Zum Buch
Der Mensch wird dem Menschen zum Wolf, wenn man ihn bedroht. Hilsenrath schildert den Überlebenskampf zweier junger Männer in einem rumänischen Ghetto.
Der Autor
Edgar Hilsenrath wurde am 2. April 1926 in Leipzig geboren. 1938 flüchtete er mit der Mutter und dem jüngeren Bruder nach Rumänien. 1941 kam die Familie in ein jüdisches Ghetto in der Ukraine. Hilsenrath überlebte und wanderte 1945 nach Palästina, 1951 in die USA aus. 1989 erhielt er den Alfred-Döblin-Preis, 1992 den Heinz-Galinski-Preis, 1994 den Hans-Erich-Nossack-Preis, 1996 den Jakob-Wassermann-Preis und Hans-Sahl-Preis.
Meine Meinung
Gelesen habe ich die im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienene Taschenbuchausgabe.
Der Romantext umfasst 632 Seiten.
Es schließt sich ein sehr informatives Nachwort (Seite 635 bis 646) von Helmut Braun, das sich mit dem Autor und Hilsenraths Arbeit an dem Roman sowie der Geschichte des Buches vornehmlich in Deutschland beschäftigt.
Abgeschlossen wird das Buch durch eine einseitige editorische Notiz.
Vorangestellt ist dem Roman ein Zitat aus dem Alten Testament, nämlich Jesaja 54,7: „Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln“.Gewidmet ist der Roman der Mutter von Edgar Hilsenrath.
Prokow, ein Ghetto zur Zeit des Nationalsozialismus. Eigentlich muss man nicht sagen, was das bedeutet. Leben, das zum Überleben für einen Tag, vielleicht auch für den nächsten und übernächsten wird, und Sterben, durch Hunger, durch Gewalt, fast nie „natürlich“. Das Grau und das Grauen des Alltags hat Edgar Hilsenrath mit einer Offenheit und Schonungslosigkeit geschildert, die mir neu war. Für dieses Erzählen ist er, wie man dem Nachwort entnehmen kann, sehr kritisiert worden. Aber bei näherem Überlegen: Was spricht eigentlich dagegen, dass es so war, wie er es beschreibt?
Ranek, so heißt die Hauptfigur, begleitet der Leser beim Gang (bzw. dem, was man so Gang nennt, ein Schlurfen ist es eher, ein Wanken, ein Schleichen) durch das Ghetto, auf der Suche nach einem Schlafplatz, auf der Suche nach Nahrung, auf der Suche nach Wärme, menschlicher Wärme zumal. Und die ist nicht mehr zu finden, da ist jeder für sich, da kämpft jeder für sich, da wartet man darauf, dass jemand stirbt (oder auch nicht), weil man dessen Schuhe will oder den Pullover oder die vermuteten Goldzähne. Da verkauft man den eigenen Körper oder den seiner Frau, um die nächste Mahlzeit zu sichern oder das Begräbnis des Sohnes.
Permanent hatte ich beim Lesen das Gefühl, mich ducken zu müssen. Schlag auf Schlag, jeder einzelne trifft, trifft genau ins Herz und den Verstand. Szene auf Szene an der Grenze des mir Erträglichen. Oft dachte ich, schlimmer geht es jetzt nicht mehr, aber es geht. Natürlich geht es, der Mensch ist ja widerstandsfähig, nicht nur im Roman.
Das Buch wollte ich weglegen, aber auch das geht nicht. Es klebte an meinen Händen, ließ und lässt sich nicht beiseite schieben, lässt sich nicht (mehr) ignorieren. Es ist da, ich habe es in mein Leben gelassen und jetzt muss ich schauen, wie ich damit klar komme. Hineingezogen wurde ich, konnte mich nicht einen Moment lösen, wurde so zum unmittelbaren Zeugen von Geschehnissen, die von einer brutalen Konsequenz sind, nichts scheint mehr an Humanität oder gar Moral gebunden.
Eigentlich macht es mir Hilsenrath ja leicht, ganz lakonisch kommt der Text daher, wertungsfrei, voll von Dialogen. Wie er das geschafft hat, frage ich mich und weiß, eine Antwort werde ich darauf nicht finden. Fast brutal kommt es mir aber vor, obwohl ich ahne, dass er diese, vermutlich in Teilen seine Geschichte vielleicht nur so schreiben konnte (auch wenn er später sagen wird: „Ich bin nicht Ranek“).
Und ich frage mich: Wird man so angesichts des zum Alltag erhobenen Grauens, des unbedingten Überlebenwillens angesichts widrigster Umstände, angesichts dessen, dass es keinem anderen daran gelegen ist, dass man überlebt? Wird man so wie Ranek, der auch noch einem hungernden Kind die Schale mit der dünnen Suppe wegnimmt, der Sterbende bestiehlt; wird man so wie die Alte, die ihren Körper Bezahlung sein lässt, wie der Rote, nicht besser als Ranek, eher stärker als dieser, gewalttätiger, noch egoistischer. Wie viel, wie wenig gehört dazu, alle Regeln und Normen gesellschaftlicher Art, alle Moral zu verdrängen, zu vergessen? Wie viel Hunger gehört dazu, das eigene Überleben über alles zu stellen?
Lichtpunkte, Momente zum Innehalten suche ich in dem Roman, finde sie kaum. Da ist Debora, Raneks Schwägerin. Ich verstehe sie und verstehe sie auch wieder nicht, wieso ist sie nicht wie die anderen, warum lässt sie die Verzweiflung nicht in ihr leben und warum verlässt sie ihr Gottvertrauen nicht? Auch sie wird beschrieben wie die anderen, genau so lakonisch, genau so wertungsfrei. Auch wenn ich gut finde, wie sie handelt, handeln darf (beispielsweise die Suppe mit anderen zu teilen, weil Sabbat ist), die Meinung des Autors dazu ist nicht zu erkennen. Ein Stern in allzu dunkler Nacht, leise glimmend, so kommt sie mir vor. Verglimmend vielleicht, so genau weiß man das nicht. Aber für mich der einzige Hoffnungsschimmer in diesem Buch, sie und das Kind, das sie annimmt.
Die Frage nach Gott, nach dem Warum, schimmert immer wieder auf, kein Wunder angesichts des beschriebenen Leids. Man muss aber keine Angst haben, sich allzu sehr „religiösen Dingen“ ausgesetzt zu sehen. Mir scheinen es genau die Fragen zu sein, die man sich wohl stellt, wenn man sich und die Welt von Gott verlassen wähnt.
„Nacht“ ist für mich ein extrem schonungsloses, ja verstörendes Buch. Deprimierend hingegen empfinde ich es nicht, was vielleicht ein wenig widersprüchlich erscheint. „Weil wir die Hoffnung noch nicht aufgegeben“, antwortet Debora auf Raneks Frage: „Wir beneiden die Toten … und doch, wen es dazu kommt, will niemand sterben. Warum hängen wir so sehr am Leben?“ (Seite 238) - mehr ist dazu nicht zu sagen, besser kann man es nicht sagen.
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