Aus der Amazon.de-Redaktion
Am 5. September 1938 hilft DeFoe Russet beim Aufhängen von neuen Bildern in einem kleinen Museum in Neuschottland. Er beachtet die acht neuen Bilder aus Holland nicht einmal, dafür wird er später genug Zeit haben, denn nicht umsonst ist der 25jährige einer der zwei Wärter im Halifax Glace Museum, die auf die Kunstgegenstände aufpassen und die Leute davon abhalten, die Bilder anzufassen. DeFoe weiß auch, daß man "als Museumswärter Gefühle für die Bilder entwickelt". Er sagt von sich selber: "Ich lerne die Bilder besser kennen als die Menschen in meinem Leben".
Der andere Wärter ist sein Onkel Edward, der ihn mit neun Jahren aufnahm als seine Eltern in einem Zeppelin abstürzten. Edwards Einsatz als Kollege und als Familienersatz ist sicherlich nicht immer der beste. Er verbringt seine Nächte im Hotel der beiden, Lord Nelson, mit Trinken, Poker und Frauen und seine Tage mit Kater, Übernächtigung und den Museumsbesuchern, die in der Regel eine Plage sind. Dafür ist aber zumindest DeFoe der perfekte Angestellte. Sein Privatleben läuft allerdings nicht in so geregelten Bahnen. Die letzten zwei Jahre hat er frustriert mit einer Frau verbracht, die auf dem örtlichen jüdischen Friedhof nach dem rechten schaut. Es scheint, daß er den Großteil seiner Energie dafür aufwendet, Imogen Linnys Launen oder das Ausmaß ihrer Kopfschmerzen abzuschätzen und sich den Kopf über ihre wirren Gedanken und ihr nächtliches Philosophieren zu zermartern. Im weiteren Verlauf des Romans wird Imogen immer besessener von einem der neuen Bilder "Jewess on a Street in Amsterdam".
Schon bald setzt DeFoe für Imogen seine Karriere aufs Spiel -- er klaut das Bild für sie. Doch dies ist nur eins der Geheimnisse in Howard Normans außergewöhnlichem und eindrucksvollem Roman Der Bilderwächter. Durch DeFoes Augen erhält auch der Leser einen Eindruck der Anziehungskraft des Bildes, auf dem eine Frau mit einem Leib Brot in der einen Hand und mit der anderen ein Fahrrad schiebend zu sehen ist, im Hintergrund ein Schaufenster mit Zahnbürsten. "Über die Zahnbürsten mußte ich lachen, sie machten mir augenblicklich gute Laune", erzählt er. "Doch dann blickte ich in das Gesicht der Jüdin; der Ausdruck auf dem Gesicht nahm mich sofort gefangen. Dieses Gesicht spiegelte eine verzweifelte Traurigkeit wieder. Und das sind meine eigenen Worte. Ich trat so nah es ging an das Bild heran, ohne es zu berühren. Ich -- ein Museumswärter. Ich streckte die Hand aus und berührte das Gesicht der Frau, und ich zog meine Hand nicht schnell wieder zurück oder ermahnte mich, zurückzutreten".
Howard Normans Hauptfigur wäre wahrscheinlich in der Lage, sich zurückzurufen, denn er ist ein Mann, der sich durch das endlose Bügeln von weißen Hemden beruhigt. Er hat auch die feste Absicht, diesen Job für die nächsten 30 Jahre zu behalten. Doch die Menschen um ihn herum verfügen nicht über seinen Instinkt für Ordnung, und es scheint, als ob sie ihn zu dieser großen selbstzerstörerischen Tat treiben. Die Neuigkeiten über Hitlers Vorrücken in Europa lassen ihn verstehen "wie unbedeutend Halifax geworden ist". Auch Imogen fühlt sich in ihrem Leben eingeengt, doch ihre Reaktion ist wesentlich extremer. Sie zwingt sich wortwörtlich dazu, die Frau des Bildes zu sein. In einer seltsamen Szene des Buches -- und Norman hat eine seltene Begabung dafür, Extremes als Alltägliches darzustellen -- sieht DeFoe, wie Imogen den Platz des Museumsführers einnimmt. Sie spricht mit wenig überzeugendem holländischen Akzent und, als Jüdin gekleidet, erzählt sie den verwunderten Besucherinnen ihre Version des Geschehenen. "Während er mich malte, haben wir uns ineinander verliebt. Einige Wochen zuvor war ich durch den Tod meiner Eltern einem Nervenzusammenbruch nahe. Die Heirat mit Joop Heijman half mir, mich zu erholen. So, Sie kennen jetzt meine tiefsten Geheimnisse." Edwards Kommentar ist wie immer spöttisch und trifft den Nagel auf den Kopf: "Das Leben in Halifax war mal so einfach -- oder, DeFoe?"
Imogen steigert sich immer mehr in ihre "neue Identität" hinein und ist entschlossen, nach Amsterdam zu reisen, um sich "wieder mit dem Maler zu vereinen". Howard Norman schreibt so überzeugend und außergewöhnlich, daß es kein Wunder ist, wenn diejenigen, die sich dem Glace Museum verbunden fühlen, diesen sinnlosen, aufdringlichen und gefährlichen Plan vorantreiben. Der Bilderwächter ist eine aufregende Beschreibung einer Gruppe von Menschen (mit sehr seltsamen Namen), die Kunst -- und vielleicht sogar das Leben -- zu nah an sich herankommen lassen. --Kerry Fried -- Dieser Text bezieht sich auf eine vergriffene oder nicht verfügbare Ausgabe dieses Titels.
Kurzbeschreibung
Aus Liebe zu der jungen Jüdin Imogen entwendet der Museumswächter DeFoe Russet ein Gemälde. Sie aber identifiziert sich so sehr mit der im Bild dargestellten Frau, dass sie deren Spuren bis in das von den Nazis besetzte Amsterdam folgt.
Meine Meinung
Habe ich gerade während des Eulens ausgelesen. Ein wirklich besonderes Buch.
Der Inhalt ist in der Amazonrezension ja schon ausführlich wiedergegeben, wenn DeFoe das Bild auch nicht "schon bald" sondern erst relativ spät entwendet.
Sprachlich ausgewogen verknüpft er hier die Geschichte einer schwierigen Beziehung mit dem Leben mit der Kunst - in der Kunst - für die Kunst. Das Ganze eingebettet in die bewegende Zeit der Machtergreifung Hitlers.
Gegen Ende wird das eher ruhige Buch dann kurzzeitig sehr dramatisch, die Bedrohung geht aber ganz klar von Europa aus.
Leider auch schon vergriffen, aber noch im Amazon-Marketplace erhältlich.