Parallelgeschichten – Péter Nádas

  • Zum Buch:
    Zwanzig Jahre nach seinem international gefeierten Buch der Erinnerung legte Péter Nádas erneut ein Opus magnum vor. Als die Parallelgeschichten 2005 in Ungarn erschienen, wurden sie als ein «Krieg und Frieden des 21. Jahrhunderts» begrüßt. 1989, im Jahr des Mauerfalls, findet der Student Döhring beim Jogging im Berliner Tiergarten eine Leiche. Mit dieser kriminalistischen Szene beginnt der Roman, eröffnet zugleich aber auch die weitgespannte Suche nach einer düsteren Familiengeschichte, ihrer Schuld und Mitschuld. Ein zweiter Hauptstrang ist die Geschichte der Budapester Familie Lippay-Lehr und ihrer Freunde, deren persönliche Schicksale mit der ungarischen und deutschen Geschichte verknüpft werden. Die historischen Markierungen sind die ungarische Revolution 1956, die nachrevolutionäre Zeit, der ungarische Nationalfeiertag 15. März 1961 und, rückblickend, die Deportation der ungarischen Juden 1944/45 bis zur Vorkriegszeit der dreißiger Jahre in Berlin. Der Roman entwirft ein Panorama europäischer Geschichte, in einer überwältigenden Fülle von Geschichten, die keine realistische Konstruktion zu einer Geschichte vereinen könnte. Die eine große Metaerzählung des Romans ist die Geschichte des Körpers, der für Nádas zum Schauplatz der Ereignisse wird. Der männliche und weibliche Körper und seine Sexualität prägen die Realität der Personen, sie sind das «glühende Magma, das in der Tiefe ihrer Seele und ihres Geistes ruhende Zündmaterial», das die Parallelgeschichten zur Explosion bringen. Aufgrund seines analytischen Scharfblicks und der Kraft seiner Personengestaltung stellt die internationale Kritik Péter Nádas neben Proust. Wenn dessen großer Roman am Beginn einer literarischen Moderne steht, dann mag diese in den Parallelgeschichten ihre Vollendung finden.


    Der Autor:
    Péter Nádas wurde 1942 in Budapest geboren. Er ist Fotograf und Schriftsteller. Sein 1991 auf Deutsch erschienener Roman „Buch der Erinnerung“ erhielt zahlreiche internationale Literaturpreise.


    Meine Meinung:
    Das Buch hat einiges an Gewicht. Das Buch ist mit einem Lesebändchen ausgestattet.
    Der Einband ist weiß, orange und schwarz die Farben von Name und Titel auf dem Buchrücken. Dünndruck, ein schönes Schriftbild, das sich gut lesen lässt.
    Eine Danksagung zu Beginn. Dann ein Motto, ein Zitat von Parmenides.
    1724 Seiten Romantext, daran anschließend ein Index.
    Der Roman besteht aus drei Büchern, unterteilt jeweils in mehrere Kapitel.


    Beim Verfassen dieser Buchvorstellung ist mir zum ersten Mal aufgefallen, dass Péter Nádas auch Fotograf ist, was mich insofern verblüfft hat, als ich beim Lesen des Öfteren den Eindruck hatte, der Autor wäre von einem Foto ausgegangen, einem Standbild, zu dem er eine Geschichte erzählt, vielleicht auch, was zu diesem Foto geführt hat und wie das Leben der Protagonisten sich im erzählten Hier und Jetzt darstellt. Und manchmal war da der Rand wie abgeschnitten, deutete sich eine weitere Geschichte an, die nicht zu Ende erzählt wird, wie bei einem Gruppenfoto, auf dem nicht alle abzulichtenden Personen wirklich abgelichtet sind, von manchen ist im günstigsten Fall wenigstens die Hälfte des Körpers zu sehen, sprich: Nicht alle Geschichten, die mir Peter Nádas versprochen hat, hat er auch wirklich erzählt.


    Man könnte auch an ein Labyrinth denken, mit einigen, vielleicht zu vielen blinden Gängen, und wie in jedem guten Labyrinth musste ich auch hier sehr aufmerksam sein und bleiben, um alles erfassen zu können. Ob ich wirklich alles verstanden habe, wage ich zu bezweifeln, zu umfangreich, zu viel wird mir berichtet, zu viel verlangt meinen Blick und vielleicht auch meine Empathie. Es erforderte von mir große, um nicht zu sagen extreme Aufmerksamkeit, um die „Parallelen“ zu entdecken, um zu verstehen, wo der Zusammenhang zwischen den einzelnen Geschichten und Kapiteln ist, denn so eindeutig ist das keineswegs immer.


    Aber am ehesten kommen die „Parallelgeschichten“ für mich einem modern gestalteten Wandteppich nahe, einem Text-Gewebe, unendlich viele Personen, Gegebenheiten, Szenen, Gedanken, Gefühle aufnehmend, sie ineinander verwebend, verflechtend, verknüpfend, die einzelnen Fäden lassen sich manchmal sehr deutlich und breiten Raum einnehmend, manchmal versteckt, verwirbelnd in und hinter anderen Fäden wahrnehmen.


    Es ist schlicht unmöglich, eine einigermaßen plausible Inhaltsangabe zu dem Buch zu geben, man kann anführen, es nehme seinen Anfang bei einer Leiche in einem Berliner Park, ohne genau zu wissen, ob nun ein Kriminalfall vorliegt oder nicht. Man sollte auch sagen, dass über das Ungarn zu Zeiten der Judendeportationen und des niedergeschlagenen Aufstands berichtet wird, dass immer wieder Ausflüge in andere Zeiten und Orte stattfinden. Das Pesonal ist überaus interessant, gebrochene Figuren, die ich in einem Moment ihres Lebens kennenlernen und begleiten durfte. Es ist alles dabei, Adelige und Bürger, Arme und Reiche, Männer und Frauen, Kinder, die zu diesen Erwachsenen wurden, einige sicherlich realen Personen nachempfunden. Was genauere Angaben zum Inhalt erschwert, ist die Tatsache, dass es kaum reine Handlungsszenen gibt, immer wieder geschieht, was geschieht, auf mehreren Ebenen, sprich mit dem Körper, mit dem Verstand, mit dem Gefühl (so denn solches vorhanden). Es ist ein einzigartiges Gewebe aus Tun, Denken und Erinnern, untrennbar miteinander verwoben.


    Einen breiten Raum nimmt in dem Buch das ein, was in vielen Hinweisen zu dem Buch als das „Körperliche“ oder wie oben „die Geschichte der Körper“ bezeichnet wird. Peter Nádas nimmt kein Blatt vor den Mund, als Leser habe ich nicht die geringste Chance, seinen Beschreibungen ausweichen zu können, denn er webt darin immer wieder Sätze ein, die auf etwas anderes hinweisen, auf Gedanken, auf andere Geschichten, andere Umstände, andere Befindlichkeiten. Dazu ist er von einer Detaillierheit, die mir oftmals mehr als unangenehm war, zumal sie für mich gerade durch das exakte und analytische Beschreiben eines Geschlechtsaktes jegliche Erotik geradezu vertreibt, was die Szenen allerdings gerade auch nicht in den Geruch von Pornografie aussetzen. Obwohl ich irgendwann verstanden habe, warum Nádas die körperliche Seite ausführlich und sicherlich mehr als anschaulich betont, hat es sich mir nicht erschlossen, warum diese wahrlich exaltierten Beschreibungen sein mussten, inwiefern sie für mein Verständnis von Personen und Geschichte(n) absolut notwendig waren. Denn diese Szene, um die es wohl hauptsächlich geht, die einen Geschlechtsakt in einer noch nie gelesenen Länge (und man muss wohl auch sagen: Breite) darstellt, lässt allzu leicht darüber hinwegsehen, dass es dem Paar an einem gebricht, dem beide, die Frau sicherlich mehr als der Mann, sich allzu gerne hingeben würden, nämlich der Liebe. Es ist eines der vielen Phänomene dieses Buches, dass es eben keines über die Liebe, sondern eher über die Abwesenheit derselben ist. Liebe gibt es nach meinem Empfinden nur zwischen zwei Personen, die man als Leser einerseits bedauert und andererseits fast verachtet, nämlich zwei Lagerinsassen, die selbst im Laufe ihres Lebens zu Mördern wurden und schlussendlich gemordert werden, und es gibt sie an diesem Ort, an dem man sich schwerlich suchen würde, nämlich einem Konzentrationslager der Nationalsozialisten.


    Die Sprache des Autors empfinde ich als überaus angebracht und zu der von ihm gewählten Erzählweise passend; sehr lesbar, exakt beobachtend, ja sezierend wird mir dargeboten, was er mich wissen lassen möchte. Fast grausam erschien er mir manchmal in seiner Ehrlichkeit. Dabei wechselt er mit einer wunderbaren Eleganz innerhalb der Kapitel in verschiedene Szenarien, teils auch wieder zurück; mir schien es, als wenn der Text eher fließt als Schritt für Schritt voranschreitet. Dieses (Wort-)Gewebe aus Handlung, Denken und Fühlen habe ich noch nie in einer solchen Dichte, in einer solchen Strenge, wenn mir dieses Wort erlaubt ist, und Unbedingtheit lesen dürfen. Ich würde nicht einmal behaupten wollen, dass das Buch nur in einem Stil geschrieben ist, mehr als deutlich wird es an der Tatsache, dass es einerseits – und einen Großteil des Buches sprechenden, übrigens keineswegs allwissenden, schon gar nicht über den Dingen stehenden – Erzähler gibt, andererseits aus der Ich-Perspektive der – vermuteten – Hauptfigur Kristóf (fast weiß er zu viel als Ich-Erzähler, behält aber das, was ich mal in Ermangelung eines anderen Wortes seine Naivität nennen möchte) erzählt wird.


    Noch in der ersten Hälfte des Buches hätte ich gesagt, dass ich in große Schwierigkeiten gerate, wenn ich gefragt werde, ob ich das Buch empfehle. Aber je mehr ich verstand, die Parallelen zu lesen, die Fäden zu entwirren, je mehr mir aufging, was Nádas mir da eigentlich alles erzählt, desto begeisterter wurde ich und ich darf sagen, es hat mir gefallen, die Personen, ihre Persönlichkeit, ihre Charaktere und Lebensumstände kennenzulernen, allerdings bin ich immer noch nicht der Meinung, dass ich alles wirklich bis ins Letzte von einer Person wissen muss. Péter Nádas ist ein großartiger Erzähler, in den „Parallelgeschichten“ erzählt er mir aber beinahe zu viel, als dass ich es bei einem Lesen erfassen könnte. Er hat mich ungemein gefordert, ja fast provoziert, er hat meiner Phantasie da – und nur da - Raum gegeben, wo es um das – frühere wie weitere - Schicksal der Personen ging, „die Geschichte der Körper“ möchte ich davon ausnehmen. Es rührt an Tiefen und Untiefen, die auszuloten man sich Zeit nehmen muss, es hat mehrere Ebenen, so kommt es mir wenigstens vor, es wagt Bilder, die geradezu an Mystisches anklingen.


    Auch wenn es pathetisch klingt: Ich verneige mich vor diesem Meisterwerk, vor dem Können und Wissen dieses Schriftstellers. Und nicht im Mindesten werde ich überrascht sein, wenn Péter Nádas für dieses Buch hohe und höchste Auszeichnungen bekommt, auch dann nicht, wenn es um jenen Preis geht, den man die höchste literarische Auszeichnung nennt.


    Edit: Wie konnte ich das vergessen?: Die Übersetzung besorgte Christina Viragh und wie gut sie das getan hat, beweist schon die Tatsache, dass ich an keiner Stelle des Buches das Gefühl hatte, eine Übersetzung zu lesen. Eine Verneigung auch vor ihr!


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  • Weil es thematisch hierher gehört:


    Kein „Buch zum Buch“, nämlich zu den „Parallelgeschichten“, sei das, behauptet der Klappentext. Und, was ist es dann, fragt die Leserin? Es sei, so dort weiter, „eine Einladung: zum assoziativen Erkunden ebenso wie zur intellektuellen Tiefenbohrung“. Aha.


    Entschuldigung, werter Rowohlt-Verlag, aber für mich ist es ein Buch zum Buch, denn allein schon der Artikel der Übersetzerin Christina Viragh, viel mehr aber noch der von Viktória Radics (Literaturkritikerin, Schriftstellerin und Übersetzerin, so entnehme ich dem Autorenverzeichnis), „Statt einer Kritik“ betitelt, waren im Nachhinein eine große Hilfe, das von Péter Nádas Geschriebene für mich zu sortieren, zu bewerten, wobei ich auch einigermaßen beruhigt festgestellt habe, dass Frau Radics und ich in sehr vielem übereinstimmen, besonders was die Erzählstimme und die Personen des Romans, ganz besonders aber das mystische Moment anbetrifft.


    Im Einzelnen:
    Christina Viragh beschreibt sehr anschaulich über die Problematik der Übersetzung und gibt einen Einblick in den Text, es gibt den schon angesprochenen Artikel von Viktória Radics, der auf mich wie eine Interpretation wirkt, es gibt ein sehr interessantes Interview mit Péter Nádas, geführt von Gábor Németh, zwei recht kleine Essays von Nádas und diverse „Briefe, Skizzen, Bilder und Quellen“, nicht zu vergessen die zahlreichen Fotos, zum Teil kommentiert durch Szenen aus den „Parallelgeschichten“.


    Das Buch habe ich erst ein paar Tage nach Beendigung der „Parallelgeschichten“ gelesen, zur Vertiefung ist es sehr gut geeignet, ebenso, um einen Einblick in das Schreiben bzw. Recherchieren des Autors zu gewinnen (man lese nur einmal den Brief von Nádas an Dr. Iván Berlin und dessen Antwort – Seiten 50 bis 53 zur … ähem … nennen wir es „Tröpfchenproblematik“, um einen Eindruck von des Autors Akribie zu erhalten).


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  • :wave An dieser Stelle noch einmal ein dickes Dankeschön für deine ausführliche Rezi und dass du uns in dem anderen Thread an deiner Auseinandersetzung mit dem Buch hast teilnehmen lassen. Das Buch hat den Weg in meine Wunschliste gefunden und wird sicherlich von mir gelesen.

  • Bitte, sehr gern geschehen.


    Ich wünsche jedenfalls jedem, der sich an das Buch wagt, eine gute, auf- und anregende Lektüre. Ein bisschen, dass kann ich mit Jörg Plath (in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Brücke Berlin Preises) sagen, bin auch ich neidisch auf alle, denen diese Leseerfahrung noch bevorsteht.

  • Zitat

    Original von Lipperin
    Die Übersetzung besorgte Christina Viragh und wie gut sie das getan hat, beweist schon die Tatsache, dass ich an keiner Stelle des Buches das Gefühl hatte, eine Übersetzung zu lesen. Eine Verneigung auch vor ihr!


    Das Christina Viragh, die dieses Jahr schon für ihre Übersetzungen aus dem Ungarischen den Europäischen Übersetzerpreis Offenburg bekam, für ihre Arbeit an Parallelgeschichten nicht nur den Brück Berlin-Preis sondern aich den Preis der Leipziger Buchmesse gewann, das ist schon beeindruckend! :anbet