„ ...der ganz seltene Fall, dass einer das Leben nicht versteht, und Recht hat.“
Kurt Tucholsky
Was aber in der Heimatstadt Karls wohl der höchste Aussichtspunkt gewesen wäre, gestattete hier nicht viel mehr als den Überblick über eine Straße, die zwischen zwei Reihen förmlich abgehackter Häuser gerade, und darum wie fliehend, in die ferne sich verlief, wo aus vielem Dunst die Formen einer Kathedrale ungeheuer sich erhoben. Und morgens wie abends und in den Träumen der Nacht vollzog sich auf dieser Straße ein immer drängender Verkehr, der, von oben gesehen, sich als eine aus immer neuen Anfängen ineinandergestreute Mischung von verzerrten menschlichen Figuren und von Dächern der fuhrwerke aller Art darstellte, von der aus sich noch eine neue, vervielfältigte, wildere Mischung von Lärm, Staub und Gerüchen erhob, und alles dieses wurde erfasste und durchdrungen von einem mächtigen Licht, das immer wieder von der Menge der Gegenstände verstreut, fortgetragen und wieder eifrig herbeigebracht wurde und das dem betörten Auge so körperlich erschien, als werde über dieser Straße eine alles bedeckende Glasscheibe jeden Augenblick immer wider mit aller Kraft zerschlagen.
Das ist also der erste Eindruck von New York in den 20ern des vergangenen Jahrhunderts. Als der junge Karl Rossmann den Fuß vom europäischen Einwanderungsschiff auf amerikanischen Boden setzt, ahnt er schon flüchtig, dass von nun an ein gänzlich neues Leben beginnt. Aufgrund eines Familienskandals wurde der 16-jährige von seinen Eltern ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten geschickt. Wie unbegrenzt die Vielfalt der Möglichkeiten ist, lernt Karl bald. Anfangs sieht es so aus, als sei ihm doch noch in der Fremde ein behütetes Leben beschienen: Er trifft bei der Einreise überraschend auf seinen schwerreichen Onkel, der ihn auch gleich zu sich nimmt. Doch schon sieht sich Karl aufgrund von Missverständnissen wieder allein. Unerfahren mit Sprache und Kultur eines so unüberschaubaren Landes steht er vielem neuen hilflos gegenüber und muss feststellen, dass die neue Welt einen einzigen Gegensatz zum vertrauten Europa darstellt. Ständig ist er auf Suche nach Arbeit, und lernt dabei immer wieder neue Menschen kennen, die ihm nicht alle freundlich gesinnt sind.
Als der Irrfahrer schließlich New York verlässt um nach Westen aufzubrechen und sich dem „Naturtheater von Oklahoma“ anzuschließen, ist er nach wie vor bestürzt, erstaunt und überwältigt angesichts der gigantischen Größe und Vielfalt Amerikas.
Genau wie die anderen Romane und Erzählungen von Franz Kafka wurde auch „Amerika“ erst nach seinem Tode im Jahre 1924 veröffentlicht. Dies geschah entgegen den ausdrücklichen Wünschen des Autors durch einen Freund, den Schriftsteller Max Brod.
Kafka (1883-1924), obwohl durchaus schon zu Lebzeiten im jüdisch-deutschen Prag bekannt, veröffentlichte seine Texte immer nur sehr zögerlich. Er schrieb des nachts und arbeitete tagsüber als Angestellter einer Versicherung.
Das Fragment „Amerika“ wird heute meist als Kafkas heiterstes Buch bezeichnet. Trotzdem lässt sich auch hier etwas von der bedrückenden, auswegslosen Kafka-Atmosphäre der undurchsichtigen, allmächtigen Institutionen erahnen, wie sie vor allem aus „Das Schloss“ vertraut ist.
Die größte Bedeutung des Romans liegt jedoch in dem Bilde des ungeschlachten, im Wachsen begriffenen Amerika, seinen Möglichkeiten und Gegensätzen, dem Entstehen von Kapitalismus und Demokratie.
Franz Kafka: „Amerika"