Kurzbeschreibung:
Dhanavati war fünf, als ihre Mutter bei Visby von den Klippen sprang. Danach brach alles auseinander. Die spirituelle Kommune, in der sie gelebt hatten, löste sich auf, Eglund, der Kopf der Gruppe, wurde wegen Drogenhandels verhaftet. Sogar Adrian, der sich stets liebevoll um Dhanavati gekümmert hatte, ließ sie allein. Jetzt, über zwanzig Jahre später, will die junge Mathematikerin endlich Klarheit. Warum hat ihre Mutter Selbstmord begangen? Und wer ist ihr Vater? Adrian, der inzwischen mit Annika zusammenlebt? Oder der charismatische Guru Bengt Eglund?
Eine Spurensuche beginnt - und nimmt schnell eine bedrohliche Wendung, als sich herausstellt, dass Eglund inzwischen im internationalen Waffen¬geschäft tätig ist. Zwei Unbekannte heften sich an Dhanavatis Fersen, sie wird beschuldigt, Forschungsgeheimnisse ihres Instituts verraten zu haben. Plötzlich ist niemand mehr auf Dhanavatis Seite, und ihre Suche gerät zur Flucht.
„Visby“ ist ein Roman darüber, dass jeder Mensch einen Anker braucht, eine innere Gewissheit, in diese Welt hineinzugehören - und darüber, wie verletzlich und manipulierbar uns diese Sehnsucht macht.
Zur Autorin:
Barbara Slawig, 1956 in Braunschweig geboren, lebt in Berlin. Sie hat Biologie studiert und eine Doktorarbeit über Meningitis-Epidemien in Afrika geschrieben, bevor sie der Wissenschaft den Rücken kehrte. Seit 1990 übersetzt sie englischsprachige Belletristik. Sie schreibt Erzählungen und Romane, häufig mit phantastischem Einschlag. 2003 erschien „Die lebenden Steine“ von Jargus im Argument-Verlag; unter dem Pseudonym Carla Rot erschienen 2009 und 2010 Kriminalromane bei Droste. Für ihr literarisches Schaffen erhielt sie u.a. ein Arbeitsstipendium des Berliner Senats.
Meine Meinung:
Ich öffnete den Mund, um sie anzuschreien – und da begriff ich, was ihre Fragen bedeuteten.
„Soll das heißen, du weißt nicht, wo er ist?“
Danach war es still. Sehr lange. Ich kann diese Stille immer noch hören, ich muss nur die Augen schließen, schon ist sie da. Der Wasserhahn tropft. Feuchtigkeit zischelt aus dem Holz im Ofen.
Zwanzig Jahre lang hat Annika ihre Angst begraben. Die Angst, dass ihr Lebensgefährte Adrian sie und die gemeinsame Tochter Nina verlassen wird – für Dhanavati, die Tochter von Gisela, seiner großen Liebe. Und jetzt ist genau das passiert: Adrian ist verschwunden. Ohne Abschied, ohne eine Nachricht. Seit drei Monaten hat Annika nichts mehr von ihm gehört, und als nun auch noch Dhanavati bei ihr auftaucht und nach ihm fragt, entschließt sich Annika, nicht länger auf Adrian zu warten. Sondern ihn zu suchen.
Auch Dhanavati ist auf der Suche. Sie möchte herausfinden, warum ihre Mutter bei Visby von den Klippen gesprungen ist. Und sie möchte endlich wissen, wer ihr Vater ist. Ist es Adrian? Oder Bengt Eglund? Der Kopf der Kommune, der damals wegen Drogenhandels verhaftet wurde? Ohne es zu ahnen, bringt Dhanavati sich durch ihre Nachforschungen in große Gefahr – denn Eglund ist inzwischen im internationalen Waffenhandel tätig.
Und dann ist da noch Jens Nilsson – Dipl.-Ing. Institut für Angewandte Informatik. Köln. Das steht auf seiner Visitenkarte, die er Annika bei ihrem ersten Treffen überreicht. Und auch er ist auf der Suche: Er will Dhanavat finden, die er im Verdacht hat, geheime Forschungsergebnisse ihres Instituts verraten zu haben. Aber wer ist dieser Jens NIlsson wirklich? Und für wen arbeitet er?
Mehr möchte ich vom Inhalt nicht verraten, denn „Visby“ entfaltet von den ersten Seiten an einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann. Barbara Slawig erzählt in ihrem beeindruckenden Roman ein intensives Beziehungsdrama. Und die Präzision, mit der sie das zwischenmenschliche Geflecht aus Lügen und (Halb-)Wahrheiten in einer sehr spannenden Handlung seziert, hat mich ungemein fasziniert und begeistert. Was ist die Wahrheit? Und welchen Preis ist man dafür zu zahlen bereit? Das Ende von "Visby" hat mich regelrecht erschüttert, gerade weil die „endgültige“ Wahrheit ans Licht kommt, aber vor allem, weil bereits in diesem Augenblick auch schon die nächste Lüge geboren wird. Und konsequent wie die Autorin ist, bleibt der Leser mit der Frage zurück, die lange in ihm nachhallt: Was hätte ich gemacht? Was wäre die richtige Entscheidung gewesen? Das Verschweigen der Wahrheit oder das Aussprechen?
Oder wie es der Autor Andrea Bajani formuliert hat: „Am Ende prägt das Ungesagte, das Geheimgehaltene die Beziehungen von Paaren, Familien, Generationen stärker als die Dinge, die ans Licht kommen.“ Ein Satz, der perfekt auf das Leben der jungen Mathematikerin Dhanavati zutrifft. Was für ein Mensch wäre ich heute, könnte ich heute sein, wenn ich um das Gestern wüsste? Darum geht es in „Visby“. Und eigentlich vereint dieser Roman vier Geschichten in sich: die von Dhanavati, die von Annika, die von Jens Nilsson - und die des Lesers, der aus diesen drei Perspektiven eine eigene Wahrheit erhält.
Ich kann diesen spannenden und mit einer wunderschönen Sprache geschriebenen Roman nur wärmstens empfehlen.
Dies ist kein Ort, an dem man jemanden findet. Hier gehen die Menschen eher verloren, sie treten hinter einen Felsen und sind nicht mehr da. Man schlendert ein paar Schritte ohne sie weiter, bleibt stehen und schaut aufs Meer, und man hört nur noch das unrhythmische Klatschen der Wellen und das Rascheln und Pfeifen und Sausen des Windes, eine rauschende Stille, die Ohren und Gedanken betäubt: bis man aufschrickt, weil man schon zu lange allein ist, und man kehrt um und ruft und schaut hinter den Felsen, hinter dem der andere verschwunden ist, aber dort sind nur weitere Felsen. Und Wind, und ein Möwenschrei, und Stille.
Liebe Grüße
Lille
Edit: Rechtschreibfehler verbessert.