'Wendekreis des Krebses' - Seiten 001 - 105

  • Wobei in diesem Zusammenhang vielleicht die Frage gestellt werden sollte:
    Sind die Bücher von Henry Miller "versaut"?


    Ich würde hier mit einem klaren "Nein" antworten. Millers Sprache ist nun einmal direkt und er nennt die Dinge beim Namen. Er redet nicht drumherum.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Ich stimme dir absolut zu, finde Millers Sprache diesbezüglich legitim, dem Buch angemessen, ja erforderlich. Dennoch kann diese Frage wohl nur individuell beantwortet werden, weil sie die ganz persönliche Einstellung zu Sexualität und deren literarischer Darstellung betrifft.


    Edit: Über das Wort "versaut" musste ich ein bisschen lachen. Dieser Begriff gehört schon so lange nicht mehr zu meinem Vokabular, dass ich mich kaum erinnern kann, wann ich ihn das letzte Mal benutzt habe. :lache Passend, dass du ihn in Anführungszeichen gesetzt hast.

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von harimau ()

  • Als bei einem der letzten Eulentreffen im Schachcafé eine schriftstellernde Eule äußerte, dass sie dabei wäre, wenn eine LR zu Henry Miller stattfinden würde, war ich Feuer und Flamme von dieser Idee.
    (Dazu muss erwähnt werden, dass ich an diesem Abend nüchtern blieb und dieser Einfall zwischen dem ein oder anderen Glas Wein bei dieser Eule entstand.)


    Über Miller's Leben hatte ich einiges gehört, aber von seiner Literatur wusste ich eigentlich nichts.
    Um so erstaunter bin ich jetzt in seinen "Wendekreis des Krebses" eingestiegen und bedaure, nach den ersten fünfzig Seiten keine Erläuterungen zur Hand zu haben.
    Zweifelslos verzichtet Miller auf eine stringente Handlung und liefert den Leser gnadenlos Versatzstücken der Existenz eines amerikanischen Schriftstellers in Paris in den mutmaßlich dreißiger Jahren aus.
    Geprägt ist das karge Leben vom Schreiben, vom neidisch schielenden Auge auf die Kollegen, Warten auf die Schecks aus Amerika (wobei ich noch nicht an der Stelle angelangt bin, die darüber informiert, dass die Schecks von der ehefrau kommen bzw. ich diese Notiz überlesen habe), Besuch von Cafés, auch wenn kein Geld vorhanden ist und dem Sinnieren über und dem gelegentlichen Kopulieren mit dem anderen Geschlecht.
    Dabei zeigt sich fraglos, dass Miller ein Mann des Wortes ist; er formuliert stark und ohne Umschweife, direkt und oftmals stark herablassend bis verletzend.


    Auffällig ist meines Erachtens, wie gebildet Miller ist und wie weit gereist er zu sein scheint. Als "Wendekreis des Krebses" erscheint ist er 43 Jahre alt.
    Er kennt sich in klassischer Musik aus, hat offensichtlich halb Europa bereist (u.a. wird Minsk erwähnt) und besitzt umfangreiche Literaturkenntnisse und das zu einer Zeit, in der er in Geldnöten ist und er zu Recherchezwecken Wikipedia noch nicht bemühen konnte.


    Nachlesen möchte ich auf jeden Fall nochmal die Hintergründe dazu, warum es in den 20-er bis 30-er Jahren amerikanische Schriftsteller nach Paris gezogen hat.
    In einer Biografie von Simone de Beauvoir hatte ich über diesen Zustrom an amerikanischen Intellektuellen bereits etwas gelesen, was ich dank meiner Vergesslichkeit momentan nicht abrufen kann.


    Noch ein Wort zum Thema Sexualität, um das der Leser/die Leserin bei Henry Miller nicht herumkommt.
    Das Buch ist 1934 veröffentlich worden und der Klappentext meiner Ausgabe spricht davon, dass das Anliegen darin bestünde, Tabus hinwegzufegen und einen Angriff gegen eine Gesellschaft zu starten, die den Boden dafür bereitet, auf dem alle Laster entstünden.
    Miller's Ziel glaube ich verstanden zu haben, auch wenn die ersten fünfzig Seiten mir eher den Eindruck vermittelt haben, dass es weniger um das Aufbegehren gegen bestehende Konventionen geht, als darum, billig zu provozieren oder l’art pour l’art zu betreiben.
    (Gegen den ersten Gedanken spricht allerdings, warum Miller sich die Mühe mit diesem Buch machte, wenn nicht klar war, ob es je veröffentlicht werden würde.)
    Monogamie abzulehnen und sexuelle Freiheit zu praktizieren stehen für den Protagonisten im Mittelpunkt, doch bislang sehe ich noch kein Gegenkonzept, das den Protagonisten (Miller's Alter ego?) erfüllt, sondern nur einen dauerhaft nörgelnden Zeitgenossen, der im künstlerischen Selbstmitleid badet und der mit seiner derben Sprache weder vor dicken Frauenhintern noch vor Juden Halt macht.


    Dann noch eine letzte Frage: Hat ein Mitleser/eine Mitleserin sowohl die englische als auch die deutsche Ausgabe gelesen? Irgendwie beschleicht mich das Gefühl, dass es Abweichungen gibt.


    Soweit meine ersten undifferenzierten Gedanken.


    Edits: Fehlerbeseitigung.

  • Ich moechte nur anmerken:
    Das Wort versaut gehoert zu meinen Lieblingsworten, und es gibt kaum ein groesseres Kompliment, das ich einem Roman machen kann.

  • Zitat

    Original von Salonlöwin
    Als bei einem der letzten Eulentreffen im Schachcafé eine schriftstellernde Eule äußerte, dass sie dabei wäre, wenn eine LR zu Henry Miller stattfinden würde, war ich Feuer und Flamme von dieser Idee.
    (Dazu muss erwähnt werden, dass ich an diesem Abend nüchtern blieb und dieser Einfall zwischen dem ein oder anderen Glas Wein bei dieser Eule entstand.)


    Ich fühle mich angesprochen. Werde heute Abend mit dem Lesen beginnen und meinen Senf beisteuern!

    Ship me somewhere's east of Suez,
    where the best is like the worst,
    where there aren't no ten commandments
    an' a man can raise a thirst


    Kipling

  • Zitat

    Original von Voltaire
    Wobei in diesem Zusammenhang vielleicht die Frage gestellt werden sollte:
    Sind die Bücher von Henry Miller "versaut"?


    Ich würde hier mit einem klaren "Nein" antworten. Millers Sprache ist nun einmal direkt und er nennt die Dinge beim Namen. Er redet nicht drumherum.


    Versaut, finde ich, ist nicht das richtige Wort (und was ist eigentlich "versaut" ;-) ).
    Er schreibt direkt, beleuchtet schonungslos auch die Schmuddelecken, wobei jegliche Schönheit, die Menschen in ihrer Unvollkommenheit und Körperlichkeit besitzen können, verloren geht, was sicher auch so gewollt war.

  • Zitat

    Original von Charlie
    Ich moechte nur anmerken:
    Das Wort versaut gehoert zu meinen Lieblingsworten, und es gibt kaum ein groesseres Kompliment, das ich einem Roman machen kann.


    Da sieht man mal wieder, wie unterschiedlich ein Wort besetzt sein kann. Für mich gehört "versaut" ins Umfeld verklemmt kichernder Oberstufenschüler, zu denen du mit Sicherheit nicht gehörst. Ich nehme selbstverständlich keine Deutungshoheit für mich in Anspruch. :grin


    @ Salonlöwin: Ich lese momentan die englische Fassung, damals war es die deutsche. Leider liegt zu viel Zeit dazwischen, um etwaige Abweichungen festzustellen.


    Ich habe übrigens vor Jahren die Miller-Biographie von Mary Dearborn gelesen - und nach zwei Dritteln abgebrochen, weil ich diesen Kerl einfach nicht mehr weiter durch sein Leben begleiten mochte. Miller erschien mir als ein unerträglicher Egomane, undankbarer Schnorrer und emotionaler Vampir, dem ich nicht gern über den Weg gelaufen wäre. Aufgrund des starken autobiographischen Bezugs in Wendekreis des Krebses hatte ich befürchtet, Werk und Autor nicht sauber genug voneinander trennen zu können, was aber nicht der Fall ist. Obwohl der Roman einige mir nicht sonderlich sympathische Charakterzüge zu Tage treten lässt, lese ich ihn mit dem allergrößten Vergnügen. :-)

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann

  • Hallo harimau,


    Du sprichst einen aus meiner Sicht nicht ganz unwichtigen Aspekt an: Der starke autobiografische Zug dieses Buches.
    Mehr als einen kurzen Abriss über das Leben von Miller habe ich bisher nicht gelesen, stelle ihn mir aber unentwegt als unsympathischen und bislang aber noch konsequenten Akteur des Buches vor.


    Zudem wundert mich meine eigene Einstellung zu unserer Lektüre: Weder bin ich begeistert noch fasziniert oder angewidert. Emotionslos - so glaube ich - trifft es am besten.


    [QUOTE]Original von Charlie: Ich moechte nur anmerken: Das Wort versaut gehoert zu meinen Lieblingsworten, und es gibt kaum ein groesseres Kompliment, das ich einem Roman machen kann. [/QUOTE


    Hallo Charlie,
    hmm, ganz passend finde ich die Beschreibung "versaut" bislang noch nicht.
    Irgendwie stelle ich mir den nicht ganz vierzigjährigen Knaben in seiner zweiten/dritten Pubertät und als Möchtegern-Casanova vor, der so recht nicht zum Zuge kommen mag. Die eigenen Defizite wurden bisher auch elegant unter den Tisch fallen gelassen.
    Und mich beschäftig immer noch die Frage, warum Amerikanerinnen die schönsten Frauen sein sollen, wie es an einer Stelle im Text heißt.

  • So, nach vielen geplanten wie ungeplanten Lesepausen bin ich mit dem ersten Abschnitt durch - und ziemlich begeistert. Zu einer halbwegs seriösen Textanalyse fühle ich mich nicht in der Lage, was auch in meiner Art des Lesens begründet liegt. Ich lasse einzelne Sätze und Passagen eher auf mich wirken, als dass ich sie intellektuell zu verstehen versuche - und habe dennoch das Gefühl, nichts Wesentliches zu verpassen. Als "Einverleiben", wie Charlie es so schön nannte, würde ich es für mich nicht bezeichnen, aber der Abstand ist gering.


    Wie schon erwähnt, weist der Roman keine stringente oder gar chronologische Handlung auf. Anfangs werden viele Namen genannt und oftmals extrem kurze, mit ihnen verbundene Szenen geschildert, ohne dass die Figuren vorgestellt wurden oder ich ihre Rolle und ihr Verhältnis zueinander verstand. Hat mich das gestört? Nein. Weil mir allein wichtig schien, was der Autor von ihnen losgelöst mit der jeweiligen Szene sagen will, bzw. was sie in ihm bewegt hat. Später, mit wiederholtem Auftauchen, bekommen die anderen Protagonisten langsam Konturen, oft scharf geschnitten, auf wenige Eigenschaften reduziert und selten vorteilhaft. Es bleibt allerdings dabei, dass sie - direkt oder indirekt - hauptsächlich in ihrer Wechselwirkung mit dem Erzähler reflektiert werden.


    Der Aufbau des Romans erinnert mich an ein Mosaik, dem ständig neue Teilchen hinzugefügt werden, ohne dass die Hoffnung besteht, es jemals vollständig zusammensetzen zu können. In diesem Prozess entstehen und verlieren sich Gesamteindrücke von kurzer Haltbarkeit.


    Besonders gefallen hat mir u.a die Vor- und Gegenüberstellung der beiden Huren Germaine und Claude, sowohl sprachlich stark als auch von den Gedankengängen des Autors interessant (Leider muss ich hier zitieren, da die englische Seiteneinteilung nicht auf die deutsche zu übertragen ist):


    "Germaine was a whore all the way through, even down to her good heart, her whore's heart which is not really a good heart but a lazy one, an indifferent, flaccid heart that can be touched for a moment, a heart without reference to any fixed point within, a big, flaccid whore's heart that can detach itself for a moment from its true center."


    "Whereas Claude - well, with Claude there was always a certain delicacy, even when she got under the sheets with you. And her delicacy offended. Who wants a delicate whore? ... And while it's all very nice to know that a woman has a mind, literature coming from the cold corpse of a whore is the last thing to be served in bed. Germaine had the right idea: she was ignorant and lusty, she put her heart and soul into her work. She was a whore all the way through - and that was her virtue!"


    Auf den Punkt, brutal, stark, oder?


    Sehr gut gefallen hat mir auch der literarische Wutausbruch Sylvester gegenüber, in dem er den Kerl seiner Geliebten Tania unverschämt schmäht und ihm verbal mehr als einmal feixend in die Eier tritt.


    "The cheek of him! To think that he can lie beside that furnace I stoked for him and do nothing but make water! My God, man, you ought to get down on your knees and thank me. Don't you see that you have a woman in the house now? Can't you see she's bursting?"


    Das ist sooo gemein, und sooo gut. :lache


    Andere Textstellen hingegen, wie z.B. die Passage über Papini, haben mich eher zum Überfliegen gereizt, fast gelangweilt. Auch in manche seiner Diskurse bläst er mehr heiße Luft als notwendig, allerdings immer wieder angereichert mit wahren Perlen. Dasselbe gilt für seine sprachlichen Bilder und sein Stilmittel der schier endlosen Aufzählungen, von denen ich viele brillant, andere wiederum manieriert und billig finde. Den Spaß am Lesen verderben sie mir jedoch nicht.


    Zitat

    Original von Salonlöwin
    Irgendwie stelle ich mir den nicht ganz vierzigjährigen Knaben in seiner zweiten/dritten Pubertät und als Möchtegern-Casanova vor, der so recht nicht zum Zuge kommen mag.


    Über diese Äußerung habe ich länger nachgedacht und bin mir nicht sicher, ob man Miller damit gerecht wird. Bei uns ist es gesellschaftlicher Konsens, einem Mann seines Alters, der hemmungslos seine sexuellen Bedürfnisse auslebt (oder es zumindest versucht) eine Midlife Crisis oder den Rückfall in die Pubertät zu attestieren, um ihn damit einerseits lächerlich zu machen und andererseits Treue, Mäßigung und ein "altersgerechtes Benehmen" als moralische Vorgaben unangreifbar zu erhalten. Was aber, wenn er im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte beschließt, auf diese reglementierenden Werte zu scheißen (Ihr seht schon, Millers Sprache färbt auf mich ab) und sich bewusst die Freiheit herauszunehmen, seinen Trieben Dominanz zu gewähren? Wenn ihm die geforderte Unterdrückung seiner Libido inakzeptabler erscheint als gesellschaftliche Ächtung? Wenn ihm schnörkelloses Ficken mehr bedeutet als sozialer Halt und ein respektvoller Umgang mit Frauen? Wie gesagt, ich unterstelle ihm die völlige Loslösung von diesen Werten, anders als dem fremdgehenden Bürger, der nach dem Erwischtwerden in Tränen der Reue ausbricht und sich zurück in alte Sicherheit wünscht. Ob dies auf Miller zutrifft, weiß ich nicht, aber denkbar wäre es.


    Zitat

    Die eigenen Defizite wurden bisher auch elegant unter den Tisch fallen gelassen.


    Er bennent sie nicht, erkennt sie vielleicht auch nicht, aber der Text spricht doch diesbezüglich eine deutliche Sprache.


    Zitat

    Und mich beschäftig immer noch die Frage, warum Amerikanerinnen die schönsten Frauen sein sollen, wie es an einer Stelle im Text heißt.


    Das weiß allein der Himmel - ich jedenfalls nicht. :grin

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann

  • Der erste Abschnitt ist fast beendet und veranlasst mich endlich dazu, meinen Ärger auszulassen.
    Bislang hat kein LR-Teilnehmer sich am Namen der Behausung gestört und deshalb frage ich jetzt, warum die Bruchbude unbedingt Villa Borghese heißen muss? Wer, der nicht in Rom am gleichnamigen Ort war, würde nicht an das prunkvolle Museum denken und sich einen eben solchen Wohnort vorstellen.
    Nun gut, immer wenn ich wieder in die Versuchung kommen sollte, werde ich daran denken, dass die Akteure ihre Exkremente im Eimer wegtragen dürfen :grin.


    Im Laufe der zweiten Hälfte dieses Abschnitts zeigt sich zwar kein Konzept, aber ich glaube so etwas wie einen roten Faden entdeckt zu haben. Die Figuren, und das sind einige, werden nach und nach eingeführt und radikal gezeichnet, fast ein Exempel statuiert Miller an den Dirnen Germaine und Claude.
    Dabei führt der Schriftsteller den Leser/die Leserin erfolgreich an der Nase herum. Nach dem Lob auf die Huren und ihre Dienste - man mag fast daran glauben, der Protagonist sei zum Menschenfreund geworden - deklassiert er sie und reduziert sie auf ihren Unterleib.
    Die Hoffnung, es nicht mit einem Nihilist zu tun zu haben, bleibt, solange der Protagonist von Tania schwärmt. Es bleibt abzuwarten, wie er über Tania denken wird, nachdem er mit ihr das Kopfkissen geteilt hat.
    Wunderbar auch die Situation zu lesen, als Sylvester, Tania und er beim essen aufeinander treffen. Miller bzw. seine Figur scheint fast ein wenig eifersüchtig zu sein.


    Als aufschlussreich empfinde ich übrigens die Schilderungen über das Essen und die gemeinsamen Mahlzeiten, die einen enormen Stellenwert deshalb erlangen, weil das Geld knapp ist (und vielleicht auch deshalb, weil der Protagonist einen Hang zum guten Essen hat).
    Die Idee, sich bei anderen zum Essen einzuladen, um ihnen das schlechte Gewissen zu nehmen, wie sie einen Bedürftigen sinnvoll unterstützen können,
    hat schon etwas sympathisches bis dreistes.
    Interessant auch, wie über Olga gedacht wird, die das Geld verdient, als Ernährerin auftritt und deren Kochkünste doch nicht gut genug sind, aber dafür reichen, bei ihr auf einem zerschundenen Bett Platz zu nehmen und zu essen.

  • Zitat

    Original von harimau: Zitat: Original von Salonlöwin Irgendwie stelle ich mir den nicht ganz vierzigjährigen Knaben in seiner zweiten/dritten Pubertät und als Möchtegern-Casanova vor, der so recht nicht zum Zuge kommen mag. Über diese Äußerung habe ich länger nachgedacht und bin mir nicht sicher, ob man Miller damit gerecht wird. Bei uns ist es gesellschaftlicher Konsens, einem Mann seines Alters, der hemmungslos seine sexuellen Bedürfnisse auslebt (oder es zumindest versucht) eine Midlife Crisis oder den Rückfall in die Pubertät zu attestieren, um ihn damit einerseits lächerlich zu machen und andererseits Treue, Mäßigung und ein "altersgerechtes Benehmen" als moralische Vorgaben unangreifbar zu erhalten. Was aber, wenn er im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte beschließt, auf diese reglementierenden Werte zu scheißen (Ihr seht schon, Millers Sprache färbt auf mich ab) und sich bewusst die Freiheit herauszunehmen, seinen Trieben Dominanz zu gewähren? Wenn ihm die geforderte Unterdrückung seiner Libido inakzeptabler erscheint als gesellschaftliche Ächtung? Wenn ihm schnörkelloses Ficken mehr bedeutet als sozialer Halt und ein respektvoller Umgang mit Frauen? Wie gesagt, ich unterstelle ihm die völlige Loslösung von diesen Werten, anders als dem fremdgehenden Bürger, der nach dem Erwischtwerden in Tränen der Reue ausbricht und sich zurück in alte Sicherheit wünscht. Ob dies auf Miller zutrifft, weiß ich nicht, aber denkbar wäre es.


    So völlig stimme ich mit Dir nach Zusammentragung der Fakten nicht überein.
    Da der Roman starke biografische Züge trägt, unterstelle ich vorab, dass Miller und sein Protagonist Gemeinsamkeiten teilen, wie beispielsweise die Staatsbürgerschaft, das Alter, das Leben in Paris und bedingt Miller's Ansichten über das andere Geschlecht, die alles andere als konventionell waren.
    Der Protagonist, geschätzte Mitte 30 - Anfang 40, lebt in Paris, fern von seiner Ehefrau und frönt seinen sexuellen Leidenschaften.
    Zumindest im ersten Abschnitt habe ich noch keine direkte Aussage darüber gefunden, dass er das Institut Ehe völlig ablehnt. Vielmehr wird - allerdings nur kurz - geschildert, wie lose sein Verhältnis zu Mona ist und dass er nach drei Jahren Ehe Eheringe für sie gekauft hat. Dies lässt zumindest vermuten, dass ihre Ehe nicht aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen wurde und er, als er den Ring in Paris veräußern muss, an ihre gemeinsame Zeit denkt.
    Ferner, und das muss an dieser Stelle konstatiert werden, zeigt der Protagonist keine Regungen wie ein schlechtes Gewissen, wenn die Schecks aus Amerika eintreffen. Er bekennt sich zu einem Leben in Freiheit, das nur durch seine Ehe möglich ist und ganz deutlich macht, was für ein Opportunist im Mittelpunkt dieser Geschichte steht.
    (An diesem Punkt verwechsle ich keineswegs meine Vorstellungen von einem Männerbild mit dem wie ein Akteur eines Romans ausgestaltet sein darf.)


    Mit wenig Geld in der Tasche zieht dieser Amerikaner nun durch Paris, sucht sich Dirnen, schwärmt für Tania und erwärmt sich für die eine oder andere Amerikanerin. Doch das vermeintliche Glück, das in der Freiheit liegt, hat er meines Erachtens im ersten Abschnitt noch nicht gefunden.
    Wie ich bereits oben schrieb, fehlt mir das Gegenkonzept zur Bürgerlichkeit, in der der Protagonist Erfüllung findet. Eine völlige Verweigerung reicht mir nicht, aber vielleicht bringen die folgenden Abschnitte Licht in die Dunkelheit.


    Edit: Fehlerbeseitigung.

  • Die autobiographischen Bücher "Plexus", "Nexus" und "Sexus" haben bei mir dazu geführt, den "Wendekreis" beim zweiten Lesen mit anderen Augen zu sehen. Fast alle - wenn nicht sogar alle - Schriften von Henry Miller sind autobiographisch geprägt.


    In seinen Büchern geht es Miller um das "selbstbestimmte Ich" - auch wenn er den Bereich der Selbstbestimmung einengt, dabei aber trotzdem das Ganze fest im Auge hat.


    Das wird schon nach wenigen Seiten im "Wendekreis" deutlich.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Zitat

    Original von Salonlöwin
    So völlig stimme ich mit Dir nach Zusammentragung der Fakten nicht überein.
    Da der Roman starke biografische Züge trägt, unterstelle ich vorab, dass Miller und sein Protagonist Gemeinsamkeiten teilen, wie beispielsweise die Staatsbürgerschaft, das Alter, das Leben in Paris und bedingt Miller's Ansichten über das andere Geschlecht, die alles andere als konventionell waren.


    Diesbezüglich mache ich es mir leicht, indem ich Miller und seinen Protagonisten 1:1 gleichsetze. Nach der Lektüre seiner Biographie scheint mir das halbwegs legitim.


    Zitat

    Zumindest im ersten Abschnitt habe ich noch keine direkte Aussage darüber gefunden, dass er das Institut Ehe völlig ablehnt. Vielmehr wird - allerdings nur kurz - geschildert, wie lose sein Verhältnis zu Mona ist und dass er nach drei Jahren Ehe Eheringe für sie gekauft hat. Dies lässt zumindest vermuten, dass ihre Ehe nicht aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen wurde und er, als er den Ring in Paris veräußern muss, an ihre gemeinsame Zeit denkt.


    Die Tatsache, dass Miller verheiratet war, bedeutet nicht zwangsläufig, dass er die Ehe als Institution im bürgerlichen Sinne ansieht und lebt. Im von Voltaire erwähnten "Sexus" ist nachzulesen, dass seine Beziehung zu Mona (dort und im richtigen Leben hieß sie June, wenn ich mich recht entsinne) recht sprunghaft und von Leidenschaften geprägt war. Mit Millers Treue war es schon in New York nicht weit her, ebensowenig mit dem, was man im Allgemeinen als Anstand und Respekt der Ehefrau gegenüber ansieht.


    Zitat

    Ferner, und das muss an dieser Stelle konstatiert werden, zeigt der Protagonist keine Regungen wie ein schlechtes Gewissen, wenn die Schecks aus Amerika eintreffen. Er bekennt sich zu einem Leben in Freiheit, das nur durch seine Ehe möglich ist und ganz deutlich macht, was für ein Opportunist im Mittelpunkt dieser Geschichte steht.


    Was für meine Theorie spräche - und mehr als das ist es nicht, wie ich oben schrieb. Um sie als meine Meinung zu vertreten, bin ich mir zu unsicher in der Einschätzung.


    Zitat

    (An diesem Punkt verwechsle ich keineswegs meine Vorstellungen von einem Männerbild mit dem wie ein Akteur eines Romans ausgestaltet sein darf.)


    Solche Engstirnigkeit hätte ich dir auch niemals zugetraut. :-)


    Zitat

    ... Doch das vermeintliche Glück, das in der Freiheit liegt, hat er meines Erachtens im ersten Abschnitt noch nicht gefunden.
    Wie ich bereits oben schrieb, fehlt mir das Gegenkonzept zur Bürgerlichkeit, in der der Protagonist Erfüllung findet. Eine völlige Verweigerung reicht mir nicht, aber vielleicht bringen die folgenden Abschnitte Licht in die Dunkelheit.


    Ich befürchte, da wird es duster bleiben. Rücksichts- und verantwortungslos ausgelebter Egoismus muss als Gegenkonzept zur Bürgerlichkeit in meinen Augen zwangsläufig scheitern. Es sei denn, das von Voltaire so genannte, auf den Trümmern seiner (Millers, nicht Voltaires ;-)) sozialen Existenz ausgelebte "selbstbestimmte Ich" stellt bereits die Erfüllung dar. Für mich persönlich eine mehr als fragwürdige Definition von "Glück".

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann

  • Vielleicht auch eine Bemerkung zur Sprache:
    Direkt, klar, ungeschminkt, teilweise brüsk und hart - aber dabei auch durchaus sensibel. Eine Mischung, die bei genauem Hinsehen eigentlich gar nicht möglich ist. Henry Miller aber schafft diesen sprachlichen Ritt auf der Rasierklinge.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Zitat

    Original von Salonlöwin
    Bislang hat kein LR-Teilnehmer sich am Namen der Behausung gestört und deshalb frage ich jetzt, warum die Bruchbude unbedingt Villa Borghese heißen muss?


    Ist die Villa Borghese wirklich eine Bruchbude? :gruebel Warum sollten dann wohlhabende Leute wie die Wrens dort einziehen? Ich habe es so verstanden, dass es Henry dort (auf Boris' Kosten, versteht sich) noch verhältnismäßig gut geht.

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann

  • Zitat

    Original von harimau


    Ist die Villa Borghese wirklich eine Bruchbude? :gruebel Warum sollten dann wohlhabende Leute wie die Wrens dort einziehen? Ich habe es so verstanden, dass es Henry dort (auf Boris' Kosten, versteht sich) noch verhältnismäßig gut geht.


    Das sehe ich ähnlich wie Herr Harimau. Übrigens - auch eine Villa kann durchaus eine Bruchbude sein. :grin

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • harimau, nenn es den Pariser Charme einer maroden Villa, dem die Amerikaner erliegen.
    Dann und wann schauen einzelne Amerikaner vorbei, die einziehen möchten, aber von ihnen hört man später nichts mehr.
    Gleich zu Beginn wird von Läusen geredet, die Miller Boris (?) aus den Haaren zieht, dann ekelt es Miller an, dass die Bettwäsche von Olga blutbefleckt ist und er während der Mahlzeiten nicht auf diesem Bett sitzen möchte. Zudem gibt es wohl auch Probleme mit den Sanitäranlagen, zumindest wurde das an einer Stelle angedeutet.
    Schließlich wird auf den Verdienst von Olga hingewiesen, die täglich zwei Paar Schuhe näht und damit kaum die Familie ernähren kann. Reichen diese Einkünfte für eine üppige Miete in einer Villa aus?
    Mag sein, dass ich mich täusche, aber ich werde auf diesen Aspekt bei der weiteren Lektüre achten.


    Edit: Ergänzend habe ich eine Stelle gefunden, die von eiternden Fenstern spricht, was auf den baulichen Zustand der Villa hinweisen dürfte, aber zu der Zeit wohl mehrere Häuser betroffen haben dürfte.

  • Ich habe jetzt die Hälfte des ersten Abschnittes gelesen, nicht, weil es mir nicht gefällt, sondern weil ich keine Zeit heute hatte.


    Meine ersten Eindrücke:
    Mir gefällt, dass das Buch "widersprüchlich" in sich ist.
    Auf der einen Seite die derbe und vor Kraft strotzende Sprache und dann unterbrochen von philosophischen Einschnitten in poetischer Sprache.


    Die Hauptfigur (hat sie eigentlich einen Namen?)will ein "Anti-Buch" schreiben will, in dem all das steht, was sonst in den Büchern weggelassen wird bzw ungeschrieben bleibt.
    So verstanden empfinde ich die Sexstellen nicht nur als provokant, sondern eher als ein Draufhauen auf die Doppelmoral. Eben einer, der nicht nur Spaß am Sex hat und auslebt, sondern auch Spaß daran hat, dies aufzuschreiben, ein kleines Nachspiel vielleicht.
    Er geht schwanger mit dieser Buchidee durch Paris.


    Einen Zusammenhang kann ich bisher nicht entdecken, eher eine Zusammenstellung von Gedankenfetzen. Ich habe mir beim Lesen einen Gang über einen Jahrmarkt vorgestellt. Man hört Musikfetzen ganz unterschiedlicher Art und zwischen den Buden vermischen sich die Töne. Jede Musik lädt zu etwas anderem ein und hat seine Berechtigung.


    Voller guter Vorsätze nehme ich den Rest des ersten Abschnittes mit ins Bett. :wave

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • So, nun melde ich mich auch endlich zu Wort – ich hatte bisher kaum Zeit zum Lesen und bin auch erst auf Seite 33. Macht nichts: Ich kann schon jetzt sagen, dass das Buch für mich von der ersten Seite an einen Sog entwickelt hat, dem ich mich weder entziehen kann noch will. Ich habe es vor etwa 15 Jahren zum ersten und bisher letzten Mal gelesen, habe aber schon jetzt den Eindruck, dass ich es diesmal mehr schätzen werde. Ich fühle mich nicht mehr so überfahren wie beim ersten Lesen, sondern eher zum Tanz eingeladen. Einem animalischen Tanz um den Altar des puren Egoismus.
    Dabei finde ich die Collage, oder vielleicht besser: die Mosaikstückchen, aus denen sich nach und nach ein (lückenhaftes) Bild zusammensetzt, sehr reizvoll. Die sprunghafte Erzählweise unterstreicht die Ich-Bezogenheit: Der Erzähler hat es nicht nötig, sich um Chronologie oder anderen normierenden Mist zu kümmern. Er erzählt uns, was ihm gerade durch den Kopf schießt, sollen wir, die geneigten Leser, doch selbst entscheiden, was wir daraus machen.
    Da ich davon ausgehe, dass Miller diese Bruchstücke nicht willkürlich zusammengefügt hat, sondern sie einem wohlkomponierten Plan folgen, kann ich nur den Hut ziehen. Bei mir kommt zumindest irgendetwas an. Ob's das ist, was er wollte, dürfte ihm schnurzegal sein. Hauptsache, es bewegt sich was.


    Ich finde es erfrischend, endlich mal wieder einen Roman zu lesen, in denen es nicht um manierierte Beschreibungen umeinander tänzelnder Liebender geht, die am Ende in schamhaftem Blümchensex zueinanderfinden (so etwas schreibe ich selbst). Ich mag das triebgetriebene (tolles Wort, by the way), das kompromisslose Handeln und Denken seines Ich-Erzählers. Sympathisch ist er mir trotzdem nicht, aber das muss er ja nicht sein. Soll er wahrscheinlich auch nicht.


    Nachklapper: Verstehen tue ich das Buch bisher auch nicht. Ist mir auch egal. Ich nehme die Wirklichkeit des Erzählers einfach hin.

    Ship me somewhere's east of Suez,
    where the best is like the worst,
    where there aren't no ten commandments
    an' a man can raise a thirst


    Kipling

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von SteffiB ()