten politischen Wetterlage geschuldet war. Wenn man sich so überlegt, wie nach Stalins Tod ein sanftes Tauwetter einsetzte, um dann wieder einer Froststarre Platz zu machen, wundern mit die "Weiterentwicklungen der sozialistischen Literatur" jetzt nicht wirklich.


    Ich wollte nicht ausschließen, dass es auch politische Anpassungen gab. Aber du hast Recht: Ich hatte die Streichungen, die uns aufgefallen sind, nicht mehr auf dem Schirm.


    Solche "Weiterentwicklungen" gab es viele und zu verschiedenen Zeiten. Wer sich nicht anpasste, der fand keinen Verlag für sein Buch, so jedenfalls war es in der DDR, soviel ich weiß. In der Sowjetunion war die Zensur wohl noch einen Zacken schärfer, soviel ich weiß. Alles, was nicht systemkonform war, wurde ausgefiltert, auch Andeutungen von Mangel oder Unzufriedenheit der Bevölkerung durften nicht publiziert werden.

  • Zitat

    Original von Clare
    Ich hätte nicht gedacht, dass die Unterschiede, wie wir ein Buch lesen, immer noch so merkbar sind, nach so vielen Jahren und auch so vielen Büchern, die ich seitdem gelesen habe.


    Ich bin schon seit langem der Überzeugung, daß die deutsche Einheit erst vollendet ist, wenn die Generation, die die beiden Staaten bewußt erlebt hat, die Weltbühne verlassen hat. Lies gestorben ist.



    Zitat

    Original von Clare
    Ich fand es jedenfalls sehr interessant, euren Blickwinkel zu lesen. Spannend, so eine LR zu politisch stark gefärbten Büchern. Vielleicht war es ganz gut, dass wir eine kleine, überschaubare Gruppe waren.


    :write :write :write



    Zitat

    Original von Lipperin
    Vielleicht sollte ich hinzufügen, dass auch die Muslime Opfer dieser Ausschreitungen waren, sonst gibt der obige Satz nicht so sonderlich viel Sinn.


    Und bisweilen auch Christen, wie ich in dem ausgelesenen Buch zur Geschichte der UdSSR gefunden habe.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Zitat

    Original von SiCollier


    Ich bin schon seit langem der Überzeugung, daß die deutsche Einheit erst vollendet ist, wenn die Generation, die die beiden Staaten bewußt erlebt hat, die Weltbühne verlassen hat. Lies gestorben ist.
    ...


    :yikes Ich will noch nicht sterben...


    Ich finde gerade, dass uns die Unterschiedlichkeit unserer Erfahrungen bereichert, dass sie uns anregt, uns mit dem Anderen und damit auch mit uns selbst und unserer Lebensgeschichte, unserer Entwicklung zu beschäftigen. Das bereichert uns, bringt uns weiter und macht uns, so verschieden wir sind, zu einem Volk. So sehe ich das.
    Aber du meintest wohl etwas anderes? Deutsche Einheit? Ich weiß gar nicht, ob es das im eigentlichen Sinne ist, was man erstreben sollte. Verschieden und doch zusammen - warum nicht!

  • Zitat

    Original von Clare
    Aber du meintest wohl etwas anderes? Deutsche Einheit?


    Allerdings, ich meinte die politische, das Gefühl, "ein Staat" zu sein. Ich kann nur von mir schreiben, aber ich finde es noch immer ... seltsam, daß z. B. Polen ein Nachbarstaat ist. Zu sehr verbinde ich damit immer noch den "Warschauer Pakt" - auch wenn es den seit "Ewigkeiten" nicht mehr gibt.


    Gleichmacherei, wie Du sie angedeutet hast, meinte ich auf keinen Fall. Im Gegenteil, ich halte es für falsch, alles Unterschiedliche einander angleichen zu wollen. Sei es auf EU-Ebene oder aber innerhalb Deutschlands, indem die Unterschiede der Bundesländer nivelliert werden (bis hin zu Verwaltungseinheiten, die nicht mehr zu den gewachsenen Einheiten passen, wie es hier in Hessen passiert, Stichwort Schulverwaltung oder Justiz).


    Meine Tochter wurde 1996 geboren, da gab es nur ein Deutschland, die kennt nichts anderes. Ich schon, 1989 war ich 31, hatte ganz andere Sorgen und habe sicherlich noch im August/September gesagt, daß ich die deutsche Einheit nicht mehr erleben würde.


    Mir ist beim Lesen der Geschichte der UdSSR (wieder) klar geworden, wie schnell damals alles vonstatten ging. Ein Wunder, daß das ohne Krieg abging.


    Was ich meinte ist, daß Du andere Erfahrungen hast als ich, hier jetzt weil wir in verschiedenen Staatsformen aufgewachsen sind, und daher den "Stillen Don" jeder ganz anders gelesen und verstanden haben. Solche Unterschiede werden mE bleiben, bis eben nur noch Generationen leben, die nach 1989 geboren sind. Das ist nichts fatalistisches, sondern aus meiner Sicht einfach eine Feststellung bzw. meine Meinung, die keine Wertung beinhaltet, sondern nur etwas feststellt.


    In diesem Zusammenhang finde ich unsere vier Rezis (mit teilweise verschiedenen Sichtweisen) zum Buch hochinteressant und will die die nächsten Tage nochmals in Ruhe lesen; vielleicht komme ich darauf zurück.


    Ist das jetzt klarer? :wave

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Bis in die Nacht hinein habe ich mir gestern/heute die sowjetische Verfilmung von 1956/1957 angesehen, insgesamt ca. 330 Minuten. Mehr zum Film im >Filmthread<.


    Im Begleitheft zur DVD-Box schreibt der Filmpublizist Ralf Schenk über Grigori Melechow (bzw die Charakterisierung desselben durch Scholochow): „Melechow war das genaue Gegenteil jener von Stalin geforderten Heroen, die als Repräsentant und Symbol der ‘fortschrittlichen Massen’ gelten und den ‘geschichtlichen Optimismus’ verkörpern sollten. Stattdessen zeigte er sich als eingeschworener Individualist, der auf seinem eigenen Standpunkt beharrt, auch wenn er dadurch mit der Gesellschaft kollidiert.“


    Damit ist mir klar, weshalb mir der Roman so gefiel. Der zweite Satz trifft auch auf mich zu. Ich schätze, Buch wie Film werden mich noch geraume Zeit verfolgen bzw. beschäftigen. Inzwischen verstehe ich (oder beginne zu verstehen), weshalb Karthause das als ihr Lieblingsbuch bezeichnet hat. Ich „fürchte“, ich werde den Roman bald wieder lesen müssen.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Es mag ja ein wenig lächerlich erscheinen, aber „Der stille Don“ lässt mich immer noch nicht los. Um der Wirkung des Romans auf mich ein wenig auf die Spur zu kommen, suche und lese ich viel in Erinnerungsliteratur, in Lexika und Geschichtsliteratur. Interessant finde ich einerseits, wer Scholochow nicht einmal erwähnt, andererseits sollte es mich nicht überraschen, denn die Erinnerungsliteratur, Briefwechsel etc. sind von Dissidenten, Ausgebürgerten, Kritikern verfasst, Scholochow galt als Hardliner und linientreu.


    Reinhard Lauer kommt in seiner „Geschichte der russischen Literatur“ (erschienen bei C.H.Beck, München, 2. Auflage 2009) allerdings nicht an ihm vorbei; die Formulierungen sind derart gewählt, dass sich bei mir die Vermutung einschlich, der Autor schätze den Nobelpreisträger nicht so sonderlich, wobei dies vielleicht eher dem politisch agierenden Menschen Scholochow gilt. Lauer vermerkt aber – und für mich war dieser Passus sehr erhellend -, dass „Der stille Don“ der erste Roman der Literatur der Sowjetunion gewesen sei, der „dem Ruf nach einem „roten Tolstoj“ gerecht zu werden schien“ (Seite 705). Die Parallele, die Lauer zu „Doktor Schiwago“ zieht, leuchtet mir ein. Mit ihm darf man wohl bedauern, dass Scholochow sich an den „Vorkommnissen“ gegen Pasternak beteiligte.


    Zu den mehrfachen Überarbeitungen habe ich den Hinweis gefunden, dass die Vorgaben, was „sozialistischer Realismus“ sei und wie er literarisch ausgestaltet werden müsse, sich mehrfach änderten; Anpassungen dürften wohl auch die sich verändernden politischen Situationen (Tod Stalins, „Tauwetter“-Periode etc.) erfordert haben. Die Geschichte um den „sozialistischen Realismus“, den Schriftstellerverband und seine Vorgängerorganisation, die unterschiedlichen Richtungen, Versuche literarischer Arbeit, Verurteilung oder Belobigung derselben erscheint mir ein Kapitel für sich zu sein, nicht auf den ersten Blick durchschaubar. Interessant allerdings, einlesen möchte ich mich in diesen Bereich unbedingt.


    Ein weiteres interessantes Moment war für mich, dass Lauer die „ausgleichende Weisheit“ des Nobelpreiskomitees erwähnt (Seite 802), das Scholochow 1965 – nach Pasternak und vor Solschenizyn – diese hohe Auszeichnung zuerkannte. Parallelen zum Jahr 2012 drängen sich vielleicht nicht nur bei mir auf.

  • Jetzt dämmert es auch Grigori, was ich schon vorher sagte, dass es nicht so einfach ist, die Seiten zu wechseln. Es hat mich sehr gewundert, dass er so unrealistisch war. Im Grunde ist jetzt für ihn kein Platz mehr auf dieser Welt. Der Abstecher zu der Bande war auch nur ein Versuch in einer ausweglosen Lage.


    Als Axinja stirbt, denkt er, er wird ihr bald nachfolgen. Dabei wird nicht ganz klar, ob er nicht mehr leben will oder ob ihm jetzt erst klar geworden ist, dass die Situation ausweglos ist.


    Grigori hat Axinja kein Glück gebracht. Zweimal haut sie mit ihm ab und zweimal gerät sie deshalb in Lebensgefahr, das zweite Mal endet es tödlich. Hätte sie sich von ihm lossagen können, hätte sie überlebt. Man kann sagen: Wo die Liebe hinfällt. Aber war das noch Liebe oder Hörigkeit? Ich weiß es nicht.


    Dass zuletzt auch noch seine Tochter tot ist, finde ich zuviel. Das war doch nicht nötig.

  • Weiter oben ist noch diskutiert worden, 1. wie das Buch durch die Zensur kam und 2. ob in dem Buch rote Propaganda betrieben wurde.


    Zu Punkt 1 bin ich mir ziemlich sicher, dass das Buch wegen seines Umfangs nie von einem Zensor wirklich zu Ende gelesen wurde. :lache Er hat es einfach durchgewunken, um sich keine Blöße zu geben. :grin


    Zu Punkt 2 will ich sagen, dass ich keine Propaganda verspürt habe. Ich habe auch nicht selbst daran gedacht, dass das Buch unter politischen Umständen geschrieben wurde, in denen Zensur gang und gäbe war.

    Sowohl die Roten als auch die Weißen waren als Opfer und Täter beschrieben. Da ich mit dieser Erwartung an das Buch heran gegangen bin, war mir 100%-ige Ausgewogenheit nicht wichtig.