Eine Geschichte unter vielen

  • Liebe Fabienne,
    jederzeit und gerne.
    Aber lies noch mal genau, was so geschrieben wurde, denn Du bist noch nicht ganz dahinter gekommen.
    Es geht nicht um wissenschaftliche Analyse. Das ist etwas ganz anderes.
    Es geht um literarische Mittel und deren Einsatz.
    Du sagst, Deine Geschichte lebt durch die Adjektive.
    Das ist nicht so.
    Wenn man den Text liest, knallen einem die Wörter regelrecht ins Gesicht. Sie machen einen blind und taub, sie wirbeln da rum wie ein Schneesturm.
    Nur wenn man sich große Mühe gibt, kann man hinter dem wilden Gewirbel den Schatten einer Geschichte ausmachen.
    Deine Geschichte als Strudel zu bezeichnen, ist durchaus berechtigt. Es ist aber kein bewußt konstruierter Strudel. Das wäre nämlich das, was jemand, der schreibt, machen muß. Bewußt bauen, die Wörter einfangen und in einer Ordnung, die sie oder er bestimmt ,aufs Papier zwingen.
    Das machst Du nicht. Du siehst die Wörter wirbeln, Du hascht nach ihnen, fängst sie auch ein, aber dann - fangen sie Dich.
    Du kannst nicht mehr unterscheiden, schreibst Triviales, Kitschiges neben Gutes neben Schwaches. Du bist nicht die Herrin in diesem Text. Die Wörter herrschen.
    Es geht also nicht um die Anzahl der Adjektive, sondern um ihre Verwendung.


    Ich habe Dir deswegen ein paar herausgeschrieben in meinem ersten posting, die einfach abgegriffen sind: bitteres Lächeln, bleiche, händeringeden Gespenster. Blutige Tränen weinen.
    Es ist das Immergleiche, Fabienne, und dadurch, daß Du die Wörter nicht beherrschst, wirken sie in ihrer ganzen Abgegriffenheit.


    Ja, alle Wörter sind schon mal geschrieben worden, hundertfach, tausendfach, zehntausendfach. Ein Wort wie 'Liebe' ist so abgegriffen, daß man grad kotzen könnte, wenn man es sieht.
    Warum spucken wir nicht? Weil Schriftstellerinnen und Schriftsteller, wenn sie gut sind, das Wort so in ihre Texte einfügen, daß wir LeserInnen glauben, wir lesen und fühlen es zum erstenmal. Jedesmal aufs Neue.
    Das ist die Kunst.
    Und wenn Du die Wörter beherschst, dann kriegst Du auch das auf die Reihe, was Du sagen wolltest. Denn im Moment kapiert man nichts.
    Du sollst nicht, merke wohl, wie im Ertskläßler-Lesebuch sagen: er macht das und dann macht er das und dann das.
    Du sollst es uns signalisieren, durch die Wörter hindurch. Es soll nicht nur ein vager Schatten sein, sondern seine Konturen sollen sich ganz scharf abzeichnen, so scharf, wie es hinter dem Schleier von Schneegestöber nur geht.
    Du hast da zu etwas handwerklich sehr Schwierigem gegriffen. Und zwar, weil Dir tatsächlich nicht ganz klar war, was Du da erzählen willst.


    Bitte glaube nun nicht, daß Du das beim ersten Runterlesen so kapierst. Was ich Dir hier auseinanderlege, sind sehr komplizierte Sachverhalte.
    Einen Teil davon wirst Du einfach durchs Weiterarbeiten verstehen. Über den Rest mußt Du nachdenken. LANGE.
    Und lies mehr. Noch mehr Und noch mehr. Spüre den Wörtern nach.
    Und hüte Dich, sie sind mächtig.
    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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  • Wenn ich mich auch noch einmischen darf ...


    Ich schließe mich Tom und magali nahezu vollumfänglich an: großes Thema (Tod/Todessehnsucht), guter Ansatz, abgewürgt durch eine Überfrachtung nicht nur an vor allem "behauptenden" Adjektiven (ich nenne sie "deutend"), häufig leicht schiefen Bildern und gelegentlich ermüdenden Wiederholungen. magalis Bild vom Schneesturm ist durchaus passend -- es ist nicht der Schneesturm in der Geschichte, sondern einer, der die Geschichte und das, was du ausdrücken willst, vernebelt.


    Toms Tip, sich testweise an die Grundsätze des "Hamburger Dogmas" zu handeln, finde ich hervorragend. Wie gesagt: Als Übungsmethode großartig, weil es einfach bewußt macht, was man wirklich braucht und was zuviel ist.


    Ich finde im Text ein typisches Sender-Problem: Fabienne, du schreibst quasi für dich selbst und nicht für einen Leser. das ist, als würdest du jemandem den Zitronensäurezyklus, die Binomischen Formeln oder den Verlauf der Französischen Revolution erklären, ohne dessen Voraussetzungen zu berücksichtigen. Aber ohne die Voraussetzungen des Empfängers deiner Nachricht zu berücksichtigen, wird er nichts von alledem verstehen, selbst wenn du dich noch so bemühst.
    Du lieferst extrem viele Informationen, Bilder etc. die dir selbst am Herzen liegen, die du schön findest, die dir Freude machen. Aber wenn du eine Geschichte erzählst, dann muß du Erzählweise und Stil der Geschichte vollkommen unterwerfen. Erzählweise und Stil tragen die Geschichte, sie haben die Aufgabe, das Wesentliche darin hervorzubringen, herauszuarbeiten und leuchten zu machen.


    Was das Adjektiv-Problem angeht: Ich liebe Adjektive! Ich liebe sie genauso wie ich Adverbien, Verben, Substantive usw. liebe. Ich würde sie niemals eliminieren wollen.
    Das Problem ist ein anderes: Mit Überfrachtung tötet man ihre Bedeutung.


    Insbesondere "deutende" ("behauptende") Adjektive oder die bildliche Verwendung von konkreten Adjektiven sind nichts, was man beliebig einsetzen kann.
    Mit den "deutenden" hast du zum Glück weniger Probleme (zumindest in diesem Text), aber ich habe eine Menge metaphorisch/bildlich gebrauchte Adjektive gefunden.
    Z.B. "Er lächelte bitter in sich hinein."
    "bitter" ist eigentlich ein Konkretum, das eine bestimmte Geschmackswahrnehmung beschreibt. Im übertragenene, bildlichen Sinne, kann es mehrere Bedeutungen haben, die sich aus dieser Geschmackswahrnehmung ableiten.
    Die Frage ist, was ein "bitteres Lächeln" ist, wie es von außen gesehen aussieht bzw. wie es sich für die betreffende Figur konkret anfühlt. Wenn du "bitter lächelst", dann ist das die Ausdeutung einer ganz bestimmten Selbstwahrnehmung und parallel dazu die Ausdeutung bestimmter (optischer) Signale in dem Gesicht, auf dem du dieses "bittere Lächeln" siehst.
    Versuche doch mal herauszufinden, was das für eine Selbstwahrnehmung ist und was du siehst.


    Tip: Vor den Spiegel stellen und "bitter lächeln" und dabei in dich hineinlauschen, wie sich dein Gesicht anfühlt, was anders ist, als wenn du fröhlich grinst, die Stirn runzelst, die Nase hochziehst usw.
    Ein Autor zu sein, bedeutet ganz besonders aufmerksam und achtsam zu sein.
    Das kann man nicht von heute auf morgen, das muß man erst einmal grundsätzlich erkennen und dann lernen.


    Du mußt deine Bilder und Beschreibungen auch nicht wiederholen. Vertraue dem, was du schildern wilst! Vertraue deinen Worten! Versuch nicht, sie stärker zu machen, als sie schon sind -- das brauchen sie nicht, es macht sie nur schwach.