Den ersten Band "Steinernes Fleisch" fand ich storytechnisch ganz okay, stilistisch sehr schön. "Lebendige Schatten" hat mich nun aber auch endlich von der Story überzeugt!
Rezension
Jacob hat für die Rettung seines Bruders Will teuer bezahlt – eine Motte zeichnet seine Brust und erinnert ihn täglich daran, dass sich die dunkle Fee ihren Namen zurückholen wird. Und damit auch Jacobs Leben beenden. Jacob hat bereits allerlei Zaubergegenstände gesucht und gefunden, die Leben retten können. Doch seines nicht. Seine letzte Hoffnung ist eine Armbrust, die tausende töten kann aber durch Liebe auch ein Leben retten. Dazu muss er das Herz, die Hand und den Kopf eines toten Königs und Hexenschlächters finden. Gemeinsam mit Fuchs macht er sich auf die gefährliche Suche, allerdings nicht allein. Auch der Goyl Nerron soll die Armbrust finden und so beginnt ein Wettkampf um Leben und Tod …
„Lebendige Schatten“ ist wesentlich spannender als sein Vorgänger „Steinernes Fleisch“. Zwar bietet auch der zweite Band der Reckless-Trilogie eine typische Abenteuergeschichte, bei der man jedoch nie genau weiß, wohin die Reise führt. Herz, Kopf und Hand verstecken sich in den verschiedensten Reichen und nicht immer ist Jacob derjenige, der eines dieser verzauberten Körperteile findet. Auf seinem Weg werden ihm stetig Steine in den Weg geworfen und die Zeit wird immer knapper. Dieses Mal ist es nicht der edle Beschützerinstinkt seinem Bruder gegenüber, der Jacob antreibt. Es ist der nackte Kampf ums eigene Leben. Und Jacob hat Angst. Zunächst kämpft es zwar, aber mit jedem Kapitel spürt man mehr und mehr, wie ihm die Kraft ausgeht. Fuchs hält ihn aufrecht, so gut sie kann. Sie bleibt seine treue Begleiterin und Jacob erkennt endlich, dass sie zu einer wunderschönen und starken Frau geworden ist. Im Angesicht des Todes überwältigen ihn die Gefühle für Fuchs, doch für Liebeserklärungen bleibt keine Zeit.
Der Goyl Nerron ist dem Leser auf Anhieb unsympathisch, vor allem da er Jacob das Leben kosten könnte. Zudem ist er arrogant und von seinem Wunsch, ein besserer Schatzjäger als Jacob Reckless zu sein, besessen. Und Nerron ist tatsächlich gut – nur muss er auf seine Reise einen mürrischen Wassermann, einen verzogenen und von Elfenstaub abhängigen Prinzen und einen hochnäsigen Lehrer mitnehmen. Das Dreiergespann ist ihm ein Klotz am Bein, doch im Lauf der Geschichte erweist sich der ein oder andere doch als nützlich. Je besser man Nerron dabei kennenlernt, umso interessanter und sympathischer wird er einem. Zudem kann man Cornelia Funke zu Gute halten, dass ihre Charaktere keine übermenschlich starken Schönlinge sind, sondern mit ihren Möglichkeiten haushalten müssen. Und sie machen Fehler, auch dumme Fehler, die allerdings kräftig Spannung schüren. Denn durch diese Fehler entstehen vielen Wendungen, die den Leser um den Ausgang der Geschichte bannen lassen. Selbst am Ende warten noch einige Überraschungen.
Cornelia Funke spickt auch dieses Mal ihre Märchenwelt mit vielen kreativen Ideen, die ein stimmiges Gesamtkonzept ergeben. Die Welt hinter dem Spiegel ist düster und leidet unter den Errungenschaften des Fortschritts. Zwar sind die neuen Maschinen hilfreich und für die Bevölkerung spannend, doch es zeigen sich bereits die Schatten einer industriellen Revolution. Die Welt droht ihren Zauber zu verlieren, dabei ist es gerade Magie, die Jacob den Tod bringen oder ihn retten kann. In Städtenamen und Erfindungen spiegeln sich historische Ereignisse und man erkennt mit jeder Seite mehr, dass „Reckless“ einfach verdammt gut durchdacht ist. Die Welt hinter dem Spiegel versprüht den Charme des 18. Jahrhundert, vermischt mit Magie und Mythen. Endlich hat man das Gefühl, vollkommen in diese Welt eintauchen zu können und so kann man den Roman nur schwer aus der Hand legen. Besonders faszinierend sind allerdings die dunklen Hexenkünste und finsteren Wesen – und es sei gesagt, dass „Lebendige Schatten“ mehr noch als der erste Band nichts für zartbesaitete Leser ist. Hinter dem Spiegel lauern allerlei Grausamkeiten und Unmenschlichkeiten, die jedoch stilvoll geschildert werden und dem Leser eisige Schauer über den Rücken jagen.
Stilistisch bleibt Cornelia Funke auf hohem Niveau und kreiert mit ihrer Sprache eine beklemmende und düstere Atmosphäre. Ihr reichen wenige Worte, um die Emotionen ihrer Charaktere spürbar zu machen und sowohl stille Szenen als auch actionreiche lesen sich traumhaft. Wo „Steinernes Fleisch“ zudem noch zu stark nach Schwarz/Weiß-Malerei aussah, entfalten sich in „Lebendiges Fleisch“ zahlreiche Graustufen. Auch kann man hier schwer nach Gut und Böse suchen, denn Jacob rettet kein Familienmitglied oder gar die Welt, sondern schlichtweg seine eigene Haut. Durch seinen nahen Tod kommt der Leser zudem in den Genuss zahlreicher Anekdoten aus seinem Schatzjägerleben. Und so bewegt seine Vergangenheit war, so bewegt ist auch dieses Buch. Das Hardcover wartet mit einem schönen Prägedruck und 3D-Effekt der Motte auf und ist wie sein Vorgänger mit Illustrationen von Cornelia Funke versehen. Diese ergänzen die düstere Atmosphäre der Geschichte perfekt, was kaum anders zu erwarten ist, wenn ein Autor seine Werke selbst illustriert. So hat man ein wenig das Gefühl, „Reckless“ durch die Augen von Cornelia Funke zu betrachten.
Fazit
„Lebendige Schatten“ ist eine spannungsgeladene Schatzjagd quer durch eine düstere und atemberaubende Märchenwelt. Dabei geht es schlichtweg um die Rettung der eigenen Haut. Jacob und Fuchs sind starke Charaktere, die sich aus gefährlichen Situationen befreien können, aber auch manchmal große Fehler machen. Neue Nebencharaktere bringen zusätzlich Schwung in die Geschichte. Ein rasantes Abenteuer voll kreativer Ideen, untermalt von einem traumhaften Stil!
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