ZitatOriginal von bartimaeus
Die Bürgerlichen hingegen stellen den verantwortungsvolleren und sympathischeren Gegenpart dar, Emilia Galotti, die zwar nicht den Hauch der Naivität, sondern den der Unschuld mit sich trägt, der vom Prinzen bedroht wird, und ihre Eltern scheinen sich für unsere Verhältnisse menschlicher und vernünftiger zu verhalten.
Das sehe ich ein bisschen anders.
Der Adel kommt sehr schlecht weg, das ist richtig. Lessing hat im Prinzen von Guastella das Bild des feudal-absolutistischen Herrschers festgehalten, der -wenn es um seine Interssen geht- alle Möglichkeiten nutzt. Auch seine triebhafte und mätressenreiche Haltung machen seine Moral fragwürdig. Demnach spiegelt der "brutale" Angriff auf Emilia, die das Bürgertum (natürlich in Form von Landadel) vertritt seine skrupellose, willkürliche Herrschaft wieder. Die Kritik am Adel wird also deutlich klar.
Aber die Kritik am Bürgertum wird ebenfalls deutlich.
Und zwar kritisiert Lessing die einfache, bürgerliche Moralvorstellung der Bürger. Denn die Eltern unterdrücken den eigenen Willen des Kindes. Der eigene Wunsch/eigene Wille des Kindes tritt hinter der freien Entwicklung der Triebe zurück. Wichtig wird so nur der innere Zwang der unbedingten Pflichterfüllung. Das wird an Emilia und Odoardo sehr deutlich: Emilia ist nicht dazu in der Lage eigene, möglicherweise lebensrettende Entscheidungen zu treffen, denn ihre Eltern haben sie nicht dazu erzogen. Deswegen ist ihre "Lösung" des Problems so drastisch. Sie bringt sich lieber um, als dass sie sich zutrauen würde ihren inneren Bedürfnissen zu widerstehen. Das kann ich schon als naiv bezeichnen. Ob sie für ihre Naivität etwas kann, das ist eine andere Frage.
Ebenso wird Odoardo scharf unter die Lupe genommen. Denn er hat ein übersteigertes Ehrgefühl. Zwar zeigt er Ansätze für neues, rationales Denken , entscheidet sich aber im letzten Moment anders: Mord an seiner Tochter für den Bestand seiner Familienehre.
Ich finde also nicht, dass das Bürgertum den "vollkommenen" "sympathischen Gegenpart" darstellt, sondern ebenfalls kritisiert wird. Ich kann somit auch nicht die Eltern als sonderlich "menschlich" oder "vernünftig" bezeichnen.
P.S.: Das ist natürlich ein Ausschnitt meiner persönlichen Interpretation.
Ich finde ebenfalls, dass Lessings Werk großartig ist. Mir hat es sehr gut gefallen. Wir haben es in der Oberstufe lesen müssen, genau wie "Kabale und Liebe" von Schiller. Die beiden Stücke im Vergleich zu lesen, war sehr interessant, denn vom Inhalt sind sie sich nicht so unähnlich. Aber der soziale Standpunkt und die Darstellung der gesellschaftlichen Schichten unterscheiden sich extrem.
bartimaeus : Ich kann dir zustimmen. "Emilia Galotti" ist wirklich ein lohnenswertes Leseerlebnis, wenn man sich ein bisschen mit Thematik und Sprache beschäftigt.