Zum Buch:
Mit Chil Rajchmans Bericht aus Treblinka öffnet sich ein Zeitfenster in die Vergangenheit: Verfasst unmittelbar unter dem Eindruck der Erlebnisse, wurde dieser Text erst nach über 60 Jahren wiederentdeckt. Seine Veröffentlichung war eine zeitgeschichtliche Sensation. Rajchman beschreibt die Todesfabrik Treblinka, wie sie unzählige Menschen verschlingt, sie vernichtet. Aber er erzählt auch, wie es 1943 zu jenem Aufstand der Häftlinge kam, an dem er führend beteiligt war. Als einer der wenigen gelingt ihm die Flucht. Er überlebt. Und berichtet für uns, die Nachgeborenen, was er in der Hölle von Treblinka erlebte.
Zum Autor:
Chil Rajchman, geboren 1914 in Lodz (Polen), überlebte nach seiner Flucht aus Treblinka versteckt im Untergrund. Immer dabei: seine Notizen über das Vernichtungslager. Nach der Befreiung vervollständigte und beendete er sie - und behielt sie für sich. 1946 wanderte er nach Uruguay aus, wo er 2004 verstarb. Bis dahin hatten viele von seinem Bericht gehört, aber nur seine Familie hatte ihn gelesen. Erst 2009 erscheint, zeitgleich in elf Ländern, diese zeitgeschichtliche Sensation.
Meine Meinung:
Bei dem von mir gelesenen Buch handelt es sich um die Taschenbuchausgabe. Über 155 und eine halbe Seite wird berichtet; ein Vorwort von Annette Wieviorka leitet kenntnisreich und weiterführend zu Rajchmans Text über. In 18 kurzen Kapiteln erzählt dieser über das Leben und Sterben im Vernichtungslager Treblinka.
Vorangestellt ist eine Widmung der Söhne Rajchmans sowie zwei Zitate, eines von Wassili Grossman, das andere von Primo Levi.
Großzügiger, gut lesbarer Druck mit zahlreichen informativen Fußnoten.
Treblinka, ein kleiner Flecken im Irgendwo Polens, kein Mensch wüsste von ihm, hätten die Nationalsozialisten dort nicht eines ihrer Vernichtungslager errichtet. Außerhalb, natürlich, man musste zunächst durch einen Wald, um ins Lager zu gelangen. Eintönig die Landschaft, karg, wenig einladend wohl. Vielleicht blühten dort schon im Jahr 1944 unendlich viele Lupinen, ausgesät von jenen, die das Lager vernichteten, um jede Spur ihrer Taten zu verschleiern.
Treblinka, ein Name, der Erinnerung weckt an grauenhaftes Geschehen, an menschenunwürdiges Tun, an Morde, an Quälereien, Folterungen, Demütigungen ohne Ende und ohne Anlass.
Treblinka, ein Ort, an dem Menschen vernichtet wurden, an denen ihr einziger Wert darin bestand, ihnen ihre Würde, ihr Leben und das wenige, was ihnen an Materiellem blieb (z. B. vergoldete Zähne oder das Haar der Frauen), zu entreißen.
Treblinka, ein Ort, dem als dort Eingelieferter zu entrinnen nicht möglich schien und doch gelang einigen am 02.08.1943 ein Aufstand, bei dem das Unmögliche gelang. Chil Rajchman war einer von ihnen, einer von denen, die die Flucht überlebten.
Wie kleidet man in Worte, wenn man ob des Gelesenen kaum noch einen klaren Gedanken fassen kann, also das nicht Begreifbare, nicht zu Verstehende? Wo finden die Gedanken Halt ob der Gräuel und des Grauens, die an Orten wie Treblinka herrschten? Wo ist der Weg in den Alltag, in meinen Alltag, den der Rauch der Öfen von Treblinka verdunkelt?
Chil Rajchman macht es mir durch seine Sprache eigentlich leicht: Nüchtern berichtet er, klar, direkt, ohne jegliche Ausflüchte, ohne jegliche Ausschmückungen, hin und wieder mit einem mir erbarmungswürdig erscheinenden Zynismus (aber jegliches wundern darüber wäre wohl fehl am Platz); er schont weder sich noch den Leser. Von der Ankunft dort, ohne genau zu wissen, was einen eigentlich erwartete, von der Schwester, die er gleich bei der Ankunft verlor, von den Baracken, von seinen Tätigkeiten als „Friseur“ und als „Zahnarzt“ (nein, ich werde hier nicht erläutern, um was es dabei ging), von „Mördern“, „Verbrechern“, dem „Artisten“ und dem Hund Barry, der traurige Berühmtheit erlangte. Von Freundschaften, vom Hunger, von der Hetze und der ewigen Lauferei, von Peitschenhieben und Prügeln, von Menschentreiben und Menschenvernichten, von Krematorien und vom grausamen Sterben, von Menschen, die ihre Würde nach und nach verloren und von solchen, die gar keine hatten. Bild auf Bild beschwört er herauf, verankert sie in meinem Kopf, so dass sie mich nicht mehr loslassen, mir den Atem knapp werden lassen und die Träume in Albträume verwandeln.
Vor Augen habe ich ein Foto, im Hintergrund zerstörtes Gelände und Gebäude oder Baracken, ein zerstörter Zaun ist zu sehen, zwei abgemagerte, ausgemergelte Männer in zerlumpter Kleidung blicken direkt in die Kamera – und sie lächeln (natürlich stammt das Foto nicht aus Treblinka, das wurde einige Zeit vor der Befreiung von den Tätern zerstört). Wie geht das, frage ich mich: Wie kann man noch lächeln, wenn man solch Erschütterndes erleben musste, überleben durfte? Wie kann man noch weiterleben mit dem Wissen um das, was geschah, auch mit dem Wissen, dass viele der Täter den Alltag viel leichter wiederfanden als sie selber? Wie kann man weiterleben mit dem Wissen um die Toten, mit den Schuldgefühlen, die manche, vielleicht auch viele der Überlebenden hatten, von denen auch Chil Rajchman ganz kurz berichtet? Mit diesen Fragen bleibe ich zurück, als ich das Buch zugeschlagen habe, sie lassen mich nicht los wie vermutlich, hoffentlich viele andere Leser auch.
Die vielen, unendlich vielen Namen der in Treblinka Vernichteten, Ermordeten, noch im Tode Geschändeten kennt man nicht im Ganzen, denn Verzeichnisse gab es nicht, wozu sie auch anlegen, wo alles auf Zerstören ausgelegt war; das Wenige, was schriftlich niedergelegt wurde, wurde mit dem Lager vernichtet. Aber an die Menschen zu erinnern und an das, was Menschen zu tun imstande sind, ist das nicht geringe Verdienst des Textes von Chil Rajchman. Und so empfinde ich das Buch nicht nur als Augenzeugen- und Erlebnisbericht, sondern als ein Mahnmal aus Worten.
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