Joachim Gauck - Winter im Sommer Frühling im Herbst. Erinnerungen

  • Titel: Winter im Sommer Frühling im Herbst. Erinnerungen
    Autor: Joachim Gauck
    Verlag: Pantheon
    Erschienen: Mai 2011 (kartonierte Ausgabe)
    Seitenzahl: 344
    ISBN-10: 3570551490
    ISBN-13: 978-3570551493
    Preis: 14.99 EUR


    Ein durchaus interessantes und lesenswertes Buch. Gar keine Frage. Ein Buch was aber auch kritisch gesehen werden sollte. Denn Gauck ist jemand an dem sich reiben kann, der Widerspruch geradezu herausfordert. Gauck ist nicht der „Gut-Mensch“ für den ihn viele halten. Und man mag sogar bezweifeln , ob er – obwohl Pastor – das Prinzip von der „Vergebung Gottes“ überhaupt verinnerlicht hat – verstanden haben wird er es wohl schon.


    Joachim Gauck wurde 1940 in Rostock geboren, studierte Theologie und war viele Jahre lang als evangelischer Pastor tätig. Zurzeit ist er Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. Wenn man ganz böse ist – was man ja nicht ist, dann könnte man glatt sagen: „Ein Schnellschuss halt…..muss man nun mit leben.“


    In diesem Buch erzählt Joachim Gauck aus seinem Leben. Obwohl man als Leser, wenigstens mir ging es so, eher den Eindruck hatte, hier schildert jemand nicht das eigene Leben, sondern ein Leben, so wie man sich das Leben eines DDR-Bürgers gemeinhin vorstellt. Es wirkt wie die Summe vieler „DDR-Leben“. Gauck gibt nicht sehr viel von sich preis. Immer nur bewegt man sich an der Oberfläche dieses Lebens. Und wenn er dann vermeintlich Persönliches erzählt, dann wirkt das künstlich und nicht unbedingt so, als sei das Erzählte wirklich sein „gelebtes Leben“. Mit dieser Feststellung mag man Gauck eventuell Unrecht tun – aber er wird es wohl verschmerzen.


    Gauck hält auch in diesem Buch seiner immer wieder zu beobachtenden Selbstgerechtigkeit die Treue. Er kreist um sich selbst. Stets führt er das Wort „Freiheit“ im Mund (an sich ja nichts Schlechtes) nur das Wort „sozial“ hat es schwer sich bei Gauck auch einen vernünftigen Platz zu erkämpfen. Mag dieser Mann wirklich die Menschen wie er immer wieder behauptet? Oder mag er in erster Linie sich selbst und genießt die Aufmerksamkeit die man ihm schenkt?
    Er ist nur sehr schwer zu packen. Eigentlich weiß man nie wo er genau steht, was er denn nun wirklich denkt. Und wenn meint nun endlich den „echten Menschen Gauck“ gefunden zu haben, dann macht er eine elegante Drehung und ist – mal wieder – entwischt.


    Manche Sätze wirken ziemlich pastoral – und nerven. Werter Herr Bundespräsident, können Sie denn einfach mal so reden wie „Ihnen der Schnabel gewachsen ist“? Offensichtlich nicht. Alles scheint irgendwie auf Wirkung aus zu sein. Wie wirke ich? Wie komme ich rüber? Wie inszeniere ich mich am besten selbst. Da ist jemand der wenig authentisch wirkt, der vielmehr an sich als Kunstfigur bastelt.


    Diese Erinnerungen haben mir den Menschen Gauck nicht sympathischer werden lassen. Eher ist das Gegenteil der Fall. Und wer bei Gauck genau hinhört, wer dieses Buch aufmerksam liest, der wird schnell feststellen, dass das Wort „ICH“ bei Gauck einen unglaublich hohen Stellenwert hat.


    In jedem Falle ein interessantes und lesenswertes Buch. Geschrieben von dem Mann, den wir uns als Bundespräsidenten leisten.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Ein wie böse- jetzt muss ich das Buch ja geradezu lesen. Hast du mal überlegt ob nicht die Prägung durch dauernde Vorsicht vor Verrat durch Bespitzelung zu so einem Charakterbild führt? Ich habe hier bei vielen Personen den Eindruck der "Oberflächlichkeit" gewonnen, den du beschreibst, ein Bemühen sich letztlich nicht mit einer verfestigten Position erwischen zu lassen und nichts von sich selbst preiszugeben.

    Nemo tenetur :gruebel


    Ware Vreundschavt ißt, wen mahn di Schreipfelerdes andereen übersiet :grin


    :lesend Das Dritte Licht Claire Keegan :lesend Kirk A. Denton The Columbia Companion to modern Chinese Literature

  • Danke für diese interessante Rezension, Voltaire! :anbet


    "deine Einschätzung entspricht ziemlich genau dem Bild, das ich mir von Joachim Gauck gemacht habe." (Lumos)
    :write

    Zitat

    Original von beowulf
    Hast du mal überlegt ob nicht die Prägung durch dauernde Vorsicht vor Verrat durch Bespitzelung zu so einem Charakterbild führt? Ich habe hier bei vielen Personen den Eindruck der "Oberflächlichkeit" gewonnen, den du beschreibst, ein Bemühen sich letztlich nicht mit einer verfestigten Position erwischen zu lassen und nichts von sich selbst preiszugeben.


    Ein guter Denkanstoß, beowulf! :wave

    “Lieblose Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den anderen, in Wirklichkeit aber den eigenen Herrn verstümmelt.”Christian Morgenstern (1871 – 1914)

  • Zitat

    Original von beowulf
    Ein wie böse- jetzt muss ich das Buch ja geradezu lesen. Hast du mal überlegt ob nicht die Prägung durch dauernde Vorsicht vor Verrat durch Bespitzelung zu so einem Charakterbild führt? Ich habe hier bei vielen Personen den Eindruck der "Oberflächlichkeit" gewonnen, den du beschreibst, ein Bemühen sich letztlich nicht mit einer verfestigten Position erwischen zu lassen und nichts von sich selbst preiszugeben.


    Ich glaube in diesem Falle eher nicht. Gauck hat der Stasi immer die Stirn geboten (wenigstens nach eigenem Bekunden), hatte offenbar auch nie Scheu davor klar Position zu beziehen (so schreibt er wenigstens). Ein unerschrockener Fels in der Brandung der Unfreiheit.


    Aber vielleicht mag ich ihn auch einfach nur nicht..... :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Also der Stasi immer der Stirn geboten, also dazu gibt es eigentlich noch viel zu viele Zeitzeugen. Die Realität lag wohl mehr im Bereich Aal.

    Nemo tenetur :gruebel


    Ware Vreundschavt ißt, wen mahn di Schreipfelerdes andereen übersiet :grin


    :lesend Das Dritte Licht Claire Keegan :lesend Kirk A. Denton The Columbia Companion to modern Chinese Literature

  • Zitat

    Original von Voltaire


    ... Manche Sätze wirken ziemlich pastoral – und nerven. Werter Herr Bundespräsident, können Sie denn einfach mal so reden wie „Ihnen der Schnabel gewachsen ist“? ...


    Hm, ich fürchte, das Problem besteht darin, dass ihm der Schnabel im Laufe seines Lebens eben genauso gewachsen ist, wie er jetzt redet ... :-)

  • Ich habe es kürzlich gelesen und fand es recht interessant, aber durchaus nichts Besonderes, halt wie andere DDR-Geschichten auch. Übermäßig pastoral ist mir nicht aufgefallen, übermäßiges "ich" auch nicht, immerhin ist es ja eine Art Autobiografie, da ist der Autor nun mal die Hauptperson.
    7 Eulenpunkte sehe ich als angemessen an.
    :wave

    “Lieblose Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den anderen, in Wirklichkeit aber den eigenen Herrn verstümmelt.”Christian Morgenstern (1871 – 1914)

  • Diese Erinnerungen, so der Untertitel, entstanden in Zusammenarbeit mit der Publizistin Helga Hirsch und auch wenn man davon ausgeht, daß Gauck sehr gut erzählen kann, so verdankt dieses Buch seine erzählerische Güte vor allem den Formulierungskünsten Hirschs.


    Schon die ersten Seiten ziehen die Leserin in eine rundum idyllische Kindheit an der Ostsee, die erst mit dem Auftauchen der Roten Armee ins Wanken geriet. Dann erst wird einer klar, in welchen Jahren diese Idylle stattgefunden hat. Ehe man sich mehr als sanft wundern kann über die Beiläufigkeit, mit der hier einer den Jahren 1933 bis 1945 begegnet, ist es schon zum Sündenfall gekommen. Das Haus der Großmutter wird requiriert, obwohl sie rechtzeitig die Nationalflagge mit dem Hakenkreuz vom Mast mitten im Hof eingeholt hat, später dann wird es von den neuen politischen Machthabern beschlagnahmt. Die Familie hat ihren Stammsitz, also Besitz verloren. 1951 wird Gaucks Vater ein Opfer stalinistischer Verfolgung und verschwindet, zunächst ins Nichts. Für seine Familie ist ab diesem Zeitpunkt die Sache klar: alles, was von diesem neuen Staat kommt, ist böse. Der Standpunkt wird von da an mit einer Vehemenz und Konsequenz, die man dem Faschismus gegenüber nicht hatte aufbringen können, durchgehalten und den Kindern auch eingebleut.


    Eine Erziehungskeule nennt es Gauck. Was er beschreibt, genügt, um Kinder auf Jahre hinaus zu traumatisieren. Er ist stolz darauf, erlaubte es ihm doch, sich moralisch immer auf der richtigen Seite zu fühlen. Von dieser Überzeugung wird er nicht mehr abgehen, die Fähigkeit zu Reflexion und Selbstkritik ist ihm nur in sehr beschränktem Maß geschenkt. Das trifft zunächst vor allem seine Beschäftigung mit dem Antifaschismus. Erst spät im Leben wird ihm klar, daß der keine Erfindung der SED ist, man meint fast, ihn mit den Zähnen knirschen zu hören, wenn er zugibt, daß Widerstand nicht nur ihm vorbehalten ist, sondern auch von Antifaschisten geleistet wurde.


    Sobald der Feind dann einmal ausgemacht ist, bleibt Gauck unbeirrt dabei, als Jugendlicher, als junger Erwachsener, als Erwachsener. Als Student, Vater, Pfarrer. Sein Blick ist extrem eingeschränkt, Zusammenhänge sind ihm verschlossen, er verfolgt eine Linie des ‚Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns‘, die der der über die Jahre immer paranoider werdenden Gegenseite nur darin nachsteht, daß ihm durchgreifende Machtmittel fehlen.
    Was die Einschränkungen des Lebens von evangelischen Christinnen und Christen in der DDR angeht, berichtet er eingehend und mit einigem dokumentarischen Material. Das ist spannend, bedrückend und aufschlußreich wegen der vielen Details. Er berichtet von Repressionen, Ausreisen, Republikflucht, gescheiterten Fluchtversuchen. Auch seine Familie traf es, seine Sohne reisten 1987 aus.


    Es ergeben sich aber doch einige Fragen, z.B. finden Reformansätze – es handelt sich immerhin um die prägenden Jahre dieses jungen Staats, keine weitere Erwähnung. Ebensowenig die in den 1980ern entstehenden Oppositionsbewegungen auf vielen Ebenen. Das wird erst gegen Ende des Buchs erklärt. Es waren ja gescheiterte Bewegungen und sie mußte scheitern, weil sie nicht bereit waren, dieses Unrecht von Staat als solches zu sehen. Gauck entledigt sich damit leichthin aller anderen Überzeugungen, Lebenseinstellungen, Ansichten, jeden anderen Verständnisses von Freiheit, das nicht seinem entspricht. Überhaupt fehlt ihm ein Blick für andere. Nur wenn sie Opfer des Staats wurden, nimmt er sie wahr.


    Der Alltag, das ganz normale Arbeitsleben, die Pfiffigkeit der Menschen, mit Beschränkungen und Einschränkungen umzugehen, Versuche, etwas anderes zu wagen, ein anderes Menschenbild, existieren nicht für ihn. Seine Abneigung treibt auch seltsame Blüten, etwa, wenn er die Anweisung für MieterInnen in einem Neubau, Flure und Treppen sauberzuhalten, gleichsetzt mit der Anweisung, daß BesucherInnen im Hausbuch zu notieren seien. Da wäre Differenzierung wirklich nötig, ebenso, wie bei dem Vorwurf, daß sozialistische Großbaustellen einer Mondlandschaft glichen, weil die Bepflanzung fehlt. Das belegt er sogar mit einem Foto einer Großstelle nach einem Regenguß.


    Der zweite Teil des Buchs ist der Beschreibung der Ereignisse 1989/90 und dem Entstehen und Aufbau der Behörde zur Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen gewidmet.
    Hier wird recht deutlich, daß Gauck eher vorsichtig war damit, sich öffentlich zu engagieren. Das liegt nicht unbedingt daran, daß er, wie er selbst meint, sich zu sehr an ‚den Kerker‘ gewöhnt hatte, sondern daran, daß er ein rechter evangelischer Pfarrer ist und der tut nichts, was seine nächsten Vorgesetzten ihm nicht erlauben. Er hält sich strikt an Verfahrensordnungen. Der Kaiser bekommt immer, was des Kaisers ist. Luther hätte seine Freude an ihm gehabt.
    Erst als er sieht, daß sich in anderen Kirchen mehr und mehr regt, wird er aktiv. Ebenso hält er sich später, etwa bei Begegnungen mit BürgerrechtlerInnen bis hin zu VertreterInnen des Neuen Forums zurück. Nicht legitimierten Aktionen, von lauten Protesten bis zum Sturm der Stasi-Zentrale in Berlin, weicht er aus. Er lernt rasch, daß man weiterkommt, wenn man brav in Gremien sitzenbleibt, bis einer sagt: das ist rechtlich erlaubt. Und so steigt er auf.


    Informativ und unverändert spannend geschildert sind die Monate der Einrichtung der neuen Behörde zur Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen. Auch hier kann man gut verfolgen, wie er sich einfügt in vorgebliche Sachzwänge, vor allem, wenn sie ihm erlauben, unbeeinträchtigt als Vertreter der Opfer aufzutreten. Fragen, wie etwa die, wohin eigentlich die oberen Führungsebenen der Stasi verschwunden sind oder andere Geheimdienste und ob und in welchem Ausmaß bundesdeutsche Geheimdienste Einfluß auf seine Behörde nehmen, werden nicht einmal angeschnitten. Wie mit den Opfer dann im vereinigten Deutschland umgegangen wird, übrigens auch nicht. Kein Wort über klägliche Renten, minimale, wenn überhaupt psychotherapeutische Betreuung, Abschieben ins Prekariat.


    Gaucks Äußerungen zu Politik sind in hohem Maß naiv. Er liebt Leerformeln, wie Totalitarismus, Freiheit, Wohlstand für alle, Verantwortung. Meinen tut er in der Regel eine freizügige Wirtschaftsordnung. Von wirtschaftlichen Zusammenhängen versteht er rein gar nichts und will auch nichts wissen davon. Aufbegehren gegen die DDR war gut, aufbegehren gegen den neuen deutschen Staat ist von Übel. Schließlich sind wir hier frei. Die letzten Seiten sind eine Sonntagspredigt einschließlich küchenpsychologischer Auslegungen der Angst vor der Freiheit.


    Spannend geschilderte, detailreiche Geschichte eines Guten, der den Kampf gegen das Böse aufnahm und siegte. Eine Beruhigungspille für die, denen abends bei der Tagesschau leichte Zweifel an der Weltordnung kommen. Faszinierend und wichtig für die, die ernsthaft wissen wollen, wie es in den Köpfen derer aussieht, die hierzulande mitbestimmen.
    Das Buch für alle.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Hallo magali,


    mit dieser sorgfältigen Besprechung ist es dir nicht nur gelungen, eine fundierte Beurteilung des Buches abzugeben. Vielmehr zeichnest du auch ein aufschlussreiches Psychogramm von unserem derzeitigen Staatsoberhaupt und dessen beschränkter Weltsicht. Gerade wieder beweist sich diese in seinen gefährlich naiven Fanfaren zu stärkerem Engagement in der Welt, um "unsere Werte" dort zu verbreiten - wenn es sein muss, auch militärisch.


    Danke für diese tolle Rezi! :anbet


  • Der Meinung bin ich auch. Aber deshalb wurde mir Gauck nicht sympathischer. Vielmehr hat er sich mit diesem Buch selbst entlarvt. Ich sehe ihn auch nicht als "Guten" - ganz und gar nicht. Für mich ist er ein Schwätzer, ein Meister der sinnleeren Sprechblase.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.