Zum Buch:
Gertrud Kolmar, 1894 in Berlin geboren, führte die deutschsprachige Lyrik zu einem Höhepunkt. Biographisch begann alles unspektakulär: sie war Hauslehrerin in verschiedenen Familien, wurde Sekretärin ihres Vaters, eines Staranwalts der wilhelminischen Ära. In Berlin, sodann in Finkenkrug, Osthavelland, wuchs ihr Werk heran: vorwiegend Gedichte, auch Erzählungen, Schauspiele, ein Roman. Walter Benjamin, ihr Cousin, verhalf zur Publikation von Gedichten in Zeitschriften. Auch während des Dritten Reichs schrieb sie weiter – der dritte Gedichtband erschien 1938 in einem jüdischen Verlag. Nicht veröffentlicht hingegen: Gedichte mit vehementen Anklagen gegen den NS-Terror. Etwa zur gleichen Zeit führte ein Briefwechsel zur Begegnung mit einem völkischen Lyriker. Nach dem Zwangsverkauf der Villa in Finkenkrug lebte sie mit ihrem Vater in Berlin-Schöneberg. Eine der wenigen Besucher im »Judenhaus«: Hilde Benjamin, die später gefürchtete Justizministerin der DDR. Gertrud Kolmar, zur Zwangsarbeit verpflichtet, verliebte sich in einen jungen Kollegen. Nach der sogenannten Fabrik-Aktion im Februar 1943 wurde sie deportiert und in Auschwitz ermordet. Ihr Werk konnte von Schwester und Schwager gerettet werden.
Zum Autor:
Dieter Kühn, geboren 1935, ist freier Schriftsteller. Für seine Romane, Biographien, Erzählungen, Kinderbücher, Hör- und Schauspiele ausgezeichnet u. a. mit dem Hermann Hesse-Preis und dem Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Er war Stadtschreiber von Bergen-Enkheim und Mainz. Der Autor lebt in Köln.
Meine Meinung:
Vorliegend handelt es sich um eine Taschenbuchausgabe.
Fotos: Bis auf die Porträtaufnahme von Gertrud Kolmar keine.
Anhang: Etwa 20 Seiten, in diesem versteckt einige Literaturhinweise.
Fußnoten, Quellen- und Zitatnachweise: keine.
Weiterführende, besonders ausgewiesene bibliografische oder sekundärliterarische Hinweise: keine.
Sach- oder Namensregister: Keine.
Geboren 10.12.1894 in Berlin, ermordet wohl im März 1943 in Auschwitz, vielleicht gleich nach der Ankunft am 02.03. „selektiert“. Ältestes Kind eines renommierten Rechtsanwalts und seiner Gemahlin, damit auch die Älteste der insgesamt vier Geschwister: Gertrud, Margot, Georg, Hilde. 1930 stirbt die Mutter, Gertrud übernimmt schon während deren schwerer Krankheit die Pflichten im Haushalt. Während die drei Geschwister emigrieren können, verbleiben Gertrud und der Vater Ludwig Chodziesner in Deutschland, werden deportiert, wird jener am 13.02.1943 den Tod finden, Gertruds genaues Todesdatum ist unbekannt.
Nüchterne Daten, denen eigentlich nur noch eines hinzugefügt werden soll, ja muss: Die Familie war jüdisch, man glaubte sich offesichtlich voll assimiliert. Praktiziert wurde der Glaube nicht; erst durch die Anfeindungen fand der Vater den Weg in die Synagoge, beschäftigte sich Gertrud mit dem Hebräischen, sicherlich auch dem religiösen Hintergrund.
Auf 620 Seiten entfaltet Dieter Kühn seine „polyphone Biographie“ (Seite 470). Nicht nur die Dichterin kommt zu Wort, sondern auch Familienangehörige, wie der Vater, wie die Geschwister, ob nun in fiktiven oder realen Briefen und Wortmeldungen, es berichtet Hilde Benjamin, Ehefrau des Cousins Georg Benjamin. Im Kontext, ja als Kontrast dazu Stimmen aus der Zeit, beispielsweise von Annemarie und Ina Seidel, von Willy Cohn, von William L. Shirer, aber auch von Schreibern wie Gerhard Schumann, Hanns Johst oder Karl Josef Keller, mit dem – man mag es verstehen oder nicht – die Dichterin einen kurzen Urlaub verbrachte, dem ihr Herz zumindest zeitweise gehörte. Kühn zitiert ausführlich, gibt dem Zeitgeschehen in jeder Richtung genügend Raum, so dass mir ein großes Bild entworfen wird, nämlich das der Dichterin nicht nur vor ihrem familiären, sondern auch zeithistorischen Hintergrund.
Auch Gertrud Kolmar selbst kommt ausführlich zu Wort, Dieter Kühn würdigt sie, lässt ihr die Ehre widerfahren, die ihr gebührt, merkt auch kritisch an, besonders – natürlich und vor allen Dingen, wenn man Kühns Interpretation und Sicht folgt – zu der Dichterin Faible für Robespierre.
Kühns Buch über diese ganz eigene, sehr besondere lyrische Stimme habe ich nicht ungern gelesen, seine Vorgehensweise und sein Ansatz habe ich als sehr interessant empfunden. Trotzdem hat es einen gewissen Zwiespalt in mir ausgelöst: Es ist für mich eher ein Buch über eine Familie, die durch die historischen Gegebenheiten sich zu ihrer jüdischen Herkunft bekennen musste und deren eines Mitglied Dichterin war. Dieter Kühn bettet Gertrud Kolmar zu sehr in die familiäre und politisch-gesellschaftliche Situation ein, sie tritt mir nicht klar genug hervor, bleibt zu sehr Teil der Familie. Auch wenn das aus Sicht Kühns in Kolmars Sinn gewesen wäre (sh. dazu unter anderem Seite 620), darf ich mir wohl die Frage stellen, ob es Sinn und Zweck einer Biographie ist, im Sinne des Dargestellten zu schreiben. Für meinen Geschmack stellt er ein wenig zu sehr auf die Bescheidenheit, das Zurücktreten zugunsten der Familie von Gertrud Kolmar ab, ich meine wahrgenommen zu haben, dass er mit ihrer Auffassung von Lebensgestaltung so seine Probleme hat, ebenso mit ihrer wiederholte Weigerung, Deutschland zu verlassen, so lange es noch möglich war.
Im Großen und Ganzen hat sich das Buch von mir gut und flüssig lesen lassen, auch wenn der Wechsel von Realität und Fiktion, von Stimme zu Stimme, von Verfolgten zu Verfolgern, von Überlegungen Kühns zu Leben und seiner Interpretation des Werks und zu seiner eigenen Vorgehensweise im Buch manchen Widerhaken für mich bot. Es war, ich wiederhole mich, eine sehr interessante Lektüre. Dieter Kühn wird mir wohl verzeihen, wenn ich die Werk-Zitate von Gertrud Kolmar als das Herausragende dieses Buches betrachte.
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