Schreibwettbewerb September/Oktober 2012 - Thema: "Kleinigkeiten"

  • Thema September 2012:


    "Kleinigkeiten"


    Vom 01. bis 30. September 2012 - 18:00 Uhr könnt Ihr uns Eure Beiträge für den Schreibwettbewerb September 2012 zu o.g. Thema per Email an schreibwettbewerb@buechereule.de zukommen lassen. Euer Beitrag wird von uns dann anonym am 1. Oktober eingestellt. Den Ablauf und die Regeln könnt Ihr hier noch einmal nachlesen.


    Bitte achtet darauf, nicht mehr als 500 Wörter zu verwenden. Jeder Beitrag mit mehr als 500 Wörtern wird nicht zum Wettbewerb zugelassen!



    Achtung: Achtet bitte auf die Änderungen! Annahmeschluß ist ab sofort immer am Monatsletzten um 18:00 Uhr und die e-mail Adresse hat sich wie folgt geändert - schreibwettbewerb@buechereule.de

  • von Zuckelliese



    Claudia bekam den Skikurs zu Weihnachten von ihrem Freund, der einen günstigen Winterurlaub für beide gebucht hatte und war mit ihrer bisherigen Leistung ganz zufrieden. Nun ging es an den ersten Hang. Angst musste besiegt werden. Beide Beine nebeneinander, rückwärts zur Piste ging sie in Gedanken alle Anweisungen durch. Sie konnte sich dem Anblick des Steilhanges wegen der Aufregung nicht sofort aussetzen. Plötzlich spürte sie ein dringendes Bedürfnis und hatte keine Ahnung, wie sie sich Erleichterung verschaffen könnte. Die tief verschneite Winterlandschaft war wunderbar ruhig und einsam. Ganz vorsichtig schälte sie sich aus dem Anzug. In diesem Moment wünschte sie sich an den Strand. Da hätte man einfach weniger an. Bis zu den Knien war das geschafft, als die Skier ins Rutschen kamen. Popobremse schien angesagt. Langsam kam ihr die Erkenntnis eines falschen Beginns der Abfahrt. Es war eisig am Hinterteil auf dem Weg nach unten. Ein Busch gab ihr Halt. Nach gefühlter Ewigkeit stand sie wieder auf den Brettern und sah die Blutspur auf der Piste. Ich muss wohl die Besinnung verloren haben, dachte sie, als sie auf einer Pritsche im Wartezimmer einer Notaufnahme zu sich kam. Jegliche Erinnerung an die Ereignisse fehlten. Ein freundlicher Herr mit einem Gipsarm sprach leise zu ihr. Von ihm erfuhr sie, wo sie sich befanden. Auf Die Frage nach seinem Missgeschick erhielt sie folgende Antwort:“Ich saß auf dem Sessellift und entdeckte eine Skifahrerin in einer ungewöhnlichen Stellung. Ich musste mich etwas nach vorn beugen, um das Ganze richtig beobachten zu können. Leider verlor ich den Halt und stürzte bei der Verrenkung vom Lift meine Hand war gebrochen. Das Lachen blieb der Patientin im Halse stecken, weil sie erkannte, dass Claudias Pipikram seine Unglücksursache war. Die Ärzte hatten ihr Werk an den beiden Pechvögeln vollbracht und „Gipsarm“ verabredete sich mit „Poponaht“ zur Nachsorge in der Kantine. Der doppelte Skiunfall fand seine Niederschrift im Tagesbericht der Klinik und erzeugte bei der Ablösung einen kuriosen Dienstbeginn. In der Kantine benötigte Claudia keinen Stuhl. Sitzen war mit einer längeren Poponaht einfach unvereinbar. Gipsarm gab sich als Lars zu erkennen und beschloss mit Claudia gemeinsam auf psychologische Hilfe zu verzichten. Als therapeutische Maßnahme besprachen sie einfach ihren gemeinsamen Sommerurlaub im Folgejahr. Die Verarbeitung des Skikurses nahm bei den beiden Unglücksraben noch einige Zeit in Anspruch. Von der Bereicherung des Ärztefaschings durch den doppelten Skiunfall erfuhren beide zum Glück erst Jahre später. Die Moral von der Geschichte ist: „Man sollte nicht gedankenlos unterwegs sein, egal wo“. Gern hätte ein ärztlicher Dichter den Vorfall in Verse gebracht und als “Mutmacher“ am Eingang zur Notaufnahme der Schweizer Klinik für alle Patienten sichtbar angebracht. Leider sprach die ärztliche Schweigepflicht dagegen. Poponaht und Gipsarm behielten ihre Spitznamen viele Jahre und erzählten deren Entstehungsgeschichte bei Familienfeiern immer wieder. Nachdem Lars und Claudia die Skier an den Nagel gehängt hatten, buchten sie nur noch Kreuzfahrten auf ruhigen Gewässern.


    Der Verursacher des ursprünglichen Weihnachtsgeschenks kam nie in den Genuss eines gemeinsamen Winterurlaubs mit seiner Freundin Claudia, erfuhr aber wenigstens in einem Brief von ihrem Skiunfall.

  • von arter



    Auf dem Kochherd brodelt das Essen,
    am Telefon hat sie's vergessen.
    Es qualmt ungeheuer,
    jemand schreit: Feuer!
    Die Kosten sind nicht zu ermessen.


    Privat? Sie hat's nicht gecheckt.
    Facebook gerad erst entdeckt.
    Freunde? Verheerende Flut!
    Randale, Prügel und Blut.
    Zum Glück ist keiner verreckt.


    Ein Laubblatt auf seiner Brille,
    der Biker sieht nicht die Rille.
    Die Maschine bricht aus,
    katapultiert ihn hinaus.
    Ein dumpfer Aufprall, dann Stille


    Ein Schaumstoffteilchen schwirrt wild,
    beschädigt den schützenden Schild.
    Zerborsten im Raum,
    beendet der Traum.
    Die Crew wird lebendig gegrillt.


    Auf der Bahn ein metallener Streifen
    zerfetzt der Concorde einen Reifen.
    Treibstoff strömt aus 'nem Schlitz.
    Funken am Fahrwerk, ein Blitz.
    Der Tod hundertfach nicht zu begreifen.


    Du bist ein Planer, Gestalter.
    Sorgst vor bereits für dein Alter.
    Doch sei nicht gewiss,
    welch großer Beschiss!
    In Tokio flattert ein Falter.

  • von Johanna



    An einem lauen Spätsommerabend Anfang dieses Jahrhunderts bat Felix seine Freundin Miriam in einem kleinen romantischen Restaurant seine Frau zu werden und übergab ihr ein kleines Kästchen.
    Sie öffnete es in Erwartung eines Verlobungsringes und sah dann etwas verwirrt auf Felix.
    Kein wertvoller Ring lag dort, sondern eine kleine, kaum handgroße Porzellanpuppe mit verschlissenen Kleidern.


    „Ohne dieses kleine Püppchen gäbe es mich vermutlich nicht“
    „Erzähl“


    Die Eltern meiner Urgroßmutter Kathleen hatten endlich das Geld für die Überfahrt nach Amerika zusammen und wollten dort neu beginnen.
    Am 11. April in Cobh, auf den Weg zum Hafen, begann Kathleen die damals gerade 6 Jahre alt war, jämmerlich zu weinen.
    Sie hatte Lilly in der alten Kate vergessen, ihre so heiß geliebte kleine Puppe.


    Die Eltern kehrten um und holten Lilly.
    Gehetzt liefen sie zum Hafen und sahen gerade noch das Schiff um 13:30 Uhr auslaufen.
    Wütend und verzweifelt war Kathleens Vater kurz davor, die dämliche Puppe ins Hafenbecken zu werfen.


    5 Tage später war er einer der dankbarsten Männer Irlands, als die ersten Nachrichten der verunglückten Titanic eintrafen
    Einige Wochen später wanderten sie endlich nach Amerika aus.


    Urgroßmutter Kathleen lernte dort ihren zukünftigen aus Hamburg stammenden Mann kennen und ging mit ihm in seine Heimat, wo dann 1936 meine Großmutter Helena zur Welt kam.


    Am 7. Geburtstag meiner Großmutter, am 27. Juli 1943 waren Krieg und Bomben Alltag für die kleine Helena.
    Abends heulten die Sirenen, Kathleen nahm ihre beiden Töchter und wollte mit ihnen wie gewohnt in den großen Bunker in Barmbek.
    Großmutter Helena schrie auf als sie auf der Straße ankamen: „ Lilly, wir haben sie in der Wohnung gelassen“.
    Kathleen und die Mädchen rannten zurück in die Wohnung, schnappten sich die Puppe und wollten zum großen Bunker.
    Zu spät, die Bomben fielen bereits, die Stadt brannte und so kauerten sich die drei unter dem Hauseingang zusammen.
    Am nächsten Morgen stand ihr Haus noch, der große Bunker aber war dem Erdboden gleichgemacht.


    Seitdem wird Lilly von einer Generation an die nächste weitergegeben und wie ein Schatz gehütet.
    Helena bekam dann 1955 eine Tochter, meine Mutter.
    Ihr übergab Helena dann die Puppe, als sie 1976 heiratete und ich auf die Welt kam.
    Und meine Mutter wiederum erzählte mir an meinem 18. Geburtstag Lillys Geschichte und sagte, ich solle sie meiner Frau geben, wenn ich einmal heirate.


    Und nun bekommst Du sie und wir halten sie gemeinsam in Ehren.



    Miriam nahm die kleine Puppe ehrfürchtig in die Hand und meinte: „Ja, das werden wir. Und wenn wir im Dezember wieder zurück nach Deutschland fliegen, bekommt sie dort einen Ehrenplatz.“


    Am nächsten Morgen schreckten sie aus dem Schlaf hoch, Felix sah auf die Uhr und stöhnte.
    „Oh nein, das gibt’s doch nicht. Der Wecker, wir haben heute Nacht völlig vergessen ihn anzustellen.“
    Als sie ans Fenster traten, sahen sie kaum etwas vor lauter Rauch. Ihr Tagungsort in der 106. Etage des Nordturms existierte nicht mehr.


    Miriam nahm Lilly in die Hand und vermeinte fast, sie zwinkern zu sehen…..

  • von Grisu



    Ich liebe es, eiskalt zu trinken.
    Ich liebe die friedliche Stimmung in der Weihnachtszeit.
    Ich liebe Schokolade, die auf meiner Zunge zergeht.
    Ich liebe den intensiven Geruch nach Knoblauch bei meinem Lieblingsitaliener.
    Ich liebe die leckeren Calamari beim Altstadtgriechen.
    Ich liebe es, durch meine Haare zu streichen.
    Ich liebe den angenehm dezenten Geruch meiner frisch eingecremten Hände.
    Ich liebe es, auf die Jagd nach neuen Schuhen zu gehen.
    Ich liebe es, mir tagelang über ein Rätsel den Kopf zu zerbrechen und es dann endlich zu knacken.
    Ich liebe es, durch die Gassen meiner Heimatstadt zu schlendern.
    Ich liebe es, nach einem ereignisreichen Tag in mein warmes, kuschliges Bett zu fallen.
    Ich liebe es zu schenken und zu überraschen.
    Ich liebe es, wenn das Meer meine Knöchel umspült.
    Ich liebe es, an den Seiten meiner Bücher zu schnuppern und über einem spannenden Buch die Zeit zu vergessen.
    Ich liebe die Vorfreude auf das nächste Buch.
    Ich liebe es, feuchte, kühle Luft einzuatmen.
    Ich liebe stürmische Winde, die ums Haus fegen, und das Prasseln des Regens auf dem Dach.
    Ich liebe das Knistern des lodernden Feuers im offenen Kamin.
    Ich liebe die ruhige und besonnene Art meines Mannes, meinem Fels in der Brandung.
    Ich liebe es, mich in seine starken Arme zu kuscheln und morgens neben ihm aufzuwachen.
    Ich liebe seine schelmisch blitzenden Augen und seine Lachfältchen.
    Ich liebe das Strahlen in den Augen meiner Kinder, wenn sie sich freuen.
    Ich liebe es, wie sie konzentriert lauschen, wenn ich ihnen vorlese.
    Ich liebe es, wenn sie sich an mich schmiegen und mich mit ihren kleinen Händchen fest an sich drücken.
    Ich liebe es, über ihr Haar zu streichen und ihrem ruhigen Atmen zu lauschen, wenn sie schlafen.

  • von Prombär



    Es wurde Abend und es wurde Morgen: Ein angenehm warmer Tag kündigte sich an. Es war Frühling im Paradies und es gab noch keine Jahreszeiten. Die Erde war sehr jung. Sommer und Herbst wussten noch nicht, dass es sie gab und der Winter hatte noch keine Chance für ein Stelldichein gehabt. Die Erde war bereit zu erwachen, wie aus einem Winterschlaf, den sie nie geführt hatte.


    Das Meer brauste und Wellen schlugen gegen gerade erst entstehende Klippen. Die Gischt schäumte im wogenden Wasser. Felsen formatierten sich und Berge erhoben im weiten Land ihren Gipfel gen Himmel, bedrängt allein durch tiefe Täler. Gebirge und Flachland zerstreuten die Monotonie. Flüsse schlängelten sich ihre Pfade, stürzten sich eilig Schluchten hinunter. Seen entstanden


    Langsam fand dieses Spektakel ein Ende. Es war gut! Aber etwas fehlte: Die Farbe, die dem tristen Braun und Grau der Erde mehr Glanz verlieh. Die Welt sollte in aller Pracht erscheinen.


    Bäume, große wie kleine, in allen Variationen und Gestalten, fanden Platz auf Bergen, in Tälern und sie säumten die Ufer. Büsche und Sträucher wechselten sie ab und eine große Vielfalt überzog die Erde. Gräser und Kräuter vollendeten das Schauspiel. Die Erde erstrahlte nun im Grün, so vielfältig, dass es unmöglich war, die Schattierungen zu zählen. Es war gut!


    Aber die Abwechslung fehlte. Die Vielfalt der Bäume, Sträucher, Gräser war wunderbar, doch es war alles … grün. Die Bäume und Sträucher begannen Früchte zu tragen und bevor der Tag sein Ende fand, stoben noch kleine und große, einfache und komplizierte Blumen aus der Erde. Eine jede ein Kunstwerk für sich, perfekt, so wie sie geschaffen wurde. Ein Blumenmeer aus rot, orange, rosa und gelb in allen möglichen und unmöglichen Nuancen bedeckte die Erde. Es war gut!


    Nun, da alles vollbracht war, hüllte Finsternis die Erde ein. Es wurde Abend. Doch bevor die Welt sich in der Dunkelheit verbarg, erhellte noch ein Lichtstreif die Schöpfung. Eine Kleinigkeit war vergessen worden. Blaue Himmelsschlüsselchen sprossen aus der Erde und verliehen dem farbenprächtigen Blumenmeer den letzten Tupfen. Zögerlich huschten andere blaue und violette Blumen in dieses Meer aus Farbe und Pracht und vervollkommneten das Meisterwerk. Es war wirklich gut!


    Es war Abend und es wurde Morgen: Die junge Sonne liebkoste die Schöpfung mit ihren warmen Strahlen.

  • von beowulf



    "Das ist deine Mutter, mein Sohn."
    "Ist sie das noch? Woher weißt du das? Ich sehe nur eine leere Hülle.
    Und wenn das meine Mutter, deine Frau, die Oma meiner Kinder ist,
    warum willst du sie Leiden lassen?"
    " Ich kann das nicht."
    "Papa , es ist nur ein Knopfdruck".

  • von Fay



    Rainer saß ungläubig vor dem Fernseher. Irgendwie stand er neben sich. Die Geschehnisse der vergangenen 24 Stunden liefen noch einmal vor seinem geistigen Auge ab.


    Gestern Nacht war alles aus dem Ruder gelaufen. Erst hatte der HSV das Spiel gegen Bayern München verloren und anschließend war er mit seinen Kumpels auf der Reeperbahn versackt. Na ja, hätten sie den Sieg davongetragen, wären sie auch dort gelandet. Feuchtfröhlich wäre es auf jeden Fall geworden. Die Kleine, die am Morgen neben ihm gelegen hatte, sah bei Tageslicht auch nicht so scharf aus, wie er sie vom Abend zuvor in Erinnerung hatte. Verkatert blickte er in das Schminke-verschmierte Gesicht und schüttelte sich angewidert. Den schalen Nachgeschmack spülte er mit den Resten seines abgestandenen Drinks runter. Schlagartig kam bei ihm die Erkenntnis durch, dass er vergessen hatte, den Wecker zu stellen. Angesichts der Alkoholmengen, die er intus hatte, wunderte ihn das nicht. Er zog das Spitzenhöschen vom Wecker und blickte erschrocken die gelbgrünen Leuchtziffern an. Am liebsten hätte er das Ding an die Wand geworfen. Es war viel zu spät! Als ihn das volle Ausmaß der Erkenntnis traf, sprang er wie von der Tarantel gestochen aus dem Bett. Die Tussi, deren Namen ihm entfallen war, schüttelte er unsanft, damit sie die Wohnung verließ. Innerlich wusste er bereits, dass er es nicht mehr rechtzeitig zum Flughafen schaffen würde, allerdings wollte er trotzdem nichts unversucht lassen. Die Düse, hob nur kurz denn Kopf und murmelte etwas, anschließend sank sie wie tot zurück aufs Kissen. Er beschloss sie einfach so liegen zulassen. Irgendwie sprang er in seine Klamotten und stolperte die Stufen hinunter. Der Koffer stand neben der Tür, nur so hatte er noch den Hauch einer Chance, rechtzeitig zum Flieger zu kommen. Rainer stieg in das erstbeste Taxi an der Ecke und schilderte seine Situation. Offensichtlich hatte der Fahrer Mitleid mit ihm, denn er übertrat alle Geschwindigkeitsbegrenzungen. Während der Fahrt kämmte er mit den Fingern die Haare und mit einer Ecke des T-Shirts säuberte er sich die Zähne.


    Die wenigen Schritte bis zur Abflughalle war er gerannt. Hastig hatte er der Dame am Schalter den Pass und das Ticket rübergeschoben, ein bedauerndes Kopfschütteln, war ihre einzige Reaktion gewesen, denn der Flieger hatte sich bereits auf dem Weg in die Luft befunden.


    Rainer schenkte sich einen großen Schluck Whisky ein und leerte das Glas in einem Zug. Seine Hand zitterte leicht. Er schaltete zum nächsten Kanal um, aber auch hier wurden die gleichen Szenen gezeigt. Die Bilder des Infernos flimmerten über die Mattscheibe. Brennende Häuser und die Teile eines Flugzeugwracks zeigten das Ausmaß der Katastrophe. Inmitten der Trümmer Feuerwehrmänner, die den Brand immer noch nicht unter Kontrolle hatten. Dazwischen Reporter, die sich in Pose warfen und über das Geschehene berichteten. Über allem eine schwarze Rauchwolke, die den blauen Himmel in ein schmutziges Grau verwandelte. Die Worte des Nachrichtensprechers hallten ihm in den Ohren: Keine Überlebenden.

  • von Lese-rina



    Erstaunt kneife ich die Augen zusammen, um sie gleich darauf wieder aufzureißen. Hat mir das Spiel von Sonne und Schatten einen Streich gespielt oder bin ich einfach zu lange vor meinen Büchern gesessen? Nein, tatsächlich, da hüpft einige Meter vor mir eine Banane über das Kopfsteinpflaster. Beim genaueren Hinsehen bemerke ich den Faden, an dem eine junge Frau sie ganz selbstverständlich hinter sich herzieht. Ich stutze nochmal. Keine Ahnung, wen oder was ich in diesem Moment erwartet hätte, doch ganz bestimmt nicht meine Mitstudentin Caroline. Bisher ist diese mehr durch Unauffälligkeit als durch verrückte Aktionen aufgefallen. Gerade, als ich mir noch überlege, ob ich sie ansprechen oder mich doch lieber unauffällig davonschleichen soll, bemerkt sie mich. Ein breites Lächeln erscheint auf ihren Gesicht. „Hallo, schön dich zu treffen. Ich wollte dich eh heute noch anrufen,“ plappert sie los und umarmt mich. „Ähh, hallo Caroline“, bringe ich stotternd hervor. Sie bemerkt mein inneres Durcheinander und grinst. „Na, du denkst dir sicher, ich sei jetzt vollkommen durchgeknallt, oder?“ Noch bevor ich zögerlich den Kopf schütteln kann, sprudelt es aus ihr heraus. „Ich hab dir doch von meinem Gelassenheits-Training erzählt! Na, und Wuffi ist eine Übung.“ Wuffi, Übung, Gelassenheits-Training? Geduldig erklärt Caroline: „Wenn du gezielt scheinbar furchtbare Situationen bewältigst, macht dir vieles andere weniger aus.“ „Und das funktioniert?“ frage ich ungläubig nach. „Ja, klar! Denk doch mal an die Diskussion gestern in unserem Seminar!“ „Stimmt,“ gebe ich zu, uns alle hatte Caroline mit ihrer neuen, selbstbewussten Art überrascht. „Wie peinlich ist es auf einer Skala von 1 bis 100, mit Wuffi über den Stadtplatz zu spazieren? Wie schlimm ein Referat? Und wo ordnest du dagegen den Verlust des Arbeitsplatzes, den Tod eines nahestehenden Menschen oder eine schwere Krankheit ein?“


    Diese Fragen bringen mich ins Grübeln und so denke ich noch darüber nach, als ich die Tür zu meiner WG aufschließe. Ein Blick in das zerknirschte Gesicht meines Mitbewohners Simon reicht und ich ahne schreckliches. „Du, mir ist was passiert“, druckst er auch schon herum. Simon ist im Gegensatz zu mir sehr chaotisch und gepaart mit seiner Gedankenlosigkeit ergibt das oft ein heilloses Durcheinander. „Ich konnte mich von dem neuen Rowling-Buch einfach nicht losreißen und da ist es mir …“ verlegen bricht er ab, redet dann aber doch weiter „ins Badewasser gefallen.“ „WAS???“ kreische ich. Er weiß doch ganz genau, wie furchtbar pingelig ich mit meinen Büchern bin und damit in die Badewanne zu gehen ist für mich ein absolutes Unding! Gerade als ich lospoltern will, fällt mein Blick auf die Obstschale, in der eine einsame Banane liegt. Ich muss an Carolines Wuffi denken und beginne zu lachen. „Wie schlimm ist ein nasses Buch auf einer Skala zwischen 1 bis 100? 5 oder doch eher nur 3?“ Simon sieht mich verdutzt an. „Egal, komm, wir schauen, was noch zu retten ist,“ ziehe ich ihn ins Badezimmer. So schlecht ist die Idee mit der Banane doch nicht. Vorsorglich nehme ich mir vor, morgen einen ganzen Schwung einzukaufen.

  • von xania



    Monoton ratterte der Pfarrer seinen Text herunter. Eva dachte zurück an die vielen Vorbereitungen für ihre Hochzeit, zu denen natürlich ein paar Gespräche mit diesem Pfarrer zählten. Es war eine sehr stressige, aber auch schöne Zeit gewesen. Die vielen Einzelheiten, die es zu organisieren gab, hatten viel Mühe gekostet, hatten ihr aber trotzdem viel Spaß gemacht.


    Verliebt schaute sie ihren Paul an, der dem Pfarrer an den Lippen hing und sich durch nichts ablenken ließ. Er sah gut aus, frisch rasiert, mit gezupften Augenbrauen und tadellos sitzendem Anzug. Nur die Ringe um die Augen störten etwas.


    Der Morgen war sonnig gewesen und ihren einzigen Termin hatte sie beim Frisör, der sie auch schminken und ihr die Nägel machen sollte. Geschickt hatte sie alles so geplant, dass sie diesen Tag von Anfang an genießen konnte.


    Eva schüttelte ihre Gedanken ab. Sie wollte dabei sein, so eine Feier gab es nur einmal. Ihre Schwester wischte sich diskret eine Träne ab. Neben ihr saßen Evas Nichten, Lea die in der Nase bohrte und die kleine Anna, die vor sich hingähnte.


    Diese beiden Kinder hatten Eva dann doch ein wenig Stress gemacht. Vor dem Frisörtermin wollte sie noch eine Beschäftigung für sie kaufen, damit sie sich während des langen Hochzeitsessens nicht langweilten. Doch im Spielzeugladen konnte sie sich nicht entscheiden. Laut und damit störend durfte die Unterhaltung nicht sein, bei den Büchern hatte sie keine Ahnung was sie nehmen sollte und ein Puzzle würde zu viel Unordnung machen. Viel zu viel Zeit hatte sie vergeudet um am Ende doch nur irgendetwas aus dem Regal zu grapschen, an die Kasse zu hetzen und schnell, wahrscheinlich zu schnell, zum Frisör zu fahren.


    Eva schob diese Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf das Geschehen. Noch ein letzter Segen, und dann war es vorbei. Einige Freunde blieben noch kurz stehen, manche schluchzten noch ein paar Mal leise. Dann entfernten auch sie sich und ließen Eva in Ewigkeit ruhen.

  • von Holle



    Die Wiese vorm Deich beugte sich unter den sengenden Strahlen der Vormittagssonne. Gräser dehnten die Wurzeln den Überbleibseln letzter Feuchtigkeit entgegen, die sich noch im Unterirdischen verbargen. Lustlos und matt gingen Lebewesen ihren Tagesgeschäften nach. Zwischen hängenden Blütenköpfen gaukelte ein kleiner gelber Falter mal hierhin, mal dorthin und folgte seinem geheimnisvollen, chaotischen Zickzackkurs auf der Suche nach Nektar und Unergründlichem.


    Nachdenklich wischte sich der Bauer den Schweiß von der Stirn und trank einige Schlucke lauwarmes Wasser aus der Plastikflasche. Diese Wiese würde er heute wohl nicht mehr mähen. Seine Blicke schweiften in die Ferne. Die See hinterm Deich war mittlerweile mindestens 30°C warm, und er hörte sonnenbadende Feriengäste rätseln, ob sie sich in dieser lauen Brühe oder doch lieber unter der Hoteldusche erfrischen wollten. Dann erfassten seine Augen eine winzige Wolke in der Ferne, und er dachte: „Es wird Zeit.“


    Weit hinterm Horizont war der Große Huracán erwacht, der Herrscher des Windes, des Sturmes und des Feuers. Ihn, der in den treibenden Nebeln über den Tiefen der Wasserfluten wohnte, hatte Sehnsucht nach dem Land erfasst, das er geschaffen hatte. Er erhob sich und begann träge seinen uralten Tanz. Im gesamten ihn umgebenden Rund verdampfte Wasser, stieg empor und machte den Weg frei für weiteres Nass, das nachgesaugt wurde, um gleichermaßen emporzusteigen.


    So bildete der Riese seinen gewaltigen Körper und versetzte ihn in Drehung. An seinen Rändern krönten sich Sturmwellen mit Gischt. Peitschender Regen schmückte die wirbelnde Spirale wie Fransen einen Teppich. Blitze durchzogen die tosenden Elemente gleißend wie Diamantspeere. All diese Gewalten gaben Huracán seine urtümliche Stimme, die in ihren Höhen vom Gellen eines schrillen, gegenläufigen Diskants durchdrungen war. Das Tohuwabohu kreiste immer schneller um die Mitte seines Tänzers, in der vollkommene Stille herrschte.


    Dann war die Zeit gekommen. Huracán tanzte seinen Weg über die Weiten des Meeres, immer dem Land entgegen.


    Der Bauer kletterte auf seinen Trecker und fuhr heim. Er musste noch überprüfen, ob das Vieh wohlbehalten den Schutz der Ställe erreicht hatte.
    Lange lag die Wiese wieder verlassen in der Hitze des fortschreitenden Tages, bis eine plötzliche Böe über sie hinwegfegte. Der kleine gelbe Falter taumelte und bemühte sich, mit Hilfe eines kräftigeren Flügelschlages seinen ursprünglichen Weg wieder aufzunehmen.


    Leuchtend und zerbrechlich wirbelte er die Luft ein Quäntchen gegen den Uhrzeigersinn und änderte so den Weg der Böe sehr geringfügig. Die Weichen ihrer Flugbahn verstellten sich und führten sie in einem langen Bogen wieder meerwärts. Heftig prallte sie auf einen kräftigeren Sturmausläufer, der ihr hatte folgen wollen. Hierdurch änderten sich in Sekundenschnelle auch die Wegweiser des fließenden Tanzparketts, auf dem Huracán sich drehte. In sicherer Entfernung folgte er bis zum Abend harmlos dem Küstenverlauf, um sich dann wieder in den Weiten des Ozeans zu verlieren. Statt Zerstörung hinterließ er Kühle und erfrischenden Regen.


    Als die ersten Tropfen fielen, wusch die Natur sich und ihre Geschöpfe sauber und gab ihnen zu trinken. Der kleine gelbe Falter hatte einen trockenen Raum unter Blättern gefunden und saugte frisches Nass von ihren Rändern. Beim nächsten Sonnenschein würde er wieder weiterfliegen.

  • von fantasy



    Vor mir, hinter mir, neben mir, überall laufen die Leute vorbei. Ich höre ihre Schritte, das Hupen der Autos auf der Straße, das Vorbeirollen der Straßenbahn.
    Einige haben es eilig und rennen fast. Sie haben einen Termin. Andere bleiben von Zeit zu Zeit vor den Geschäften stehen und bewundern die schönen Auslagen. Wieder andere stehen an der Ampel und warten auf das grüne Männchen.



    Ich schließe die Augen. Das Ganze erinnert mich an einen Tag vor langer Zeit.
    Die Sonne hat geschienen. Sie spiegelte sich im Wasser des Sees an dem ich mit meiner Freundin spielte. Wir kletterten auf Bäume, spielten verstecken und tollten durch die Gegend.
    Es war so warm, dass wir im See badeten. Wir spritzten uns gegenseitig nass und tauchten uns unter.
    Dann legten wir uns auf eine Decke und ließen uns von der Sonne trocknen.
    Sie kitzelte mich. Ich kitzelte sie zurück. Wir sprangen auf und jagten uns um die Bäume.
    Ich rannte so schnell ich konnte und hatte das Gefühl zu fliegen. Meine Füße berührten kaum den Boden, so schnell konnte ich rennen. Immer weiter die Felder entlang mit meiner Freundin neben mir.
    So frei.



    Ein Auto hupt und holt mich zurück in die Realität. Eine Stimme ertönt neben mir: „Bin wieder da. Wir können weiter.“
    Ein Ruck geht durch meinen Rollstuhl. Meine Freundin schiebt mich weiter über die Straße und durch die laufende Menge.

  • von rienchen



    Sein.
    Hören. Schmecken. Bewegen. Fühlen. Atmen. Schreien. Riechen. Sehen. Lächeln.
    Denken. Weinen. Greifen. Kriechen. Sitzen. Stehen. Laufen.
    Hinfallen. Aufstehen. Spielen. Lernen. Sprechen. Erforschen. Verstehen. Versuchen.
    Liebe. Geborgenheit. Freude. Wärme. Willen.


    Suchen. Abtasten. Austeilen. Einstecken. Investieren. Verschwenden. Träumen. Begraben.
    Verlangen. Versprechen. Erwarten. Erkennen. Verfluchen. Enttäuschen. Glauben. Spekulieren.
    Hinterfragen. Lügen. Vergiften. Missverstehen. Treten. Wüten. Zertrampeln. Verletzen. Wollen.
    Liebe. Verwirrung. Hass. Spaß. Lust. Euphorie. Kälte. Visionen. Zorn. Neid. Eifersucht. Stolz. Tod.


    Verlieben. Verzaubern. Duchdringen. Eintauchen. Verweben. Irren. Entwirren. Streiten. Verlassen.
    Verlassen sein. Kämpfen. Gewinnen. Verlieren. Lieben. Vergehen. Verklären. Verzerren. Verzweifeln. Hoffen. Bangen. Zerbrechen. Hassen. Verzeihen. Lachen. Widerstehen. Festziehen. Entziehen. Wachsen. Finden. Gefunden werden. Berühren. Zusammenhalten. Schenken. Beschenkt werden. Erfahren. Erleben. Weitergeben. Geben. Können.
    Liebe. Schmerz. Leere. Leidenschaft. Hingabe. Verlust. Angst. Sehnsucht. Glück. Erfüllung.
    Tod. Tod. Tod.

    Verpassen. Registrieren. Aufwachen. Festhalten. Aufgeben. Erinnern. Vergessen.
    Liebe. Trauer. Einsamkeit. Resignation. Ruhe. Zufriedenheit. Wirklichkeit. Tod.


    Kapitulieren. Loslassen. Müssen. Wissen. Abschließen. Spiegeln. Sterben.
    Frieden.

  • von Dori



    Hi, ich bin Jimmy.
    Eigentlich bin ich ganz normal. Aber irgendwie… auch nicht.
    Ja, jobmäßig läuft alles ganz gut, ich erziele die gleichen Resultate wie die anderen, arbeite genauso lange, naja, eigentlich bin ich sogar ein Workaholic, bin immer am wühlen. Wie sagt man so schön? „24/7“. Trotzdem werde ich nie dafür belohnt. Man kennt das ja. Im Gegenteil, in meinem Job bin ich für alle anderen nur der Arsch. Im Sommer geht’s noch, aber im Winter ist die Hölle los.
    Naja, privat ist das nochmal anders. Ich komme aus einer Großfamilie, die stetig weiter wächst. Immer gibt’s hier überall Nachwuchs. Süß sind sie ja schon, wenn sie ihre kleinen Gliedmaßen nach mir ausstrecken. Da packt mich manchmal die Sehnsucht. Irgendwie bin ich der einzige in der Familie, der aus der Art schlägt. Es ist nicht so, dass ich nicht versucht hätte, mich zu vermehren. Aber das passende Gegenstück ließ bisher einfach noch auf sich warten.
    Wenn ich dann doch mal Feierabend habe, gehe ich meistens mit meinen Kumpels weg. Bisschen was trinken, quatschen, … Wenn irgendwo ein scharfes Geschoss auftaucht, mit schön vielen Kurven, und ich genug intus habe, wage ich auch mal einen Versuch. Immer mit der Hoffnung, wenigstens einmal „andocken“ zu dürfen. Leider sind die anderen immer schneller.
    Und wenn es dann spät wird, verabschieden wir uns vom Wirt (der in letzter Zeit irgendwie immer apathischer wird. Wer weiß, was der sich einpfeift!) und ziehen weiter.
    Manchmal frage ich mich dann, ob mein Leben überhaupt einen Sinn hat, ob ich etwas bewirke in der Welt, ob man mich überhaupt wahrnimmt. Dabei bin ich so interessant! Ich bin gesellig, habe Interesse an Kultur, … Aber ich bin wohl doch nur Einer von vielen. Ein kleiner Funke Hoffnung in mir hat trotzdem immer überlebt. Irgendwer wird mich eines Tages ansehen und sein Interesse an mir wird geweckt werden. Da bin ich mir sicher.


    Jimmy und seine Freunde starben eines Tages ganz plötzlich, als das Skalpell mit einem metallischen PLING! in die Schale mit der Desinfektionslösung fiel.

  • von Sinela



    Mit dem Hund spazieren gehen – Kleinigkeit
    mit dem Fahrrad über die Felder fahren – Kleinigkeit
    im Urlaub wandern gehen – Kleinigkeit



    Die Mineralwasserflasche aufmachen – Kleinigkeit
    sich selbst waschen und anziehen – Kleinigkeit
    am Computer und von Hand schreiben – Kleinigkeit



    Die gewaschenen Vorhänge aufhängen – Kleinigkeit
    die defekte Glühbirne auswechseln – Kleinigkeit
    die Zimmerpflanzen umtopfen – Kleinigkeit



    Im Sommer im Freibad schwimmen – Kleinigkeit
    im Winter Ski und Schlitten fahren - Kleinigkeit
    über den Weihnachtsmarkt schlendern – Kleinigkeit



    Mit einem Mann schlafen – Kleinigkeit
    mit den Kindern Fussball spielen – Kleinigkeit
    in die Stadt einkaufen gehen – Kleinigkeit



    Ein Ölbild malen – Kleinigkeit
    stricken und häkeln – Kleinigkeit
    kochen und backen – Kleinigkeit



    Treppen laufen – Kleinigkeit
    arbeiten gehen – Kleinigkeit
    die Wohnung putzen – Kleinigkeit



    An Multipler Sklerose erkranken,
    an Krücken gehen, im Rollstuhl sitzen,
    gelähmt sein - Kleinigkeit?

  • von Inkslinger



    Wieso starren mich alle an? Habe ich was von meinem Frühstück im Gesicht? Nein, kann nicht sein. Hatte heute ja nur einen O-Saft, alles okay. Die Tussi da drüben guckt echt böse. Sollte sie nicht, das macht Falten. Ich winke mal, vielleicht schaut sie dann freundlicher. Hmm, diesen Finger hatte ich jetzt nicht erwartet. Wie unfreundlich! Naja egal, ich werde sowieso lange nicht mehr herkommen.
    Komisch, ich habe noch gar nicht bemerkt, wie viele Schlaglöcher es auf unserer Straße gibt. Als mein Schatz und ich vor 18 Jahren her gezogen sind war alles noch neu. Hoffentlich fahren die Kinder vorsichtig mit ihren Rädern hier lang. Muss mal bei der Stadt anrufen, nicht dass sich noch jemand verletzt oder sein Auto demoliert.
    Mein Schatz sagt immer: „Eine Mücke im Auge kann auch einen Elefanten zum Weinen bringen.“ Und das stimmt. Kleinigkeiten können sehr wehtun. So wie vorgestern, als er mir sagte, ich wäre eine schlechte Mutter. Das bin ich nicht! Ich habe mich immer gut um meine zwei Augensternchen gekümmert. 9 Jahre gab es keine Klagen. Nun, der Kleine beschwert sich noch nicht, kann ja grade erst laufen. Aber auch mit der Großen hab ich keine Probleme.
    Nur mit meinem Schatz manchmal, wie in jeder guten Ehe. Obwohl wir nicht verheiratet sind. 'Wilde Ehe', seit fast zwei Jahrzehnten. Er sagt immer: „Wenn ich noch was Besseres als dich finde will ich nicht angekettet sein.“ Manche Frauen stehen nicht auf geschiedene Männer, kann seine Sorgen schon nachvollziehen.
    Ich bin manchmal nicht zu gebrauchen. Gestern habe ich ihm das blaue T-Shirt zum Anziehen rausgelegt anstatt das schwarze, das er haben wollte! Die Ausrede, dass ich gerade den Kleinen gestillt, die Große für die Schule fertig gemacht und gleichzeitig noch geputzt habe, war wirklich etwas dürftig. Er war zu recht wütend auf mich, und dass er mir dann aus Versehen den Arm verdreht hat war auch meine eigene Schuld.
    Aber warum er heute Morgen böse mit mir war kann ich nicht verstehen. Ich habe mich bemüht, seine Spiegeleier so zu braten, wie er sie gerne hat. Von beiden Seiten angebraten, aber kein kaputtes Eigelb und nicht braun am Rand. Was dabei schief gegangen ist kann ich immer noch nicht sagen, aber seinem Geschrei nach zu urteilen waren die Eier wirklich ungenießbar. Als er dann meine Hand auf die heiße Herdplatte gedrückt hat hab ich vor lauter Schreck das Brotmesser genommen und ihm in den Hals gestoßen. Danach hat er nichts mehr gesagt.
    Wieso schubst der Polizist mich denn so rum? Ich würde ja alleine in sein Auto steigen, wenn er mich nur ließe! Wie man an einem schönen Tag so fies sein kann…
    Ich hoffe sie reinigen die Küche bevor meine Große nach Hause kommt. Mich haben sie eben dabei unterbrochen und ich will nicht, dass sie den Dreck wegmachen muss. Sie soll sich lieber um die Schule kümmern, einen Mann, dem sie hinterher putzt, kann sie sich noch früh genug suchen. Hoffentlich findet sie einen, der so toll ist wie ihr Vater.

  • von Suzann



    Franziska lebte in einer großen Familie. Sie hatte zwei und ihr Mann Michael drei Geschwister. Alle waren verheiratet und hatten Kinder. Da sie ein Heimat verbundenes Völkchen waren, hatten es sämtliche Brüder und Schwestern über die Jahre erreicht, in oder in der Nähe ihrer Geburtsstadt eine Arbeitstelle zu finden und so lebten sie alle im gleichen Ort. Auch die meisten der zahlreichen Onkel und Tanten lebten in der Nähe. Wie schon die Eltern und die Schwiegereltern pflegte die ganze Familie traditionell einen engen Kontakt.


    Sämtliche Familienfeste glichen daher eher einem Massenauflauf, als einem stimmungsvollen Beisammensein. Zugeparkte Straßen. Überfüllte Räume. Ohrenbetäubender Lärm. Aufwendige Vorbereitungen. Das machte diese Anlässe anstrengend und nervenaufreibend. Jemanden aus der Familie nicht einzuladen kam natürlich nicht in Frage. Diejenigen könnten sich ausgeschlossen fühlen und es könnte Streit aufkommen. Die Flut der Geschenke und Besucher bei den diversen Festivitäten glich manchmal einer Lawine, die die betroffenen Familienmitglieder regelrecht unter sich begrub. Ganz zu schweigen von dem finanziellen und zeitlichen Aufwand, der betrieben werden musste.


    „So kann das nicht weitergehen“, dachte sich Franziska an einem Adventssonntag, als sie zehn der siebzehn Nikoläuse ihrer Kinder einschmolz, um sie zu Plätzchen und Kuchen zu verarbeiten. Diese Masse an Geschenken und Süßigkeiten war ungesund und pädagogisch höchst fragwürdig. Und so wurde am zweiten Weihnachtsfeiertag, als sich die Familienmitglieder zum Kaffee trafen, nach lautstark geführter Diskussion beschlossen, die Schenkerei einzustellen. Außerdem sollten nur noch die direkten Verwandten beim jeweiligen Geburtstagskind ihre Aufwartung machen. Runde Jubiläen wurden davon natürlich ausgenommen.


    Franziska war die erste, die nach diesem Beschluss Geburtstag hatte. Während sie entspannt letzte Hand an ihre Geburtstagstorte legte, freute sie sich auf die gemütliche Kaffeerunde. Julia und Lukas waren in der Ganztagsschule. Die Glückwünsche von Michael hatte sie per Telefon erhalten, da er noch zwei Tage auf einer Geschäftsreise in Italien sein würde. Sein Kuss und seine Umarmung vermisste sie heute besonders. Nach einem Mittagsimbiss rief ihr Vater an und gratulierte. Mutter hätte eine schlimme Migräne und er wolle sie nicht alleine zu Hause lassen. Dann entschuldigte sich ihre Schwester, weil sie mit der Tochter wegen akuter Schmerzen zum Zahnarzt müsse. Peter, ihr Bruder würde sowieso erst nach der Arbeit vorbeikommen. Da saß sie nun alleine an dem liebevoll gedeckten Tisch und die Sahne der Schwarzwälderkirschtorte schmolz vor sich hin.


    Im Laufe des Nachmittages riefen Freunde an, aber keiner schaute vorbei. Dazu war in der Vergangenheit nie die Möglichkeit gewesen, da wegen des Verwandtenauflaufs kein Platz gewesen war, um Freunde einzuladen. Und so setzte sich Franziska auf die Wohnzimmercouch und verbrachte einen ruhigen Geburtstag mit Lesen und Grübeln. Gegen fünf Uhr hörte sie die Türglocke. Das musste Peter sein. Franziska öffnete die dunkle Holztüre und trat unwillkürlich einen Schritt zurück, als ihr ein vielstimmiges „Zum Geburtstag viel Glück…“ entgegenschallte. Alle waren da und hielten ihr grinsend bunt verpackte Geschenke entgegen. Lothar und Marianne, ihre Schwiegereltern, traten als erstes auf sie zu und umarmten sie fest. Marianne reichte ihr das Päckchen. „Nur eine Kleinigkeit“, sagte sie augenzwinkernd.

  • von FourRoses



    "Es sind die Kleinigkeiten," sagte sie. "Es sind immer die Kleinigkeiten. Am Anfang sieht es so aus, als würde man perfekt zusammenpassen. Für alle Außenstehenden sieht es so aus und jeder sagt es dir, bis du es irgendwann selbst glaubst."


    Sie nahm einen Pullover aus dem Schrank, grünes Cashmere. Leo hatte ihn ihr geschenkt. "Aber eigentlich ...," fuhr sie fort und legte den Pullover zu den anderen Sachen in den Koffer, "... eigentlich tut man das gar nicht. Nach außen mag es so scheinen. Aber erst wenn man unter die Oberfläche blickt, erst dann sieht man sie. Die Kleinigkeiten."


    "Weißt du noch? Unser erstes Date? Du hast mich zum Griechen ausgeführt. Zum Griechen. Dabei mag ich gar keinen Knoblauch. Aber selbst wenn du mich vorher gefragt hättest, ob ich zum Griechen gehen möchte ... selbst dann hätte es nichts geändert. Daran, dass ich keinen Knoblauch mag und du ihn liebst. Das meine ich mit Kleinigkeiten."


    Als nächstes landeten ihre Schuhe in dem Koffer, ehe sie den Deckel zuwarf. Der Reißverschluss klemmte an der rechten Seite, also ruckte und zerrte sie daran, bis er zuglitt. "Die Kleinigkeiten sind wie diese Stelle im Reißverschluss. Meistens unauffällig und nicht direkt zu erkennen. Aber wenn man den Koffer dann mal öffnen oder schließen will ... dann sind sie extrem störend, so störend, dass es einen fast zur Weißglut treibt."


    Auf dem Bett stand ihre Handtasche, schwarz, schlicht und teuer. Sie kramte darin, bis sie ihr Kosmetiktäschchen gefunden hatte. Damit ging sie ins angrenzende Bad, kämmte sich die blonden Haare. Dann hielt sie sich die Hand vor den Mund und hauchte hinein. Nein, man roch nichts mehr von dem Knoblauch von gestern Abend. Zum Glück. Sie griff nach ihrem Lippenstift, um das Rot nachzuziehen.


    Feiern sie heute ihren Hochzeitstag?, hatte die junge Kellnerin sie gefragt. Sie sind so ein schönes Paar.


    Nein, wir haben uns heute erst kennengelernt, hatte Leo geantwortet. Das ist unser erstes Date.


    "Unser erstes Date. Und unser letztes."


    Eigentlich war Leo gar nicht ihr Typ. Zu alt, zu bieder. Aber er trug so einen schönen Cashmere-Pullover. Dunkles grün, wie Tannennadeln. Nur deswegen hatte sie ihn angesprochen. Und es hatte sich gelohnt: Der Pullover war ihr Geschenk.


    Sie nahm ihre Handtasche und packte die Schminksachen zurück. Dabei bemerkte sie den glänzenden Fleck an der Seite, der sich, rot auf schwarz, kaum abhob und wischte ihn mit dem Zeigefinger auf. Der dunkle Tropfen ruhte einen Moment auf ihrer Fingerkuppe, doch ehe er hinunter tropfen konnte, leckte sie ihn mit der Zunge ab.


    "Dein Blut schmeckt gut," sagte sie zu Leos reglosem Körper auf dem Hotelbett. "Wäre ich ein Vampir, wärst du mein Leibgericht." Das Messer lag noch neben ihm auf dem blutigen Laken. Dort sollte es auch bleiben. Wenn ihn das Zimmermädchen fand, würde sie schon über alle Berge sein.


    Sie nahm ihren Koffer, ihre Handtasche und verließ das Zimmer.


    Leo blieb allein zurück.