Arezu Weitholz: Wenn die Nacht am stillsten ist

  • Arezu Weitholz: Wenn die Nacht am stillsten ist
    Verlag Antje Kunstmann 2012. 224 Seiten
    ISBN-13: 978-3888977756. 17,95€


    Verlagstext
    Es ist dieser Moment, den Anna wahrnimmt, um Ludwig, mit dem sie seit acht Monaten zusammen ist, ohne dass jemand davon weiß, zu sagen, was sie ihm nie gesagt hat. Von den Brüchen in ihrem Leben hat sie nicht gesprochen, nicht von dem Selbstmord des Vaters, nicht von der depressiven Mutter im Altersheim, nicht von Südafrika, wo sie lange gelebt hat, den Drogen, den Partys, der Gewalt, dem Schmerz. Das alles passte nicht in Ludwigs Welt, die sich um Macht und Erfolg, um den richtigen Style und die angesagte Musik drehte und aus der alles ausgeblendet wurde, was den schönen Schein der Oberfläche stört. Aber jetzt ist auch in Ludwigs System etwas aus dem Ruder gelaufen und er, der Überflieger, Redakteur für besondere Aufgaben bei einem Hamburger Gesellschaftsmagazin, der immer eine Antwort hat, der einsam, verschroben, fleißig und elitär ist, hat Schlaftabletten genommen, vielleicht eine Überdosis, Anna weiß es nicht. Sie sitzt wie Scheherazade an seinem Bett und erzählt. Hört er es?


    Die Autorin
    Arezu Weitholz wurde 1968 in Niedersachsen geboren und lebt heute in Berlin. Sie arbeitet als Journalistin, Illustratorin und als Textdichterin u.a. für Herbert Grönemeyer, Die Toten Hosen, Udo Lindenberg, 2raumwohnung und Madsen. Sie hat bisher zwei Lyrikbände veröffentlicht: »Mein lieber Fisch« und »Merry Fishmas«.


    Inhalt
    Anna sitzt am Bett ihres Liebhabers Ludwig und hält einen Monolog. Sie sagt dem Bewusstlosen all das, was sie ihm bisher nie sagen konnte und was er vermutlich ungern hören wollte. Ludwig könnte einen Selbstmordversuch unternommen haben. Zunächst ist noch unklar, ob er Überlebenschancen hat und ob er Annas Ansprache überhaupt hören kann. Gleich auf den ersten Seiten ihres Romans hat Arezu Weitholz mich fest im Griff. Anna Born wirkt wie eine kluge Frau, die sich auszudrücken versteht. Wie konnte sie in die Beziehung zu einem Mann geraten, der sich auf einem Podest räkelt und die Frau an seiner Seite immer nur klein macht? Allmählich kann ich mir eine Vorstellung von Anna und Ludwig als Paar machen. Anna ist Journalistin und Fotografin, die nach einem längeren Aufenthalt in Südafrika in Ludwigs Redaktion zu arbeiten beginnt. In Kapstadt, wo Anna als Disc Jockey arbeitete, muss jeder sorgfältig auf sich aufpassen, um nicht ausgeraubt oder ermordet zu werden. Annas Überlebensinstinkte und ihre Kenntnis der Musikbranche sind in Hamburg nutzlos. Hier muss eine Frau darauf achten, dass sie die richtige Schuhmarke kauft. In der Redaktion fühlt sich Anna behandelt wie ein Kind aus der Provinz. Wer braucht schon Reportagen über kugelsichere Büstenhalter?, fragt sie sich. Wie Anna eine Beziehung zu Ludwig erträgt, der keine Gefühle zulassen kann und seine Freundin verleugnet, bleibt mir lange ein Rätsel. Annas platonischer bester Freund Hannes hatte sie gewarnt "Lass die Finger von Ludwig, der hat eine Meise." Hinterher ist man ja immer schlauer.


    Ein zweites Kapitel erzählt aus der Perspektive eines neutralen Beobachters, was am Tag vorher geschah. Immer deutlicher wird, dass Anna, deren Mutter dement und schwer krank in einem Altenheim lebt, schon jetzt mehr vom Leben versteht als Ludwig je kennenlernen wird. Annas Themen und Interessen blendet Ludwig aus seinem wichtigen Leben aus. Doch dem prominenten Journalisten, der anderen gern kluge Vorträge über das Leben hielt, scheint die Kontrolle über seine Angelegenheiten entglitten sein, sonst würde Anna jetzt nicht an seinem Bett sitzen. Es schleicht sich beinahe ein Unterton der Verachtung für Ludwig in Annas Worte ein, je länger man ihr zuhört.


    Fazit
    Anna zeigt sich im Laufe der Geschichte als kluge, tatkräftige Frau, die es seit ihrer Kindheit nicht einfach im Leben hatte. Arezu Weitholz hat mich mit den Ereignissen an zwei Tagen im Leben eines ungleichen Paares gefesselt, weil ich unbedingt wissen wollte, wer Anna ist und wie sie in ihre sonderbare Beziehung zu Ludwig geraten ist. Leserinnen empfohlen, die Annette Pehnt gern gelesen haben und sich ein wenig für Südafrika interessieren.


    9 von 10 Punkten

  • Das hört sich sehr interessant an. Herzlichen Dank für diese Buchvorstellung. :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Ja sicher, das kann ich machen. Sie ist nur sehr lang, da dachte ich, dass es hier vielleicht stören könnte.


    Wenn die Gedanken am lautesten sind...


    Es gibt Gedanken, die dich wie ein Hauch durchstreifen, kaum Spuren hinterlassend. Es gibt Gedanken, die für eine kurze Weile deine Welt anhalten. Es gibt Gedanken, die dich wie in einem Karussell herumwirbeln, sich stets im Kreis bewegend. Und es gibt Gedanken, die sich wie Hämmer durch deinen Verstand arbeiten und alle Mauern niederreißen. So unterschiedlich sie auch sein mögen, haben sie doch eines gemeinsam: Jeder einzelne hat eine ihm eigene Zeit. Dort, wo die Nacht am stillsten ist, wo die Worte klar und schneidend wie Glas sind und die Gedanken keine Grenzen mehr kennen, muss die Protagonistin dieses Romans erleben, was es heißt, sich Wahrheiten einzugestehen und eine Entscheidung zu treffen.


    Bereits der erste Satz des Romans bereitet eine Geschichte vor, deren Anfang zugleich auch ihr Ende ist. Um Momente geht es, einzelne sowie das große Ganze im Zusammenspiel des Erlebten. Was das heißen soll? Das sagt die Autorin in diesem einen Satz, der gerade durch seine schlichte Struktur eine überaus emotionale Botschaft vermittelt.


    "Am Ende geht es um den Moment"


    Es schwingt das Gefühl abgeklärter Resignation mit, man hat das Gefühl Teil eines wichtigen Abschieds zu sein ohne etwas über die Figuren und Umstände zu wissen. Die Autorin erschafft zu Beginn durch einen schlichten, harten Stil eine aufgeladene Atmosphäre, die vom gezielten Einsatz der Ich-Perspektive getragen wird.
    Wir begleiten Anna und Ludwig, ein ungleiches Paar, das sich unermüdlich aneinander aufreibt. Was sie belastet, lässt ihn jedoch kalt. Berechnend streicht er die Beziehung der beiden aus seinem Leben, mit einem Lächeln im Gesicht, während Anna daran zu zerbrechen droht. Zwei Musikjournalisten, deren Gemeinsamkeiten sich auf den Job und die Einsamkeit beschränken. Er ist erfolgreich, gut betucht und gefragt, sie bewegt sich im Abglanz seines Lichtes. Ohne es zu bemerken, drehen sich beide im Kreis und prallen wie zwei Kreisel aufeinander, bis sie beide ihren Schwung verlieren. Es lässt sich schwer feststellen, an welcher Stelle die Figuren ins Straucheln kommen, sicher ist nur, dass sie fallen werden. Sie hat sich verloren, er sich zu früh gefunden. Halt kann es bei einer solchen Konstellation nicht geben. Daran lässt Weitholz keinen Zweifel aufkommen, denn Anna findet Ludwig in seinem Bett, er hat Schlaftabletten genommen. Wie viele es waren, erfahren wir nicht und auch der Grund lässt sich im Laufe der Geschichte nur erahnen. Für einen kurzen Augenblick hat Anna die Macht über Ludwig und einen Moment, auf den sich alles zuspitzt. Sie könnte Hilfe holen, nutzt aber stattdessen die Stille der Nacht, um ihre eigenen Dämonen zu benennen. Im Zuge dieser einen Nacht verarbeitet sie an seiner Seite nicht nur die gescheiterte Beziehung zu Ludwig, sondern auch den Irrlauf ihres bisherigen Lebens. Sie erzählt Ludwig alles, was sie nie zuvor ausgesprochen hat. Die Autorin spielt mit ihrer Idee, lässt die Protagonistin in Rückblenden einschneidende Erlebnisse rekapitulieren und vor allem reflektieren. Durch die Blenden wird der Monolog zwar dynamischer, doch erfolgen sie so regelmäßig, dass ich allein durch die Struktur eine gewisse Langeweile verspürte. Anna erinnert, erzählt, reflektiert und klagt an. Weitholz verpasst ihre Chance die Struktur inhaltlich zu lockern, in dem sie Anna immer wieder die gleichen Gefühlsausbrüche durchleiden lässt. Sie ist erst traurig, dann wütend, um daraufhin erniedrigt und kraftlos in sich zusammenzusinken. Damit bekommt die Figur Anna etwas Mechanisches, das jegliche Identifikation zunichte macht. Näher kommt man ihr erst wieder, wenn ihre Einsamkeit ganz individuelle Züge annimmt, indem Anna die Verbundenheit mit ihrem Fisch Dante mit dem Leser teilt. In diesen kurzen Szenen stecken mehr Intimität, als in denen der gefühlsaufgeladenen Puppe Anna.
    Ungeduldig kann man angesichts der behandelten Themen werden. Von Drogenerfahrungen, einer Flucht vor sich selbst nach Afrika, einer depressiven Mutter und nicht zuletzt einer Medienwelt, in der nur zählt, welche Kleidung du trägst und wie bekannt du bist. Ein treffendes Standbild einer vergangenen Zeit, das überzeugt, aber nicht überrascht. Das war zu erwarten und der Ton, in dem darüber gerichtet wird, ist zu pathetisch, um mich erreichen zu können.


    "Warst du jemals auf einem Rave, ich meine nicht in der VIP-Lounge, wo deine Freunde mit den richtigen Turnschuhen stehen. Ich meine ein Fest, bei dem man irgendwann morgens um vier merkt, dass man die ganze Zeit im matsch getanzt hat."


    Beide Protagonisten arbeiten in der Musikbranche und man merkt deutlich, dass die Autorin weiß, wovon sie spricht. Arezu Weitholz selbst arbeitete bei etlichen Musikern als Co-Autorin und hier offenbart sich Fluch und Segen. Der Medienbetrieb ist exakt und realistisch dargestellt, die vielen Verweise auf Musiker sind plausibel und hier und da funkeln grandiose Sätze hervor, von denen man einige auch in Songtexten verwenden könnte, aber es fehlt an Ausgewogenheit. Ständig vergleicht Anna Situationen und Personen mit mehr oder weniger bekannten Musikern, um an ihnen etwas zu erklären oder zu zeigen. Sie lässt ihre Figuren nicht von selbst durch ihre Handlungen wirken, sondern liefert die Wirkung quasi im Vergleich mit. Da Anna in der Musikbranche arbeitet, könnte man das noch mit leichtem Bedauern zur Seite schieben. Problematisch wird es bei der Betrachtung des gesamten Textes. Hin und wieder blitzen starke poetische Sätze auf, an denen man sich nicht sattsehen kann.


    "Und doch waren sie immer hier, die Gefühle, wie herrenlose Hunde sind sie uns nachgelaufen, aber du sagtest: Man muss sachlich sein, sonst ist man wie ein Tier."


    Es sind grandiose Gedankenblitze, die so pointiert sind, dass sie sich wunderbar in Songtexten wiederfinden könnten. Lieder zeichnen sich jedoch gerade durch ihre Kürze aus und hier sehe ich eine große Schwäche der Autorin. Sie schafft es nicht, die wenigen grandiosen Satzmomente auszuweiten. Wenn man aber bedenkt, dass sie Songtexterin ist und zwei Lyrikbände veröffentlicht hat, kann das nicht überraschen. Erst in der Distanz, die Autorin steigt im letzten Teil der Geschichte aus dem Kopf der Protagonistin und wechselt die Perspektive, wirken die Übergänge fließender.


    Arezu Weitholz versteht es, in der Kürze zu glänzen. Da ihr Debütroman jedoch 223 Seiten umfasst, bilden die funkelnden Sätze nur Momentaufnahmen und werden so leider vom Rest ein Stück weit verdunkelt. Die Gedanken der Protagonistin sind karusselfahrende Vorschlaghämmer, verfehlen aber leider an einigen Stellen ihr Ziel. Trotz allem ist es ein unterhaltsamer Roman, der auf eine ganz spezifische Weise eigen ist. Man müsste einen Soundtrack zu diesem Buch hören können...
    Ein Roman für sensible Frauen und all diejenigen, die sich auch an wenigen großen Momenten erfreuen können.

  • Zitat

    Original von Freidenkerin
    Ja sicher, das kann ich machen. Sie ist nur sehr lang, da dachte ich, dass es hier vielleicht stören könnte.


    Herzlichen Dank, jetzt kann ich mir ein besseres Bild von dem Buch machen. Und zu lang ist es nicht, wer es nicht lesen möchte, kann es ja lassen. :wave

  • Ein Buch über.. Nun ja, über was eigentlich? Leider kann ich gar nicht genau sagen, über was das Buch handelt. Kurz gesagt geht es um Annas und Ludwigs Beziehung. Zwei Menschen, die verschiedener nicht sein können…
    Das erste Kapitel fand ich noch ziemlich gut. Wir erfahren hier aus Annas Gedanken einiges über sie selbst und über ihre Beziehung zu Ludwig. Dadurch bekommt der Leser einen sehr guten Eindruck über die beiden.
    Doch leider wird das Buch dann immer zäher, sodass ich vieles nur überflogen hatte und richtig froh war, als es dann zu Ende war. Ich konnte mit der ganzen Geschichte absolut nichts anfangen und habe auch zu den Personen keinen Zugang gefunden. Die Charaktere blieben mir fremd und irgendwie auch nicht stimmig… Schade, da der Anfang ziemlich vielversprechend begann.


    Fazit: Ein zähes, enttäuschendes Buch, mit dem ich nichts anfangen konnte und ich es daher nicht empfehlen kann. Ich vergebe 2 von 10 Punkten.

    Einige Bücher soll man schmecken, andere verschlucken und einige wenige kauen und verdauen.

  • Anna sitzt neben Ludwig, der sich nach einer Überdosis Schlaftabletten in einem komatösen Zustand befindet.
    Der einsame, elitäre, verschrobene und oberflächliche Ludwig passt eigentlich so gar nicht zu Anna, er ist das genaue Gegenteil von ihr und trotzdem liebt sie ihn.
    Anna sitzt neben Ludwig und denkt über ihr Leben nach. Über ihr gemeinsames Leben, das sie 8 Monate geteilt haben. Und über ihr eigenen Leben von dem Ludwig nie etwas wissen wollte.
    Ich weiß gar nicht wie ich Arezu Weitholz’ Buch „Wenn die Nacht am stillsten ist“ beschreiben soll, denn es ist schwer in Worte zu fassen.
    Anna ist ein Charakter mit dem man sich identifizieren kann. Ihre Gefühle für Ludwig mögen nicht für jeden nachvollziehbar sein, aber man spürt in der Erzählung regelrecht ihre Faszination für den nicht ganz einfachen Kerl, der arrogant und selbstverliebt wirkt. Allerdings ist diese Faszination so real, so greifbar, dass sie während des Lesens auch auf mich übergriff.
    Weitholz schafft es einfach von Anfang an so real und authentisch zu erzählen, dass man zu einem Teil von Annas Geschichte wird, wissen will wie zwischen ihr und Ludwig alles begann und letztlich endet. Endet es überhaupt?
    „Wenn die Nacht am stillsten ist“ ist eine Momentaufnahme in der Anna sich an ihre Vergangenheit als DJ mit Drogen in Südafrika erinnert, an den Selbstmord ihres Vaters, ihre depressive Mutter, die sie regelmäßig im Pflegeheim besucht und an ihre Begegnung mit Ludwig, als alles begann.
    Arezu Weitholz bedient sich dabei einer sehr poetisch und sehr berührenden Sprache mit vielen Stellen, die nachdenklich machen. Man reflektiert über das eigene Leben und fragt sich was man mit Anna gemein hat, hat man überhaupt etwas mit ihr gemeinsam.
    Auch mag ich normalerweise keine offenen Enden mit ungeklärten Fragen, aber hier passt alles, hier wäre etwas anderes nicht möglich gewesen.
    Für mich ist die ganze Handlung sehr schwer in Worte zu fassen und es ist kein Buch, das man mal eben so schnell weg liest. Es ist ein Buch das berührt, nachhaltig prägt und dessen dichte Atmosphäre und ausgewählte Sprache einem in Atem hält. Ein Buch über Einsamkeit, Liebe und das Erwachsenwerden. Ein ganz besonderes Buch.


    Es ist wie die Nacht von 3 bis 5 Uhr, wenn man denkt die Welt steht still. Das trifft es wohl am ehesten.


    Mein Jahreshighlight.


    10 von 10 Punkten!