hallo an alle, die das lesen. Das ist eine Art Geschichte die mir vor kurzem in den Sinn kam, und die ich wie schon oft schnell aufschreiben musste. Bitte nehmt euch die zeit, lest und schreibt eure Gedanken dazu. Danke.
Als er fortging...
Die scharfen Kanten des Metallgeländers bohrten sich kalt in seine Hände. Die Finger umschlossen krampfhaft die Brüstung. Er sah lange auf die schwarze Fläche unter sich. Leise glucksend brachen sich die sanften Wellen des Flusses an den bemoosten Steinen der Mauer. Das Wasser war wirklich schwarz. Schwarz, bodenlos, undurchdringlich. Seine dunkle Tiefe erinnerte ihn stark an die eigene Seele. Ein schwacher Windhauch kräuselte leise die Wasseroberfläche. Noch immer stand der Mann unbeweglich am Geländer und blickte hinab. Seine Gedanken kreisten um das Ende. Hier würde es abschließen, sein kleines, blasses, verschwommenes Leben. Die eisige Kälte des Elements würde ihn empfangen und umschließen wie einen lange Vermissten. Kein Mensch würde es bemerken, keiner nach ihm suchen. Er lächelte bitter in sich hinein. Denn die Verlorenen sucht niemand.
Plötzlich hörte er langsame Schritte hinter sich. Leise klangen sie, denn der Schnee dämpfte das Geräusch. Er sah sich nicht um. Wer sollte das schon sein. Wer konnte schon etwas von ihm wollen. Auch als die Schritte genau hinter ihm abbrachen, sah er sich nicht um. Ihm war es eher, als tönten sie aus seinem Inneren. Langsam schaute er nach oben. Es schneite. Der nächtliche Winterhimmel wirkte rötlich-orange, was wohl dem warmen Licht der alten Straßenlaterne zuzuschreiben war. Es war kalt. Aber dieses Gefühl erschien dem Mann schon beinahe vertraut. Ihm war immer kalt, denn die weinende Kälte kam tief aus seiner Seele. Er sprach langsam. Den Toten gehört die Zeit. Er konnte sie beliebig dehnen und spannen. „Jeder Mensch hat am Anfang seines Lebens einen Weg. Hier endet meiner.“ Er holte tief Luft. In dem Atemzug schwangen tausend unerzählte Geschichten, bedeutungsvoll aneinander gereihte Wörter. Er sprach zu den Schritten, und zu sich selbst. Es war gleich. „Ich gehöre nicht in diese Welt. Sie hat mich nie gebraucht. Und sie wartet auch nicht auf die Unglücklichen, die langsamer laufen. Sie ist nur für die anderen da, die Bleichen und Stummen. Die, die Kälte nicht wahrnehmen können.“ (...) Der Mann lächelte bitter. „Trotzdem laufe ich langsamer als die Zeit. Ich bin zu oft am Wegesrand stehen geblieben. Und nun möchte ich nicht mehr warten, ohne zu wissen worauf. Ich will nur noch anhalten und vergehen. Im Leben zerlaufen, um endlich Ruhe zu finden.“
Langsam strich er mit den Fingern über das Eisen. Er lief ruhig am Geländer entlang. Der Schnee knirschte. Es erinnerte ihn an ein leises Stöhnen. Die verschneiten Straßen stöhnten.
Durch das Schneegestöber waren die schmale Straße und die kleinen angrenzenden Häuser kaum mehr auszumachen. Es schien als kauerten sich die Gebäude vor lauter Kälte eng aneinander. Nur vereinzelt brannte schummriges Licht in den Fenstern.
Er ging Schritt für Schritt durch den Schnee am Flussufer entlang. Tappende Schritte hinter ihm. Manchmal klangen sie wie das klopfende Schicksal: lauernd und verfolgend. Dann wieder wie eine Armee von Millionen, die wie schon so oft zuvor mit ihren Klagen kamen. Diese Meute hatte er nie losbekommen. Schon früh war ihm diese besondere Gabe, die nur er zu besitzen schien, aufgefallen. Er hörte Wesen, Menschen flüstern.
Gleichgültig tastete er sich weiter am Geländer entlang. Er empfand nichts mehr angesichts der lautlosen Stimmen. Zu oft schon hatte das Raunen dieser Einsamen seine Seele überflutet und geschwemmt. Nun war sie ausgebrannt von Tränen und von Flammen durchdrungen. Wie jeden Tag, wie jede vergangene Sekunde seines Daseins, erzählten die Verdammten auch jetzt ihre Geschichten. Sie waren immer anders, aber er kannte alle. Manchmal waren sie voller Schreie, die dann in seinem Kopf wiederhallten. Dann wieder wie ein stetiges ruhiges Tropfen von irgendwoher und irgendwohin.
Es schneite wieder stärker. Er blinzelte beim Laufen in den Himmel und die Flocken kamen wie Sterne auf ihn zu. Er lächelte. Nur auf ihn kamen sie zu. Und das war schon immer so gewesen. Auch wenn das niemand verstanden hatte. Darin lag seine kleine Berechtigung hier zu sein. Es schneite heute Nacht nur für ihn.
Er ließ das Metall los, schritt über die Straße, auf die Hauswand zu. Er trat mit seinem kalten Fuß dagegen. Viele Male. Ohne etwas zu spüren.
Wie sollte er nur mit dieser kreischenden Ungerechtigkeit klarkommen. Ungerecht, ungerecht. So war ihm immer die ganze Welt vorgekommen. Er hatte gewartet. Aber das Leben hatte ihn nie dafür belohnt, dass er diese Ungerechtigkeit stumm erlitten hatte. Ungerechtigkeit. Wenn alle anderen schwiegen. Er tastete sich die raue Wand entlang. Mörtel an seinen Händen. Wenn keiner sprach. Dabei war auch das Sprechen der Menschen wie Schweigen, nur plumper. Sie redeten von Blumen und Sonne. Immer wieder von der Sonne. Wo war sie. Er hatte sie nie gesehen und nie mitreden können. Dafür hatte er die Gespenster gesehen. Bleiche, tote, händeringende Gespenster. Gespenster, mit Blut statt Tränen in den Augen. Seine Hand berührte tastend kalten Stein.
Lachen erklang in ihm, von den unzähligen Malen, als er selbst immer wieder ausgelacht wurde. Jedes Schmunzeln ein Dolchstoß. Dafür hatte er getötet. Meistens sich selbst.
Nichts mehr denken, nichts sehen. Aber vor allem nichts denken.
Nur stur weitergehen. Bald musste es vorbei sein.
Und er ging weiter. Immer an des Hauswänden entlang. Er sah nur auf den eintönigen Schnee vor seinen Füßen. Sein Geist war wie leergefegt. In ihm war keinerlei Gefühl zurückgeblieben, weder Hass, noch Wut oder Trauer. Es schien, als entweiche mit jedem weiteren Schritt ein Stück Gefühl. Auch die Schritte hinter ihm wurden allmählich leiser. Bis sie schließlich ganz verklangen. (....) Mit jedem Atemzug atmete er die schwere Einsamkeit. Sie kroch zitternd unter allen Ritzen und Türspalten hindurch und lagerte wie ein süßer Duft in allen Räumen seines Herzens. Im Dunkeln konnte er darin baden. Die Einsamkeit tat nur weh, wenn er mit anderen Menschen zusammen war. Dann steigerte sie sich in einen Schmerz, der wie gleißendes, stechendes Licht war. Und für diese Schmerzen gab es keine Entschädigung. Da war nie jemand gekommen, der ihn in sich selbst bestätigte, ihm dankte und für alles durchlebte Leid belohnte. Schwer, dafür nicht zu hassen.
An keinem Ort dieser Welt fühlte er sich zu Hause. Er hatte keine Heimat. Von überall hatte man ihn weggelächelt. Deshalb lief er. Deshalb lief er auch jetzt mühevoll durch den Winter. Das ruhelose Wandern in der Einsamkeit war seine einzige Heimat.
Also lief er weiter. Wurden die Windböen, die eisige Kristalle mit sich wirbelten, stärker, ging er einfach langsamer. Immer an den Häusern entlang, ohne stehen zu bleiben.
Später tauchte er in eine kleine schmale Gasse ein. Die Laternen standen hier weiter voneinander entfernt, und es gab weniger erleuchtete Fenster. Plötzlich verlor seine linke Hand die Mauer des Hauses und tastete ins Leere. Hier war ein kleiner, dunkler Durchgang, eine enge Lücke zwischen zwei Gebäuden. Er blieb stehen, ohne recht zu wissen, warum. Er fühlte keinerlei Kälte mehr.
Behutsam kauerte er sich in den schmalen Durchgang. Es war fast vollkommen dunkel. Die Vorstellung eines stillen, schwarzen Saals gefiel ihm am besten. Er kroch noch tiefer in die Dunkelheit. Seltsamerweise nahm ein Bild aus dem Dunkel langsam Konturen an. Er schob sich noch ein Stück weiter nach vorne, und bald war es ihm möglich, etwas zu erkennen. Alle Farben waren deutlich auszumachen. Aufmerksam musterte er das Bild.
Er sah eine karge Berg- oder Mondlandschaft, eine stille und friedliche Seinwüste mit vereinzelten Felsen und Kratern. Es war Nacht und die Sterne standen im glitzernden Schweigen über dem Landstück. Obwohl kein Mond zu sehen war, so malte sein silbernes Licht doch feine Schatten auf den Steinen der Ebene. Im Hintergrund ließen sich gewaltige Gebirge erahnen. Doch das seltsamste Gebilde nahm den Mittelpunkt des Bildes ein: Da war ein riesiger Turm abgebildet, bestehend aus lauter Büchern. Sie bildeten Wände, Balkone, Türen, Fenster, Terrassen und sogar die große Eingangspforte. Menschen waren nirgendwo zu sehen. Die Fenster waren nicht erleuchtet. Das weiße Mondlicht übergoss sich auf alle Bücher.
So unrealistische, in sich abstoßend das Gemälde auch wirkte, fügten sich doch auf eine skurrile Art alle Einzelteile zusammen. Die Puzzleteile fügten sich harmonisch zu einer Einheit. Nichts wirkte überflüssig oder unpassend. Das gesamte Bild strahlte einfache Ruhe und stillen Frieden aus.
Unbeweglich hockte er davor. Eine lange Zeit, in der er kaum zu atmen wagte.
Es war, als bewege sich langsam etwas in seinem Inneren. Irgendetwas Altes, Schweres brach auf. Er fühlte nichts mehr, und doch zum ersten Mal in seinem Leben alles. Als würden alle Gefühle ihn überschwemmen. Er empfand, wie er begann sich aufzulösen. Und er sehnte sich. Es verlangte ihn mit seiner ganzen, weiten Seele zu diesem Bild. Diese Sehnsucht nahm all sein Denken und Fühlen ein. Er wollte nichts anderes, als hineinstürzen und für eine Ewigkeit darin leben. Ja, er hatte es schon immer gewollt. Alle Puzzlestücke seines Lebens fügten sich in dieses Bild. Nur hierher gehörte er. Hier war er zu Hause. Viele Jahre, unendliche, lange, schmerzende Jahre, eine Ewigkeit hatte er gesucht. Das Bild beantwortete alle seine quälenden Fragen und sprach mit tausend Stimmen. In diese harmonische und friedliche Einsamkeit gehörte er. Dieses Bild zeigte nichts anderes, als einen leisen, weiten Ort in seinem Herzen.
Er kauerte leise vor dem Bild. Er kauerte in Kälte, in einem warmen Winter, in Frieden.
Über sein Gesicht rannen Tränen.