Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims - Annabel Pitcher

  • Inhalt:


    Jamie ist gerade zehn Jahre alt geworden, aber sein Leben ist alles andere als kinderleicht: Nachdem seine Schwester vor einigen Jahren bei einem Terroranschlag ums Leben gekommen ist, ist seine Familie zerbrochen: Seine Eltern haben sich getrennt und Jamie lebt mit seiner anderen Schwester Jas und seinem Vater alleine. Doch dieser scheint sich kaum noch daran zu erinnern, dass er noch zwei weitere Kinder hat und ertränkt seine Trauer in Alkohol.
    Und auch in der neuen Schule wird Jamie von den Mitschülern nur geärgert. Die einzige, die zu ihm hält, ist Sunya. Wäre Sunya nur nicht Muslima, denn wie sagt sein Vater immer: „Muslime haben deine Schwester getötet!“


    Meine Meinung:


    Manchmal (ganz selten) hat man das Glück, Bücher von fast unschätzbarem Wert in der Hand zu halten. Sie sind so wertvoll, weil sie entweder besonders spannend sind, eine besonders interessante Geschichte erzählen oder – wie in diesem Buch – einfach unheimlich bewegend sind und den Leser auf eine ganz besondere Art und Weise berühren.


    "Ich denke darüber nach, ob Mum ihre Zugfahrkarte schon gekauft hat. [...] Bestimmt kommt sie, bevor ich in die neue Schule gehe, weil sie mir noch Viel Glück und Sei Brav und diese ganzen Sachen sagen will, die Mütter eben so sagen. Und bestimmt will sie mich unbedingt in meinem neuen T-Shirt sehen. Ich werde es nicht mehr ausziehen, bis sie hier ist, sicherheitshalber. Ich werde es auch nachts anlassen, weil Superhelden nie Feierabend haben und Mum vielleicht wegen einer Zugverspätung oder einem Verkehrsstau erst abends ankommt. Vielleicht noch nicht heute, morgen oder übermorgen, aber wenn Mum schreibt Ganz bald, dann meint sie das auch so. Und dann will ich vorbereitet sein." (S. 30)


    Schon auf den ersten Seiten war mir klar, dass „Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims“ ein solches Buch sein würde. Annabell Pitcher verleiht ihrem Ich-Erzähler Jamie eine unglaublich intensive Stimme, die mich von den ersten Sätzen an mitten in die Geschichte gesogen hat. Das Schicksal, was sie ihm zugedacht hat, ist unglaublich schwer, doch durch die Augen eines Zehnjährigen bekommt man als Leser einen ganz neuen Blickwinkel. So schwankte ich beim Lesen zwischen einem leisen Kichern, Tränen in den Augen und einem mitfühlenden Seufzen.


    „Zuerst hatten wir Mathe, dann Geografie. Ich schaute kein einziges Mal zu Sunya rüber. Ich war ganz wirr im Kopf, und es kam mir vor, als hätte ich Dad verraten. Obwohl ich weiß Haut habe, ohne ausländischen Akzent spreche und finde, dass man Schwestern anderer Menschen nicht in die Luft sprengen darf, war Sunya irgendwie auf die Idee gekommen, mir muslimischen Schmuck zu schenken.“ (S. 38)


    „Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims“ ist das traurig-anrührende Portrait einer Familie, die fast zerbrochen ist; und doch ist es voller Hoffnung. Es ist ein Buch, das ich mit Tränen in den Augen zugeklappt habe. 10 von 10 Sternen!


    Das Buch wird bei Goldmann nicht gesondert als Jugendbuch veröffentlich - zumindest soweit ich weiß -, ist aber im englischen ursprünglich in einem Kinderbuchverlag veröffentlicht worden. Ich denke, man kann es sowohl als Jugendlicher als auch als Erwachsener lesen.

  • KLAPPENTEXT:
    Der zehnjährige Jamie hatte eine Schwester namens Rose, aber wirklich erinnern kann er sich nicht mehr an sie. Seit sie vor fünf Jahren durch einen terroristischen Anschlag in London ums Leben kam, steht ihre Asche in einer Urne auf dem Kaminsims. Und seit diesem Tag ist seine Familie nicht mehr dieselbe. Sein Vater versinkt in Trauer, trinkt, um nicht daran denken zu müssen, und vergisst dabei allzu oft, dass er noch einen Sohn hat, der lebt. Seine Mutter hat das irgendwann nicht mehr ertragen und ihn verlassen, um jetzt weit weg mit einem neuem Mann zusammenzuleben. Nur seine Schwester Jasmine kümmert sich um Jamie. Aber auch sie hat so ihre Probleme und kann die fehlende Aufmerksamkeit der Eltern nicht ersetzen. Jamie versteht nicht, warum das alles passieren musste und was er tun kann, damit alles wieder gut wird. Er trauert um seine Familie, die er verloren hat. Als er dann aber in der Schule auf Sunya trifft, ändert sich plötzlich alles ...


    AUTORIN:
    Annabel Pitcher studierte an der Uni von Oxford englische Literatur. Schon immer wollte sie Bücher schreiben, nahm aber zuerst diverse andere Jobs an, bevor sie sich entschied, die Welt zu bereisen und sich aufs Schreiben zu konzentrieren.
    „Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims“ ist ihr erster Roman. Die Idee dazu hatte sie in einer Jugendherberge in Ecuador. Den größten Teil des Romans schrieb sie noch auf der Reise. Annabel Pitcher lebt derzeit mit ihrem Mann in Yorkshire, wo sie bereits an ihrem nächsten Buch arbeitet.


    EIGENE MEINUNG:
    Annabel Pitcher hat mit „Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims“ ein Buch geschrieben, dass auf verschiedenen Ebenen berührt. Das traurig und schön zugleich und ganz, ganz wundervoll ist.
    Unter anderem beschäftigt sich die Autorin mit der Frage: Wie schafft man es damit weiter zu leben, dass ein Kind gestorben, ja sogar getötet wurde? Eine Antwort dazu finden wir in ihrem Roman: Fast gar nicht. Das Leben stoppt, hört auf sich zu drehen, und alles um einen herum entfernt sich immer weiter. Manche Menschen können mit so einem Schicksalsschlag umgehen, wieder andere hingegen nicht. So wie die Eltern des zehnjährigen Protagonisten Jamie. Sie versinken in ihrer Trauer, wissen nicht, wie sie die Tage ohne das geliebte, plötzlich entrissene Kind überstehen sollen und vergessen dabei, dass das Leben weiter geht.
    Jamie kann dies nicht so recht verstehen. Er war noch zu klein, hat Rose kaum gekannt und außerdem, wenn sie jetzt im Himmel ist, geht es ihr doch gut. Das mit dem Himmel ist allerdings so eine Sache. So eine Ausgedachte der Erwachsenen, mit denen sie versuchen sich was schön zu reden, denn keiner den Jamie kennt, hält die 10 Gebote alle ein. Also muss es im Himmel ganz schön einsam und folglich auch nicht schön sein.
    Eins der Gebote ist „Du sollst nicht lügen“. Und trotzdem tut Jamies Vater dies immer wieder. Besonders in Bezug auf Muslime. Er sagt: alle Muslime sind gefährlich und bauen heimlich Bomben in ihren Schlafzimmern. Bei Sunya zu Hause ist das nicht so. Zumindest hat Jamie dort keine gesehen. Dass seine einzige Freundin ausgerechnet Muslime ist macht es für ihn nicht gerade leicht. Und auch was wahre Freundschaft ist muss er erst mal richtig lernen.
    Es ist so unglaublich traurig mit an zu sehen wie einsam und verlassen nicht nur der zehnjährige Jamie ist, sondern auch die 15-jährige Jas. Die Mutter beginnt einfach ein neues Leben, fern von den Sorgen des Alten und der Vater versinkt in Selbstmitleid und dem Verlust der Tochter. Für die Sorgen und Ängste seiner lebenden Kinder ist er blind. Dabei sind die nicht nur sehr groß, sondern auch offensichtlich. Manchmal hätte ich ihn am liebsten gepackt, geschüttelt und angeschrieen, damit er aus seiner eigenen Welt der Trauer heraus kommt und bemerkt, was im Leben von Jamie und Jas passiert, die ich beide gerne einmal fest in den Arm genommen hätte, um ihnen zu sagen, dass sie nicht allein und ungeliebt sind.
    Besonders schön sind die Abschnitte, in denen die Freundschaft zwischen Jamie und Sunya beginnt. Beide sind Außenseiter, doch das muslimische Mädchen lässt sich nicht unterkriegen, schlägt zurück und zeigt allen wie stark sie wirklich ist. Kleine freundschaftliche Geschenke, sowie die geheimen Leben von Spiderman und Girl M, machen diese Abschnitte wunderschön, da sie voller Liebenswürdigkeit stecken.
    Der kindliche Blickwinkel Jamies verdeutlicht nur zu sehr, wie sehr er unter der Situation leidet, lässt den Leser aber auch an manchen Stellen schmunzeln. Man merkt, dass die Autorin das Buch mit Herzblut geschrieben hat.


    FAZIT:
    “Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims“ ist eins der lesenswertesten Debüts des Jahres 2012. Mit Wut, Trauer, Ärger, Freude und Zuneigung führt uns der zehnjährige Jamie durch sein Leben als zehnjähriger, das wirklich kein Zucker schlecken ist und mich sehr berührt und bewegt hat. Eine Geschichte über Freundschaft, Verlust, Trauer und die Wichtigkeit der Familie, die zu Tränen rührt und die ich mir ausgesprochen gut als Verfilmung vorstellen kann. BITTE LESEN!!!

  • Mist, ich hatte das Buch heute in der Buchhandlung auch in der Hand, wenn ich eure tollen Rezis gelesen hätte, dann wäre es in meinem Einkaufskorb gelandet. Aber es gibt ja noch amazon ;-)


    Vielen Dank für die tollen Rezis, pepperann und Christine J.


    Liebe Grüße :wave
    Lille


    Edit: Rechtschreibfehler.

  • In ihrem Debüt „Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims“ setzt sich Annabel Pitcher mit dem Thema Terroranschläge und dem damit verbundenen Leid einer Familie, die ein Familienmitglied verliert, auseinander. Der Terroranschlag, bei dem Jamies Schwester Rose stirbt, ist fiktiv, doch das, was die Familie danach erleiden muss, entspricht leider der Realität. Eine Welt bricht zusammen für die Matthews und sie schaffen es auch gemeinsam nicht, mit der Trauer fertig zu werden. Jeder trauert auf seine ganz persönliche Art und Weise und kapselt sich dabei immer mehr von den anderen ab. Wie sehr Jamie, der bei Roses Tod erst fünf Jahre alt war und sich kaum noch an seine tote Schwester erinnern kann, darunter leidet, sieht lediglich seine andere Schwester Jasmin. Die Eltern können (oder wollen) es nicht sehen, was mich sehr wütend gemacht hat. Natürlich ist es schlimm, wenn Eltern ein Kind verlieren, und ich glaube, den Schmerz kann man nicht nachvollziehen, wenn einem nicht das gleiche passiert ist. Trotzdem dürfen sie nicht vergessen, dass sie noch zwei andere Kinder haben, die ebenfalls trauern und die ihre Eltern brauchen, doch genau das tun die Matthews. Dem Vater nimmt man seine ehrliche Verzweiflung noch ab und kann zumindest ansatzweise nachvollziehen, dass er das tut, was er tut. Bzgl. der Mutter hatte ich jedoch das Gefühl, dass ihre Kinder und ihr Mann ihr herzlich egal sind und sie sie am liebsten aus ihrem Leben streichen möchte. Absolut unverständlich!


    Annabel Pitcher spielt in ihrem Buch mit den Extremen. Extreme Eltern, die sich kaum noch um ihre Kinder kümmern, und extreme Vorurteile. „Muslime haben Rose getötet“ ist ein Satz, den man ständig aus dem Mund von Jamies Vater hört und den er seinen Kindern einzutrichtern nicht müde wird. Er schert alle Muslime über einen Kamm und ist nicht bereit, sich davon überzeugen zu lassen, dass selbstverständlich nicht alle Muslime Terroristen sind. Die Autorin bemüht sich zwar, dies herauszustellen, aber an manchen Stellen fand ich die Aussagen, die sie Jamies Vater in den Mund legt, schon ziemlich krass. Glücklicherweise gelingt es ihr zum Ende hin, alles wieder in die Bahnen zu lenken, in die es gehört.


    „Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims“ ist ein Buch, das mich phasenweise sehr aufgeregt, aber größtenteils sehr fasziniert und bewegt hat. Annabel Pitcher konnte sowohl mit ihrer Geschichte als auch mit ihrem Schreibstil von sich überzeugen. Dieser tiefgründige Jugendroman sollte in keinem Bücherregal fehlen!