Ich war sehr überrascht, als ich das Buch, nein, das Büchlein, schließlich in Händen hielt. Der Klappentext hatte Mystisches versprochen, und nun hatte das Ganze kaum mehr als 180 Seiten, in großer Schrifttype gesetzt.Das wäre ja in wenigsten Stunden gelesen. Und ich sollte recht behalten. Fast wie ein Schnellzug sauste die Geschichte an mir vorbei, die im Klappentext schon fast vollständig geschildert ist: in einem einsamen Dorf wird plötzlich ein Seil auf der Wiese gefunden, das in den Wald führt, und dessen Ende man nicht sieht. Die Dorfbewohner können sich der Faszination des Rätsels nicht entziehen, und schicken einen Erkundungstrupp los - der viel länger ausbleibt, als erwartet...
Doch entgegen meiner Vermutung, verleitet mich die Kürze und ausgesprochen leichte Lesbarkeit nun gerade nicht (!) zu einer vorschnellen Aburteilung als "seichte Kost". Das Buch hat Untiefen, die mir erst jetzt, einen Tag nach der Lektüre, so richtig zu Bewusstsein kommen.
Irgendwo hatte ich einen Vergleich mit "Die Wand" von Marlen Haushofer gelesen, und dem kann ich zustimmen. Auch die "Wand" las sich, oberflächlich gesehen, eher langweilig und leicht, hatte aber eine Bedeutung, die weitaus tiefer reicht. Auch das "Seil" geht in seiner Bedeutung weit über den reinen Text hinaus. Ich würde sogar noch einen weiteren Vergleich ziehen wollen - ich dachte auch an "Das Experiment". In extremen Situationen treten nämlich oft die wahren Charaktereigenschaften der Menschen hervor. So auch hier. Vom Sich-Aufspielen, über das Dozieren, Plündern, Aufwiegeln und letztlich Morden, ist alles dabei.
Nur mit der Aufschrift "Roman" auf dem Cover bin ich nicht recht glücklich. "Parabel", wie im Klappentext, trifft es weitaus besser. Dafür spricht auch, dass die Geschichte nicht eindeutig "verortet" ist, weder was Zeit, noch Schauplatz betrifft. Ebenso ist der Beginn recht abrupt, wie auch das Ende. Doch all das hat mich weniger gestört. Ich habe, trotz des eher gemächlichen Tempos, teilweise den Atem angehalten, und gebannt beobachtet, wie der sehr eigenwillige Expeditionstrupp nach und nach verrohte. Hier lag für mich die wahre Bedeutung des Textes. Da war mir das offene Ende schon fast egal.
Was mir jedoch nicht egal war, und was auch zu einem Stern Abzug führt, sind zwei Tatsachen. Erstens hat das Buch keinen eindeutigen Protagonisten, keinen Erzähler. Ich finde, durch einen solchen hätte die Geschichte an Eindringlichkeit gewonnen. Zweitens hat mich einfach die Rollenaufteilung gestört - die Männer ziehen los, die Frauen bleiben daheim und hüten die Häuser. Auch wenn die Frauen letztlich das bessere Los gezogen hatten, so habe ich mich doch ein wenig geärgert.
Insgesamt würde ich das Buch allen empfehlen, die willens und fähig sind, hinter die Fassade eines oberflächlich leicht zu lesenden Textchens zu schauen, um sich Fragen über die wahre Natur des Menschen zu stellen.