Titel der amerikanischen Originalausgabe: "Nothing to envy: Real lives in North Korea
Zum Buch [offizielle irreführende Kurzbeschreibung]
Liebe in Zeiten der Diktatur: Vor dem Kino in Chongjin begegnen sich zwei junge Menschen. Bald schon entspinnt sich eine Beziehung zwischen ihnen, aber die gnadenlosen Lebensverhältnisse in Nordkorea lassen kaum Leidenschaft zu. Für das Volk hält das Regime nur härteste Entbehrungen bereit – und strikte Denkverbote. Der größte Wunsch: dem Schattenreich des »geliebten Führers« Kim Jong Il zu entfliehen.
Über die Autorin
Barbara Demick ist eine renommierte amerikanische Journalistin. Ab 1986 war sie für The Philadephia Inquirer tätig, u.a. ab 1997 als Korrespondentin im Nahen Osten. Ab 2001 war sie für die Los Angeles Times Korrespondentin in Seoul; derzeit ist sie Korrespondentin in Peking. "Die Kinogänger von Chongjin" wurde 2010 mit dem Samuel Johnson Prize, Non-Fiction ausgezeichnet
Meine Meinung
Ich habe die englischsprachige Ausgabe gelesen und war jetzt gerade etwas schockiert als ich den selten dämlichen deutschen Titel und die Kurzbeschreibung zur deutschen Ausgabe gelesen habe, die ja suggeriert, dass es sich bei diesem Buch vorwiegend um eine Liebesgeschichte handelt. Die beiden Personen kommen tatsächlich im Buch vor und auch ihre über Jahre andauernde zarte Beziehung, jedoch ist dieses Buch sicher nicht schwerpunktmäßig als Liebesgeschichte gedacht.
Die Autorin wollte ein Buch darüber schreiben, wie das Alltagsleben der Menschen in Nordkorea aussieht und was sie wirklich denken, was gar nicht so einfach ist, da man ja nicht einfach einreisen und die Leute fragen kann. Und selbst wenn man es könnte, würden sie aus Angst vor Repressalien wohl kaum die Wahrheit sagen. Bestenfalls kommt man nach Pjöngjang und darf dort in ständiger Begleitung eines "Minders" (Aufpassers) ein striktes Kultur-Programm abspulen (das in Guy Delisles "Pjöngjang" ganz gut dargestellt ist). Unbeaufsichtigte Kontakte zur Bevölkerung sind praktisch nicht möglich.
Die Autorin hat also neben Reisen nach Nordkorea über Jahre hinweg ca. 100 Dissidenten interviewed, von denen ca. die Hälfte aus Chongjin stammt, einer Industriestadt an der Ostküste Nordkoreas, die von der großen Hungersnot Mitte der 1990er Jahre besonders stark betroffen war. Chongjin is die drittgrößte Stadt Nordkoreas und ist für Ausländer gesperrt. Die Autorin wollte zum einen nicht über die "Vorzeigestadt" Pjöngjang berichten, da diese und auch der Lebensstandard ihrer Einwohner nicht typisch für das Land sind, zum anderen wollte sie, dadurch dass sie sich auf viele Interviews von Menschen aus derselben Stadt beruft, eine gewisse Kreuzvalidierung der erzählten Geschichten erreichen. Denn wer weiss schon, was in diesem abgeschotteten Land wirklich wahr ist.
Im Buch verfolgen wir die Geschichte von sechs Nordkoreanern, die alle irgendwann aus Nordkorea geflohen sind und heute in Südkorea leben. Diese kommen aus unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten, so dass ein guter Querschnitt durch die Gesellschaft erreicht wird, die kastenartige Züge trägt. Da gibt es das Mädchen aus einer Familie, die aufgrund der südkoreanischen Wurzeln keine Chance auf gesellschaftlichen Austieg hat, dann eine Ärztin, die mehr oder weniger hilflos zuguckt, wie ihr die Patienen wegsterben, einen Straßenjungen, der aus Hunger kriminell wird und im Arbeitslager landet, eine linientreue Genossin, die ihre Geschäftstüchtigkeit entdeckt, sowie ihre rebellische Tochter und einen jungen Musterschüler aus gutem Hause, der es an die Universität in Pjöngjang schafft und dort lernt, eigenständig zu denken. Anhand der Geschichten der sechs Menschen werden verschiedene Themenbereiche angesprochen: Der Personenkult um Kim il-sung und Kim Jong-il, politische Willkür, ständige Überwachung, Propagandainszinierungen, Mangel, Misswirtschaft, Hunger, Armut, Not. Im letzten Drittel des Buches wird geschildert, wie die Menschen in Südkorea Fuß fassen, was sich auch als nicht so einfach herausstellt.
Das Leben der Menschen wurde recht anschaulich geschildert, und es ist der Autorin auch gelungen die Einzelschicksale zu einem größeren Bild zu verweben. Insbesondere die verzweifelte Suche der Menschen nach Essbarem hat sich bei mir ins Gedächtnis eingebrannt. Auch gut beschrieben fand ich, wie die sechs Menschen langsam Zweifel hegen. Mich hatte insbesondere auch interessiert, ob und wie man in einem so abgeschotteten Land, dessen Umgang mit seinen Bewohnern an "1984" erinnert, eigentlich merkt, dass etwas nicht in Ordnung ist. Was mir jedoch gefehlt hat, war ein tieferer Einblick in die politische Entwicklung des Landes. Die willkürliche Aufteilung des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Aufteilung Koreas in eine US-amerikanische und eine sowjetische Besatzungszone, wird zwar thematisiert, die Gründe für die weitere politische Entwicklung werden aber nur am Rande erwähnt und nicht weiter vertieft.
Die Stärke des Buches liegt eher in der Vermittlung eines lebendigen Bildes einiger Zeitzeugen, wobei man natürlich im Hinterkopf behalten muss, dass es sich hier um eine sehr selektive Stichprobe handelt. Die Autorin sagt selbst im Buch, dass die Menschen die die Hungersnot überlebt haben und insbesondere auch die, die letztendlich fliehen, nicht repräsentativ sind für das ganze Land.
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