Zum Buch
Als sie Doktor Josef zum ersten Mal gegenüberstand, war die kleine Czechna gerade mal zwölf Jahre alt. Und noch heute als Greisin betont sie, wie sehr der Lagerarzt von ihrer Schönheit fasziniert war: "Wissen Sie denn nicht, wen Sie vor sich haben?" entgegnet sie empört einem Verehrer im Altersheim, "vor Ihnen sitzt Miss Auschwitz." Jetzt teilt Frau Czechna ihr Schicksal mit Herrn Henoch, Frau Benia und Herrn Leon, sie alle sind dreifach gefangen: im Heim, in ihren gebrechlichen Körpern und in ihren Lebensgeschichten. Im trostlosen Alltag der Seniorenresidenz werden ihre Erinnerungen an die Kindheit immer greifbarer. Schon einmal haben sie alles hinter sich gelassen, schon einmal waren sie als namenlose Kreaturen der Gnade Stärkerer ausgeliefert. Inzwischen ist es die Arroganz des Pflegepersonals, gegen die sich Frau Czechna und ihre Freunde zu behaupten haben. Sie kämpfen um ihre Würde, die ihnen an diesem Ort aufs Neue entzogen wird. Ob sarkastisch, larmoyant, übermütig oder eitel - die Schönheit dieser Alten liegt in ihrem Eigensinn. Doktor Josefs Schönste ist ein bewegendes Buch über Alter und Erinnerung, Leben und Überleben, Mutterwitz und Menschenwürde.
Die Autorin
Zyta Rudzka wurde 1964 geboren. Sie ist Psychotherapeutin und Autorin von Gedichten, Romanen und Drehbüchern. Doktor Josefs Schönste ist ihr jüngstes Buch und ihr erstes in deutscher Übersetzung.
Übersetzt wurde der Roman von Esther Kinsky.
Meine Meinung
Zyta Rudzkas Roman hat mich fast sprachlos gemacht, allerdings nicht so sprachlos, dass ich ihn nicht vorstellen könnte, denn vorgestellt gehört er, weil er in meinen Augen überaus lesenswert ist.
Sprachlos hat er mich gemacht, weil er mir im Grunde genommen auf dieselbe Frage gebracht hat wie „Bloodlands“ von Timothy Snyder: Ist es statthaft, den Holocaust mit anderem zu vergleichen? Ist es statthaft, Leid gegen Leid aufzurechnen? Während bei Snyders Buch die Frage noch durch eine gewisse Zwangsläufigkeit vorgegeben war, sich quasi aufdrängte durch die Schilderung der Gleichzeitigkeit nationalsozialistischer und stalinistischer Verbrechen, komme ich hier an für mich kaum erträgliche Grenzen, denn: Darf/Kann man das Leben und Leiden in einem KZ vergleichen mit dem Leben und Leiden in einem Alten- bzw. Pflegeheim – auch wenn die Protagonisten des Romans dazu in der Lage sind, weil sie beides vergleichen können? Darf man einen Roman so gestalten, dass sich die Parallelen geradezu aufdrängen?
„Doktor Josefs Schönste“ ist kein Roman, der vor Handlung strotzt. Und das, was an Handlung erzählt wird, findet in den Erinnerungen an das Früher der Altenheimbewohner statt. Erinnerungen unter anderem an das, was Doktor Josef tat (und nicht tat), an Momente aus dem Leben nach dem KZ. Es wird sehr viel geredet in diesem Buch, manchmal miteinander, oft aneinander vorbei. Jeder will etwas zu sagen haben, hat etwas zu sagen, was die anderen nicht interessiert oder sie zu übertreffen wissen. Eine ganz eigene, abgeschlossene Welt ist dieses Heim, ein Entkommen, Pardon: Verlassen kaum möglich. Die Parallelen zum KZ-Leben in Auschwitz stellen sich beim Leser automatisch ein: Beispielsweise hat jeder eine Nummer, zwar nicht auf der Haut, aber immerhin ist jedes Wäschestück damit gekennzeichnet (Seite 131), Wünsche in Form von Anträgen darf man zwar äußern, werden aber grundsätzlich abschlägig beschieden – denn mehr als den Tod haben die Bewohner nicht zu erwarten, allzu Schwache und Kranke werden in ein geheimnisvolles „Haus am See“ gebracht („selektiert“, fällt dem Leser fast spontan ein) und tauchen nie wieder auf, Pflege, Behandlung … findet sie überhaupt statt? Das Pflegeperson macht sich allzu gerne über die Bewohner lustig (allerdings gibt es auch kleine Szenen der Menschlichkeit), der Direktor des Heims erscheint fast sadistisch, will die Bewohner gar animieren, ihre Wertsachen, so sie denn überhaupt noch welche besitzen, in einem Safe zu „deponieren“.
Dazu kommen die „Freuden“ des Alters, die den Bewohnern des Heims zu schaffen machen: das Vergeßlich- und Hinfälligwerden, das Vergessenwerden von Angehörigen im Speziellen und der Welt sowieso, der stärker werdende Eigensinn, die Erinnerungen, die zu verdrängen immer schwerer wird. Zyta Rudzka beschreibt dies mit einem ungeheuer genauen Blick, der mir die häßlichen Seiten des Älterwerdens genau vor Augen führt, der aber im Gegenzug die Beschriebenen trotzdem nicht abstoßend wirken lässt, weil sie ihnen allen ihre ganz eigenen Eigenheiten lässt, weil sie mich als Leser an die Seite der alten Menschen in ihrem Kampf um einen Rest Würde und Eigenständigkeit zu ziehen imstande ist. Die Erinnerungen an das KZ-Leben und -Leiden lässt die Autorin das sein, was sie sind, nämlich im Moment des Geschehens gesammelte Erfahrung; an keiner Stelle des Romans hatte ich den Eindruck, es wird mehr hineininterpretiert, als die Betroffenen in dem Moment ihres Lebens wissen oder verstehen konnten.
(Dr. Josef ist, man ahnt es, Josef Mengele. Frau Czechna, die Hauptfigur des Romans, war ob ihrer Schönheit und ihrer Fähigkeit, klaglos zu dulden, sich dessen besonderer Aufmerksamkeit sicher. Schwer erträglich fand ich mehrere Momente, an die Frau Czechna sich erinnert und bei denen ich mich immer gefragt habe, ob sie diese fast am Ende ihres Lebens genau so empfindet wie ich: die kleinen Anflüge von Eifersucht bei anderen schönen Mädchen, die Mengele „untersuchte“, diese seltsame - vielleicht kann man sie sogar erotisch nennen - Beziehung zwischen Arzt und Ausgelieferter, die ihr allerdings auch eine ganz eigene Form von Selbstsicherheit gibt.)
Anfangs zwar irritiert, hat mich der Roman dann auch sprachlich überzeugt. Dass, was die Autorin an wenig Schönem, ja Häßlichem zu beschreiben hat, weiß sie fast zärtlich und sehr präzise in Worte zu fassen. Man merkt ihr die Empathie für diese einsamen und abgeschobenen Menschen an.
Zwar kann ich nicht behaupten, dass ich mich wohlgefühlt hätte in diesem Roman, gleichwohl habe ich ihn mit einem immer stärker werdenden Mitgefühl für die alten, von anderen Menschen in unterschiedlichen Phasen ihres Lebens geschundenen Menschen gelesen.
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