Ebbe und Flut - Irina Korschunow

  • Kurzbeschreibung:
    Ein Hotel auf der Düne, das ist Jakob Nümanns Traum. Eine Reihe von Zufällen macht aus dem Traum Wirklichkeit. Im Frühjahr 1923 strömen die ersten Gäste vom Festland in sein nobles "Bellevue". Der Aufstieg beginnt, und die schöne Jüdin Sophia macht sein Glück vollkommen. Doch das Glück ist nicht von Dauer...


    Über die Autorin:
    Irina Korschunow, geboren und aufgewachsen in Stendal, veröffentlichte zahlreiche erfolgreiche Romane. Darüber hinaus ist sie eine der bekanntesten Kinder- und Jugendbuchautorinnen Deutschlands. Ihre Bücher werden weltweit übersetzt. Die vielfach ausgezeichnete Autorin lebt in der Nähe von München.


    Meine Rezension:
    Irina Korschunow, mir bisher nur als sehr gute Kinderbuchautorin bekannt, kann auch hervorragende Romane für Erwachsene schreiben, wie sie mit "Ebbe und Flut" eindrucksvoll belegt. Ihre für Kinderbücher unerlässliche Fähigkeit, eine Geschichte so zu erzählen, dass sie spannend, unterhaltsam und in sich stimmig ist, ohne langatmig oder ausufernd zu wirken, nutzt sie hier, um eine über mehrere Jahrzehnte reichende Familiengeschichte in weniger als 300 Seiten zu erzählen. Wo andere Autoren/Autorinnen leicht den doppelten Umfang benötigen, fesselt Korschunow durch ihre leicht melancholische, aber pointierte Erzählweise und nimmt den Leser schon auf den ersten Seiten gefangen, um ihn bis zum Schluss nicht mehr loszulassen. Man nimmt es ihr keineswegs übel oder hat das Gefühl, nicht ausreichend informiert zu sein, wenn mehrere Jahre in wenigen Sätzen beschrieben werden. Die Nähe zu den Figuren wird durch vergleichweise wenige, fast schon beispielhaft wirkende Episoden oder Dialoge geschaffen, die allerdings große Empathie auslösen. Dabei ist keine ihrer Figuren eindimensional, sondern immer lebendig und facettenreich. Das Anpassungsvermögen der Menschen an schwierigste Situationen und die Kraft der persönlichen Träume sind die zentralen Motive, die sich wie die immer wiederkehrenden Gezeiten Ebbe und Flut durch die Geschichte ziehen und auch noch nach dem Lesen der letzten Seite für eine ganze Weile nachhallen. Ein bewegtes Leben und ein großer Traum, für den ein Mann sein Leben lang viele Opfer gebracht hat. Ob sich diese Opfer gelohnt haben, mag jeder selbst entscheiden; die Geschichte von Jakob Nümann zu lesen, hat sich jedoch allemal gelohnt!


    Für diese vergleichsweise kurze, aber aussdrucksstarke Familiengeschichte, die ein Abbild der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert ist, vergebe ich 10 Punkte!

  • Als ich "Irina Korschunow" gelesen habe, kam mir der Name irgendwie bekannt vor, aber ich konnte mich nicht erinnern schon was von ihr gelesen zu haben. Nach langem Überlegen und etwas Hilfe von Tante Google, ist es mir dann eingefallen - Irina Korschunow hat das Drehbuch zu dem Fernsehfilm "Der Führerschein" mit Witta Pohl geschrieben.


    An diesen Film erinnere ich mich heute noch gerne … und er ist neben deiner schönen Rezi, milla :-),ein weiterer Grund dafür, dass dieses Buch umgehend auf meine Wunschliste wandert.

  • Ich habe „Ebbe und Flut“ gerade beendet und kann milla nur zustimmen, die Geschichte von Jakob Nümann zu lesen, hat sich gelohnt. :-]
    Ich stimme mit millas Bewertung des Buches vollkommen überein.


    Besonders fasziniert war ich von Irina Korschunows Schreibstil, der einfach und gleichzeitig anspruchsvoll ist.

    Zitat

    Original von milla
    Wo andere Autoren/Autorinnen leicht den doppelten Umfang benötigen, fesselt Korschunow durch ihre leicht melancholische, aber pointierte Erzählweise und nimmt den Leser schon auf den ersten Seiten gefangen, um ihn bis zum Schluss nicht mehr loszulassen. Man nimmt es ihr keineswegs übel oder hat das Gefühl, nicht ausreichend informiert zu sein, wenn mehrere Jahre in wenigen Sätzen beschrieben werden.


    Das Buch hat mich sehr beeindruckt und ich vergebe 10 Punkte

  • Irina Korschunow gehört zu meinen Lieblingsautoren. Ich habe die meisten ihrer Bücher gelesen und mit ihren liebenswerten Figuren hat sie sich in mein Herz geschrieben.
    „Ebbe und Flut“ hat mich so gefesselt, dass ich es an einem Tag ausgelesen habe.


    Irina Korschunow erzählt in diesem Roman die Geschichte Jakob Nümanns. Dieser wächst im Gesindehaus eines Berliner Nobelhotels unter einfachsten Verhältnissen auf. Seine Eltern können dem Jungen nicht viel mit auf den Weg geben außer dem Glauben an sich selbst. Jakob träumt davon, eines Tages ein eigenes Hotel zu besitzen. Als er zur Kur an die Nordsee reist und dort eine Weile lebt, sieht er sein „Bellevue“ regelrecht vor seinem inneren Auge entstehen, ein Hotel direkt an den Dünen gebaut mit unverstelltem Blick auf das Meer. Ehrgeizig und mit dem Glück einer Erbschaft zur richtigen Zeit, erfüllt er sich diesen Traum. 1923 strömen die ersten Gäste in sein "Bellevue".
    Jakob lernt auf einer Geschäftsreise Sophia kennen und verliebt sich sofort in die schöne Jüdin. Auch das private Glück scheint in das Nümannsche Haus einzuziehen- bis das braune Gedankengut der Nationalsozialisten auch über die Insel schwappt. Eine Jüdin zu lieben und ein deutsches Hotel zu führen, das passt in dieser Zeit nicht zusammen. Schleichend verändert sich das Zusammenleben der Menschen. Für die einst so beliebte Sofia bietet die Insel keinen Schutz mehr, aus Freunden werden Spitzel.


    Korschunow schildert Jakob als Kind seiner Zeit, eingebettet in den Mikrokosmos einer Insel, die Sylt sein könnte.
    Der Leser beobachtet die dramatischen Ereignisse aus einer gewissen Distanz heraus. Eine reduzierte, teilweise nur aus Satzfragmenten bestehende Sprache, die der Landschaft entsprechend eher kühl daherkommt, bestimmt die Stimmung des Buches. Ruhig, fast gleichförmig schildert die Autorin Jakobs Leben. Dabei ist der Titel Programm. Jakobs Leben ist ein einziges Auf-und Ab, wird bestimmt vom Kommen und Gehen, von Erfolg und Niederlage, von guten Taten und Fehlern.
    Das Festhalten des Protagonisten an seinem auf Sand gebauten Hotel, wider alle Gefühle und Vernunft, schmerzt beim Lesen.
    Korschunows große Stärke ist das scharfe Beobachten und das Zeichnen besonderer Figuren. Dabei schönt sie nichts, sondern erzählt auch das Scheitern, zeigt Fehler auf ohne zu moralisieren. Die Geschichte eines Lebens so komprimiert zu erzählen, ohne dass der Eindruck entsteht, es fehle etwas, das ist schon eine Kunst. „Ebbe und Flut“ hat mich beeindruckt und wird mir im Gedächtnis bleiben.


    Irina Korschunow starb am 31.12.2013 im Alter von 88 Jahren.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin