Valentin ist zehn, und neu in einer fremden Stadt. Da seine Mutter viel arbeiten muss und große Ferien sind, stromert er alleine durch das Hochhausviertel und entdeckt recht schnell einen alten Friedhof, der zum Mittelpunkt seiner Exkursionen wird. Denn dort ist nicht nur die Hitze erträglich, Valentin findet hier auch sehr schnell Freunde: den Polen Bronislaw, der dort als Gärtner arbeitet, das Ehepaar Schilinsky, das sich aufgrund finanzieller Engpässe eine Grabstelle zum Schrebergarten erkoren hat und dort regelmäßig Picknick veranstaltet und den alten Herrn Schmidt samt Terrier Jiffel.
Hier bemerkt er dann auch zum ersten Mal seine seltsame Gabe: er kann in die Köpfe der Menschen gucken, er hat deren Kopfkino, so er sie nur lang genug anstarrt, in seinem eigenen Kopf. Und das kommt ihm dann, als es verschiedene Verbrechen aufzuklären gilt, eindeutig zugute.
Nüchtern betrachtet, macht Kirsten Boie mit diesem Buch ein gewaltiges Fass auf, genaugenommen sogar mehrere: Migrationsproblematik (Valentin stammt aus Kasachstan, sein Kumpel Mesut ist Türke), sozialer Abstieg (eine der Friedhofsfreunde ist Pennerin, die sich in erster Linie von Schnaps ernährt), Valentin selbst ist ein Kind, das schon viel zu viel Verantwortung übernehmen muss, weil sich seine Mutter krumm legt, um den Lebensunterhalt zu verdienen und natürlich der Tod, das Sterben, das Valentin bedauerlicherweise schon zu gut kennt.
Doch es ist eine wahre Freude, wie Boie all das in ihre Geschichte einbaut. Und das vor allem, weil sie konsequent die Perspektive ihres Helden einnimmt. Denn der ist, wie die meisten Kinder, noch weitestgehend vorurteilsfrei. Klar, bei ihrer ersten Begegnung hat er Angst vor Mesut, der mit seiner gewollten Gangstersprache und etwas martialischen Optik zunächst einmal ziemlich furchteinflößend auf einen Hänfling wie Valentin wirkt. Aber all die anderen kuriosen Gestalten vom Friedhof dürfen einfach das sein, was sie sind: gestrauchelte Alkoholiker, die wirres Zeug reden, Proleten, die sich mit Bier und Kofferradio auf einer Grabstelle ein Schrebergartenidyll schaffen, vereinsamte Greise: all dieses Personal bevölkert einen wunderbar luftigen und witzigen aber alles andere als platten Kinderkrimi. Ich vernahm die Botschaft schon: jeder möge nach seiner Facon selig werden, es ist die menschliche Vielfalt, die das Leben spannend macht, aber der moralische Zeigefinger ist in diesem Buch bestens getarnt, ja, es ist gar so viel politische Unkorrektheit in diesem Buch, wie ich es in zeitgenössischer Kinderliteratur selten gelesen habe.
Wunderbar, wenn Kinderbuchautoren ihre Leserschaft nicht belehren wollen, sondern ihnen zutrauen, selbst zu denken. Wie sang schon Rio Reißer: „Wir wissen selber was zu tun ist, unser Kopf ist groß genug“.
Bemerkenswert sind auch die tollen Illustrationen von Regina Kehn. Wie auch Peter Schössow schafft sie es, die Quintessenz einer Szene in Bilder zu verwandeln. Toll!
Edit hat die Altersempfehlung nachgetragen