Marie – Arne Nevanlinna

  • Verlag: Lübbe
    Gebundene Ausgabe: 272 Seiten


    Aus dem Finnischen von Angela Plöger


    Kurzbeschreibung:
    Marie durchlebt den letzten Tag des 20. Jahrhunderts in einem Altersheim in Helsinki. Die Erinnerungen an ihr langes, ausgefülltes Leben, die Beschreibung des Kulturschocks, als sie von Straßburg aus nach Finnland - in das für sie unbekannte Land - im Norden kam, sowie ihre Gegenwart als gebrechliche Frau schmelzen in diesem großartigen Roman kunstvoll ineinander.


    Über den Autor:
    Arne Nevanlinna (*1925) ist finnland-schwedischer Herkunft und bezeichnet sich auf seiner Homepage als aktiven Schreiber aus Helsinki, als Teilzeitarchitekt, passiven Professor, Rentner – und Schriftsteller. Er hat etwa ein Dutzend Architekturpreise gewonnen und neun Bücher (Erzählungen und Werke über Architektur) veröffentlicht und eines „noch auf der Festplatte schlummernd“. MARIE ist sein erster Roman.


    Über die Übersetzerin:
    Angela Plöger hat in Berlin, Budapest, Helsinki und Hamburg Finno-Ugristik und Slawistik studiert. Sie lebt als freiberufliche Übersetzerin vor allem finnischer Literatur und Dramatik in Hamburg.


    Mein Eindruck:
    2004. Im Altersheim in Helsinki lebt die in Straßburg aufgewachsene Französin Marie Myhrborgh, die durch Heirat mit einem Finnen den größten Teil ihres Lebens in Finnland verbrachte. Ein Land, das ihr immer fremd blieb.


    Die Gegenwart im Altersheim wechselt sich ab mit Maries Erinnerungen, die in die Vergangenheit zurückwandern. Es ist ein Abtauchen in eine alte Zeit, in Maries Kindheit und Jugend, Heirat und Geburt von Edouard, die Kriegsjahre usw. Am Ende des Buches ist Marie 100 Jahre alt.


    Ich mag Romane, die nahezu ein komplettes Leben erzählen. Wichtig dabei ist, die Hauptfigur dem Leser nahe zu bringen. Und das ist hier der Fall.
    Zwischen den Abschnitten sind anfangs etwas rätselhafte Tagebuchausschnitte eingestreut, deren Zusammenhänge mit der Handlung mit der Zeit erkenntlich werden. Dadurch entsteht eine weitere Perspektive, die den Text bereichert.
    Kritisch könnte man sagen, dass dieses stille Buch nicht allzu viel Spannung erzeugt.


    Arno Nevanlinna verfügt über einen leichten, genauen Stil, voller Ruhe und verleiht seiner Marie Profil. Vor allen durch die leise Komik, die sich in Dialogen und ihren Gedanken entfaltet.

  • Ein ganzes Leben einer einzigen Figur als Rückblende innerhalb eines Tages, vom Morgen bis Mitternacht, zu schildern, klingt gleichermaßen wahnwitzig wie platt, und ist eine Aufgabe, der sich ruhigen Gewissens nur gewiefte Profis oder ahnungslose DebütantInnen stellen. Arne Nevanlinna ist Debütant und er hat sein Unterfangen mit beeindruckender Sicherheit bewältigt, erzählerisch, stilistisch, thematisch. Herausgekommen ist der etwas andere Roman, eine normale Geschichte aus einem ganz anderen Blickwinkel, kurz: eine jener Perlen, nach denen man in der vorhandenen Bücherflut oft so vergeblich fischt.


    Marie, die 1899 geboren wurde und 1999 sterben wird, steht nicht nur für ihr Leben oder ein Frauenleben, sondern zugleich für das ganze Jahrhundert. Zu Beginn der Geschichte erwacht sie in ihrem Bett im Altersheim in Helsinki, dort wird später ihr Leben auch enden. In den Stunden dazwischen erinnert sie sich. Das tut sie nicht linear, sondern fragmentarisch, assoziativ, hin - und herspringend. Der Autor hält sich an die Chronologie, aber diese ist nur ein schwaches Gerüst. Je nachdem, wie stark Maries Gemütsbewegung ist, geraten Jahrzehnte, Ereignisse und Personen auch durcheinander. Das Durcheinander wird im Lauf des Tages, also der Erzählung, größer. Ungewöhnlich sind die Schauplätze von Maries Leben. In Straßburg geboren, ist ihr Familienleben vom deutsch-französischen Gegensatz geprägt. Ihre Familiengeschichte ist zugleich die Geschichte des Elsaß zwischen 1871 und 1945. Als junge Pflegerin im ersten Weltkrieg lernt sie einen Arzt aus Finnland kennen, allerdings keinen Finnen, wie sich herausstellt, sondern einen Finnlandschweden. Als seine Frau gerät Marie ab 1919 in einen ganz ähnlich gelagerten Konflikt, zwischen Finnen und Schweden. Deutsch oder französisch, schwedischsprachig oder finnisch, stehen für Geisteshaltungen und politische Überzeugungen. Bestimmend ist das gutbürgerliche Umfeld, in Maries Familien herrschen alle Überzeugungen zwischen liberal-konservativ und faschistisch.


    Marie steht zwischen allen Parteien. Sie bemüht sich, Rollenerwartungen, eigene Überzeugungen, gesellschaftliche Verpflichtungen und individuelles Glück unter einen Hut zu bringen, eine Unmöglichkeit und zugleich nichts anderes, als das, was ein ganz normales Leben ausmacht. Marie interessiert sich nicht für Politik, was im Großen geschieht, verwirrt sie eher. Hin und wieder sucht sie Aufklärung, aber zu oft findet sie niemanden, der ihr die Dinge erklärt. Das gleiche geschieht innerhalb der Familie, es gibt Streitigkeiten, Krisen, persönliche Abneigungen, denen sie gern auf den Grund ginge, aber meist fehlt die rechte Gelegenheit dazu. Das Leben als Rätsel also, im Privaten, wie im Politischen.
    Marie ist eine ganz wunderbare Figur. Gescheit und dumm, einsichtig und verwöhnt, hilfsbereit, offen, freundlich, arrogant, eigensüchtig, dickköpfig auf der anderen Seite. Alle paar Seiten zeigt sie eine neue Facette und ist doch immer nur sie selbst.


    Ausgelöst werden ihre Erinnerungen durch alles, was an ihrem letzten Tag um sie herum geschieht, Worte ebenso wie Gerüche, Geräusche oder das Licht, das durchs Fenster hereinfällt. Auch das, was im Altersheim geschieht, gehört zur Geschichte. Die Probleme des hohen Alters sind ebenso Thema und kein schönes. Daraus spinnt Nevanlinna schließlich einen zweiten Erzählstrang. Er ist durchdacht, rundet die Geschichte auch ab und trägt dazu bei, Leserinnen und Leser die Teile des Puzzles zu bieten, die ihnen Marie nicht geben kann, weil sie eben nicht alles weiß bzw. nicht mehr auffassen kann. Trotzdem wirkt die Konstellation ein wenig gezwungen und wäre die Geschichte nicht so gut erzählt - Nevanlinna kann ganz einfach überzeugende Figuren gestalten und zum Leben erwecken - hätte der zweite Erzählstrang das Konstrukt zu Fall bringen können, sprich: dem Kitsch ausliefern.


    Nevanlinna holt weit aus. Fast nebenbei kann man sich auch noch Gedanken über die Stellung und Rolle von Frauen machen, über die Folgen von Nationalismus, Rassissmus und Kriegen. Ein Liebesroman ist das Buch auch, wie bei den anderen Fragen geht es auch bei der Liebe um ihre unterschiedlichen Erscheinungsformen. Vor allem aber stellt der Roman die Frage, wo die Menschen eigentlich zuhause sind, in ihrem Geburtslandand oder ihrer Wahlheimat, in ihrer gesellschaftlichen Klasse oder in ihrer Sprache?


    Intensiv, innig, überzeugend, eine echte Entdeckung.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus