Parallelgeschichten – Péter Nádas

  • Zum Buch:
    Zwanzig Jahre nach seinem international gefeierten Buch der Erinnerung legte Péter Nádas erneut ein Opus magnum vor. Als die Parallelgeschichten 2005 in Ungarn erschienen, wurden sie als ein «Krieg und Frieden des 21. Jahrhunderts» begrüßt. 1989, im Jahr des Mauerfalls, findet der Student Döhring beim Jogging im Berliner Tiergarten eine Leiche. Mit dieser kriminalistischen Szene beginnt der Roman, eröffnet zugleich aber auch die weitgespannte Suche nach einer düsteren Familiengeschichte, ihrer Schuld und Mitschuld. Ein zweiter Hauptstrang ist die Geschichte der Budapester Familie Lippay-Lehr und ihrer Freunde, deren persönliche Schicksale mit der ungarischen und deutschen Geschichte verknüpft werden. Die historischen Markierungen sind die ungarische Revolution 1956, die nachrevolutionäre Zeit, der ungarische Nationalfeiertag 15. März 1961 und, rückblickend, die Deportation der ungarischen Juden 1944/45 bis zur Vorkriegszeit der dreißiger Jahre in Berlin. Der Roman entwirft ein Panorama europäischer Geschichte, in einer überwältigenden Fülle von Geschichten, die keine realistische Konstruktion zu einer Geschichte vereinen könnte. Die eine große Metaerzählung des Romans ist die Geschichte des Körpers, der für Nádas zum Schauplatz der Ereignisse wird. Der männliche und weibliche Körper und seine Sexualität prägen die Realität der Personen, sie sind das «glühende Magma, das in der Tiefe ihrer Seele und ihres Geistes ruhende Zündmaterial», das die Parallelgeschichten zur Explosion bringen. Aufgrund seines analytischen Scharfblicks und der Kraft seiner Personengestaltung stellt die internationale Kritik Péter Nádas neben Proust. Wenn dessen großer Roman am Beginn einer literarischen Moderne steht, dann mag diese in den Parallelgeschichten ihre Vollendung finden.



    Was für große Worte doch zum Buch gebraucht werden. Nun gut, die FAZ sagt immerhin, es sei leicht zu lesen. Also, tief durchgeatmet und angefangen:


    Das Buch ist schwer, ziemlich schwer sogar. Es liegt nicht gerade leicht in der Hand. Freihändig lesen ist praktisch unmöglich, es sei denn, man wünscht Schulterschmerzen und Sehnenscheidenentzündungen.
    Netterweise ist das Buch mit einem Lesebändchen ausgestattet, bei dem Umfang hätte ich allerdings für zwei plädiert, aber man nimmt, was man bekommt.
    Der Einband ist weiß, orange und schwarz die Farben von Name und Titel auf dem Buchrücken. Dünndruck, ein schönes Schriftbild, das sich gut lesen lässt.
    Der Schutzumschlag sagt mir nun nicht unbedingt zu. Der vordere Klappentext gibt das oben Gesagte wieder, der hintere präsentiert Péter Nádas.
    Eine Danksagung zu Beginn. Dann ein Motto, ein Zitat von Parmenides.
    1724 Seiten Romantext, daran anschließend ein Index.
    Der Roman besteht aus drei Büchern, unterteilt jeweils in mehrere Kapitel.


    Das Buch hat seine erste Bewährungsprobe bestanden, der erste Satz sog mich förmlich in es hinein, die ersten drei Seiten waren so schnell durchgelesen, dass ich erst auf Seite 31 wieder aufmerkte. So gesehen hat sie mal recht, die FAZ.


    Die ersten sechs Kapitel habe ich durchgelesen, ich bin auf Seite 187. Es liest sich nach wie vor leicht, nur im ersten Kapitel fanden sich zwei, drei Fremdwörter, die vermutlich nicht jedem Leser gleich geläufig sind. Was mich verblüfft, ist die Art und Weise, wie Nádas sein Personal einführt, es dem Leser vorstellt. Erst einmal ist da eine Situation, dann dazu eine Person, sie wird gezeichnet, mal mehr, mal weniger deutlich, den dazugehörigen Namen erfährt man erst später, bis auf eine Ausnahme. Die Personen werden fast charakterisiert, aber nur so weit, dass die Neugier geweckt wird – und dann kommt ein Satz, der ein Geheimnis ahnen lässt. Ich werde anfangs nicht recht schlau aus den Figuren, sie schälen sich langsam aus ihrer Umgebung, nehmen Kontur an – und wieder kommt etwas, was mich stutzen lässt. Bisher habe ich bei keiner Figur das Gefühl, ich würde sie auch nur ansatzweise kennen, allerdings habe ich auch noch keine von ihnen ins Herz geschlossen. Meine Neugier ist geweckt, aber ich leide (oder liebe) mit ihnen nicht mit.


    Kapitel 1 und 2 spielen in Berlin und Düsseldorf im Jahre 1989, drei Personen werden eingeführt, von zweien glaube ich, dass sie noch eine größere Rolle spielen werden: der Student Döhring, der Kommissar Dr. Kienast und die Tante des Studenten.
    Kapitel 3 führt den Leser ins Budapest des Jahres 1961. Es gibt eine geheimnisvolle Anspielung auf den Heimatort des Studenten, es gibt einige hinreißende Beschreibungen, zum Beispiel des Hauses, in dem die Personen dieses Kapitels zu Hause sind. Mir gefällt, wie viel Zeit Nádas sich für alles nimmt, er hat es nicht eilig, es wird alles ausführlich beschrieben – und ich habe das Gefühl, alles ist wichtig, es gibt nichts Belangloses, auch wenn es manchmal so scheint; ich darf nichts verpassen, es könnte noch wichtig sein, muss konzentriert lesen.
    Das 4. Kapitel hat es in sich, die Handlung findet erkennbar im Frühling 1945 statt, das Ende des Krieges wird erwartet und vorher muss beiseite geschafft werden, was nicht zu sehen sein soll, muss „aufgeräumt“ werden, wird die eine oder andere Rache genommen. Es gibt eine Selbstbefriedigungsszene, bei der ich mir wie ein Voyeur vorkam, es gibt eine Tötungsszene, die für meinen Geschmack zu genau beschrieben war. Nadás schont seine Leser nicht, man bekommt einiges vor die Augen, aber nicht alles, und noch kann ich nicht erkennen, wie alles zusammenhängt, auch wenn der Name Döhring auch hier auftaucht. Er beschreibt die Brutalität des damaligen Alltags, den Hunger, die Angst, den Hass, die Lust.
    Kapitel 5 führt wieder ins Budapest 1961, ein Mann, der in Kapitel 3 erwähnt wurde, hat hier seinen Auftritt zusammen mit seinen zwei Freunden. Man palavert über Brisantes, wieder erfährt man einiges über die Menschen, was sie tun und nicht tun, man weiß genau, das ist nicht alles und blättert geduldig von Seite zu Seite, um mehr zu erfahren. Die Freunde vertrauen einander viel an, aber jeder hat ein Geheimnis, das er nicht preisgibt – vielleicht auch nicht einmal en detail sich selbst.
    Die Hauptfigur des 6. Kapitels ist wiederum Student Döhring in seinen Berliner Anfangstagen, er macht einen Ausflug per Rad und trifft auf einen See irgendwo im Wald, an seinem Strand Menschen, die Döhring faszinieren und ihn zum gefesselten Zuschauer machen, sie sind allesamt nackt und der junge Mann kann seine Augen kaum losreißen, zu eindeutig sind die Szenen, die sich ihm bieten.


    Iris Radisch sprach in einem Gespräch mit dem Autor die „Körperlichkeit“ an, die das Buch prägt (so mein Eindruck bisher). Nun ja, was soll man groß sagen: Nádas ist ziemlich eindeutig, er beschreibt genau, egal, ob es den Körper an sich betrifft oder die bisherig geschilderten sexuellen Handlungen.


    Irgendwo habe ich gelesen, es sei praktisch unmöglich, eine Inhaltsangabe zu dem Buch zu geben. Dem stimme ich zu, allein für das 3. Kapitel bräuchte ich vermutlich zwei Seiten.

  • Danke dir für diesen Zwischenstand Lipperin. :wave Ich habe das Buch nun schon mehrmals in der Hand gehabt und angesichts meines riesigen SUB es dann doch im Buchladen gelassen. Die Leseprobe bei Amazon hat mir gut gefallen, obwohl ich die Sprache gewöhnungsbedürftig finde, sie klingt so ein wenig altbacken. Wie erging es dir damit? :wave

  • Hallo Lipperin,


    danke für Deinen ersten Eindruck, der ein Habenwollengefühl auslöst;
    der Seitenumfang und das Können von Nadás halten mich trotzdem von einem Kauf ab.


    Zitat

    Original von Lipperin: Iris Radisch sprach in einem Gespräch mit dem Autor die „Körperlichkeit“ an, die das Buch prägt (so mein Eindruck bisher). Nun ja, was soll man groß sagen: Nádas ist ziemlich eindeutig, er beschreibt genau, egal, ob es den Körper an sich betrifft oder die bisherig geschilderten sexuellen Handlungen.


    Die ftd.de fragt in ihrer Kurzvorstellung, wie ein Leser einen auf hundert Seiten minutiös beschriebenen Geschlechtsakt aushalte und ködert mit der nebulösen Äußerung, dass es sich um die seltsamste und nachhaltigste Leseerfahrung der letzten Jahre handele.


    Lipperin, ich warte gespannt auf Deine Lesefortschritte :wave.

  • Zitat

    Original von Eskalina
    Danke dir für diesen Zwischenstand Lipperin. :wave


    Bitte, gerne.



    Zitat

    Ich habe das Buch nun schon mehrmals in der Hand gehabt und angesichts meines riesigen SUB es dann doch im Buchladen gelassen. Die Leseprobe bei Amazon hat mir gut gefallen, obwohl ich die Sprache gewöhnungsbedürftig finde, sie klingt so ein wenig altbacken. Wie erging es dir damit?


    Altbacken ... hm ... nein, so würde ich sie nicht nennen. Das klingt für mich nach etwas gemütlichem, gravitätischem. Und wenn das Buch eines nicht ist, dann gemütlich. Nádas nimmt sich alle Zeit der Welt, um etwas zu sagen, was dazu führt, dass man zum Beispiel die Beschreibung eines Hauses schon mal nicht in zwei, drei Sätzen, sondern in zwei, drei langen Absätzen, ja Seiten zu lesen bekommt. Er ist von einer Genauigkeit, die einen scharfen Blick verrät, aber gleichzeitig habe ich ständig das Gefühl, er verschweigt mir trotz oder gerade wegen seiner Genauigkeit etwas. Er beschreibt nicht nur die Oberfläche, sondern auch das, was durch die Oberfläche schimmert.
    Wie gesagt, er hat Zeit ... die Frage ist eigentlich, hat oder nimmt der Leser sie sich auch.
    Lesen lässt sich das Buch im Großen und Ganzen gut, aber es erfordert Konzentration.
    Etwas, was mich jedes Mal aufs Neue verblüfft, ist Nádas Fähigkeit, mit einiger Eleganz von einer Szene auf die nächste zu schwenken, wie eine Lupe, die man in der Hand hält und sie weiterführt, um den nächsten Ausschnitt zu betrachten. Ich bin wahrlich nicht der große Filmexperte, aber manchmal habe ich den Eindruck einer Kamerafahrt.


    In dem Buch gibt es keine direkte Rede, was hin und wieder dazu führt, dass ich nicht genau wusste, ob etwas gesagt, gedacht oder vom Autor quasi eingeführt (zur Verdeutlichung) wurde. Extrem ist das im 4. Kapitel (das 1945 spielt) und dem 7., das sinnigerweise "Döhrings Traum geht weiter" betitelt ist (beide gehören zusammen). Man ist sich überhaupt nicht sicher, ob stellenweise von Tätern, Opfern, von Realem oder Geträumten die Rede ist. In anderen Sätzen ist diese Zuordnung so leicht, so einfach, dass ich schon selber glaubte zu träumen sprich etwas überlesen zu haben und zurückblätterte, aber nein, auch zweiten Lesen bleibt der Eindruck.
    Nádas verweist auch immer wieder auf früher Gesagtes. Wie ich das über 1724 Seiten durchhalten soll, weiß ich noch nicht, mein Notizbuch ist jedenfalls schon zur Hälfte gefüllt, und ich bin gerade mal auf Seite 301.


    Was dem Buch für meine Begriffe eindeutig fehlt, sind weiterführende Hinweise. Vermutlich soll man dafür das Buch "Nádas lesen" (oder ähnlich) kaufen. :-(


    Edit: Sorry, bei einem Kapitel falsch gezählt.

  • Zitat

    Original von Salonlöwin
    Hallo Lipperin,


    danke für Deinen ersten Eindruck, der ein Habenwollengefühl auslöst; .


    Gern geschehen.


    Zitat

    ... das Können von Nadás halten mich trotzdem von einem Kauf ab..


    :gruebel


    Zitat

    Original von Lipperin: Iris Radisch sprach in einem Gespräch mit dem Autor die „Körperlichkeit“ an, die das Buch prägt (so mein Eindruck bisher). Nun ja, was soll man groß sagen: Nádas ist ziemlich eindeutig, er beschreibt genau, egal, ob es den Körper an sich betrifft oder die bisherig geschilderten sexuellen Handlungen.


    Die ftd.de fragt in ihrer Kurzvorstellung, wie ein Leser einen auf hundert Seiten minutiös beschriebenen Geschlechtsakt aushalte.


    :yikes
    DAS frage ich mich jetzt auch. Diese Beschreibungen haben etwas sezierendes, für mich jedenfalls. Ähem, wenn ich mal so sagen darf: nicht an-, eher aufregend, wobei ich das letzte Wort nicht misszuverstehen bitte; ich merke, dass ich etwas gereizt reagiere, weil, egal, was passiert, alles in eine sexuelle Betrachtung oder Reaktion mündet.



    Zitat

    und ködert mit der nebulösen Äußerung, dass es sich um die seltsamste und nachhaltigste Leseerfahrung der letzten Jahre handele.


    Na ja, eine Mitstreiterin, die auch schon angefangen hatte, hat auf Seite 276 entnervt aufgegeben, wo beschrieben wird, dass eine Szene, in der Nino (= Frau Erna, eine der Bewohnerinnen des herrschaftlichen Hauses aus dem 3. Kapitel, ihr Kind stillt, in etwas mündet, was ich mal "lesbisches Gerangel" nennen möchte. Ihr war das schlicht alles zu viel.
    Eine Leseerfahrung der besonderen Art ist das Ganze schon, wie oben erwähnt, mündet alles in irgendeiner sexuellen Form. Ich meine, mich erinnern zu können, dass Iris Radisch das Ganze sprich die "Körperlichkeit" "gut" oder "gelungen" fand, ich habe aber bereits jetzt das Gefühl von etwas zwanghaftem, obwohl ich noch gute 1400 Seiten vor mir habe.



    Zitat


    Lipperin, ich warte gespannt auf Deine Lesefortschritte :wave.


    Glaub mir ... ich auch!



    Edit: Fehler sind dazu da, ausgemerzt zu werden - oder so.

  • Zwischenstand nach 498 von 1724 Seiten:


    Das 7. Kapitel trägt den schönen und sinnigen Titel „Döhrings Traum geht weiter“. Eine Traumsequenz, dass wird erst zum Ende des Kapitels wirklich deutlich, mit starken Bezügen zum 4. Kapitel, welches im Heimatort des Studenten spielt, und der Student ist es auch, der träumt. Es wird etwas deutlicher, wer eigentlich die Tante ist, jene in Düsseldorf, die so arm nicht sein kann, und es wird etwas für meine Begriffe unendlich grausames angesprochen, nämlich dass – ich zitiere von Seite 218 - „Befehlsverweigerer, Vaterlandsverräter, Saboteure und Deserteure ihrer gerechten Strafe nicht entgehen durften“. Eine Anspielung nur, ein Absatz, von dem – da bin ich mir sicher – im weiteren Verlauf des Buches noch sehr viel mehr, sehr viel deutlicher gesprochen werden wird. Ein Kapitel, das einige unappetitlichen Beschreibungen von … ähem ... nennen wir es menschlichen Exkrementen enthält, wobei ich mich mal wieder frage, ob es wirklich von so immenser Bedeutung ist, die genaue Beschaffenheit derselben zu erfahren.. Reicht nicht auch mal eine Andeutung? Nádas ist der Meinung, nein, reicht nicht, also liest man es. Überfliegen geht ja auch nicht, man weiß nie, ob da nicht mal ein Wort, ein Satz ist, der seine wahre Bedeutung erst in einem späteren Kapitel aufdeckt, buchstäblich sozusagen.
    Im Grunde führt der Titel dieses Kapitels ein wenig in die Irre, ich hatte schon die Befürchtung, die mehr oder weniger schwülen Träume des Studenten aus dem 6. Kapitel gingen weiter, weit gefehlt, es wurde noch schlimmer.
    Dieses Kapitel hatte eine eigenartige Wirkung auf mich,es kam ein Gefühl in mir auf, nämlich das einer extremen Bedrücktheit. Ich wollte mehr oder weniger über die Seiten huschen, aber es ging nicht, meine Augen klebten an den einzelnen Wörtern, den Sätzen fest und etwas erstarrte förmlich in mir,begann das Angedeutete, das Schimmern durch die Oberfläche ein Eigenleben zu bekommen, lief vor meinem inneren Auge förmlich ein Film ab, hörte ich die Schreie, roch ich das verbrannte Fleisch.
    Ein ganz eigenartiges Kapitel – und ich denke mir, wenn man es nicht gelesen hat, wird man das, was ich dazu schrieb, nicht unbedingt miteinander vereinbaren können. Es ist ein Ineinanderweben von Heutigem und Damaligem, es sind die immer wieder neu auftauchenden Personen, dass ich das Gefühl habe, fast keinen Halt zu finden.
    Aber auch ein Kapitel, das den Satz „Das Leben beginnt nicht mit der Geburt und endet nicht mit dem Tod“, den Nádas in dem schon erwähnten Gespräch mit Iris Radisch formulierte, mehr als verdeutlicht.


    Kapitel 8 führt uns wieder ins Jahr 1961, die erste Sequenz spielt im herrschaftlichen Haus (des 3. Kapitels), der Leser darf die Gedanken des jungen Mannes belauschen, man beobachtet mit ihm, wie die beiden Frauen ein Taxi besteigen, um in ein Krankenhaus zu fahren. Nadás macht das unglaublich geschickt, ja elegant, dieser Schwenk aus dem Zimmer, über die Augen des jungen Mannes in das Taxi, schon ist der Leser bei den beiden Frauen und ihren Gedanken, ihrer Unterhaltung, ihren Träumen, ihren Reflektionen der Vergangenheit. Einigermaßen verblüffend für mich, in dieser Vielzahl und Konsequenz habe ich das noch nie gelesen. Es gibt wenige wirklich harte Schnitte (und wenn, dann ist halt das Kapitel vorbei), sondern es ist ein Ineinandergleiten der verschiedenen Szenen.
    Dieses Kapitel macht mir aber deutlich, wie wenig ich über das Ungarn des Jahres 1961 weiß. Es gibt leider keine Anmerkungen, keine weiterführenden Hinweise, man muss, wenn man es denn wissen will, selber suchen; zum Beispiel hätte ich gerne näheres über ÀVÒ gewusst oder über Pfeilkreuzler. Nun gut, man kann ja nicht alles haben und schließlich gibt es Wikipedia und diverse Suchmaschinen.
    Das Personal des herrschaftlichen Hauses lernt der Leser etwas genauer kennen, besonders die beiden Frauen, Erna, die ältere von beiden, auch Nínó genannt, und Gyöngyvér, die Freundin ihres Sohnes. Sie mögen sich nicht wirklich, dann vielleicht aber doch, sie verstehen sich nicht und in manchem zu genau, beide kennen die Angst. Seite 225 sagt Nádas beispielsweise über Erna: „... als zupfe sie in ihrem Gedächtnis vorsichtig an den vertrauten Saiten der Angst“ - und vor mir entsteht ein ganzes Szenario, was, so glaube ich, der werte Autor einkalkuliert, man bleibt bei der Stange, will wissen, worin diese Angst begründet ist, die Geschichte erfahren, die zu dieser Angst führte. Solche kleinen Hinweise, Sätze, Halbsätze, gibt es mehrfach, bezogen auf bisher alle vorgestellten Personen.
    Für mich geht Nádas damit einigermaßen raffiniert vor. Auch bedient er sich für ein und dieselbe Figur unterschiedlicher Namen, es ist nicht so einfach zu erkennen, welchem Muster da gefolgt wird. Wann ist Erna Erna und wann Ninó, beispielsweise? Bei einem der drei Männer aus Kapitel 5 steigert sich die Verwirrung noch ein wenig mehr – aber ich hege die Hoffnung, auch das wird sich klären, wir haben ja noch … ähem … ein paar Seiten vor uns.


    Kapitel 9 Was sagt man dazu … zusammen mit Student Döhring kaufen wir Unterhosen. In Berlin. In einem ganz speziellen Laden. Nicht Feinripp oder so. Nein, nein, keineswegs. Nämlich solche aus einem ganz besonderen Stoff, anschmiegsam sozusagen. Atmen tut er auch noch, der Stoff. Also, deutlicher werde ich jetzt nicht, nein, das überlasse ich Herrn Nádas, der macht das schon ganz gut, über etliche Seiten übrigens. Aber den Spiegel sollte ich doch erwähnten, diesen besonderen, der die Körpermitte stark vergrößert wiedergibt. Und die etwas seltsamen Gedanken des Studenten, und vielleicht, dass der Student bei der Polizei anruft. Schließlich will er ja gestehen. Wenn ich (wieder einmal) nicht das Gefühl hätte, dass alles von irgendeiner Wichtigkeit sein wird, wäre ich hin und wieder stark versucht gewesen, die Augen zu verdrehen.
    Jedenfalls, ich bin drin im Buch, ich will alles über die Personen erfahren, ich will sie begleiten, auch wenn ich nach wie vor noch niemanden gefunden habe, dem meine ungeteilte Sympathie gilt. Und ich habe nach wie vor nicht das Gefühl, dass es mir Nádas einfach machen wird – und auch nicht will.


    Kapitel 10 …
    Dieses Kapitel hat mich fast erschlagen in seiner Detailfülle, in diesen fast überbordenden Konglomerat aus Handeln, Zuschauen, Gedanken, Träumen, Rückschauen. Budapest, 1961. Die beiden handelnden (oder auch nicht?) Personen dieses Abschnitts sind Gyöngyvér und Ágost, Ernas Sohn. Es geht … nun: um Selbstbefriedigung, um gewährten und verweigerten Sex, um … wie soll ich sagen … eine etwas … ähem … spezielle Form von Altruismus, es geht darum, dass manche Menschen sich selbst genügen, dass andere das nicht verstehen (können oder wollen?), es geht um eine Art von Einsamkeit, die mich fast sprachlos macht. Und es geht um Selbstbetrug und darum, was geschehen kann, geschehen wird, wenn einem die Augen geöffnet werden.
    Ich beginne mehr und mehr zu verstehen, was Nádas eigentlich mit den immer wieder auftauchenden Beschreibungen von ich möchte fast sagen detailverliebten sexuellen Handlungen etc. bezweckt, zu welchem Zweck sie (vielleicht? wahrscheinlich?) eingebaut sind, warum sie einen solch breiten Raum einnehmen. Was ich (bisher?) (noch???) nicht verstehe, ist, warum diese Detailversessenheit sein muss.
    In diesem Kapitel habe ich einen Satz gefunden, der für mich bisher das Motto des Buches ist: „Er blickte nirgendhin, es gab auch nichts, wohin er blicken konnte, höchstens auf sich selbst.“ Er steht auf Seite 334.


    11. Kapitel
    Das bisher längste, von Seite 351 bis Seite 498. Wenn mich das 10. schon fast erschlagen hat, was soll ich dann von diesem sagen? Gibt es eine Steigerung des ersten Satzes zum 10. Kapitel? Falls ja, müsste er hier stehen.
    Der Leser beobachtet Ágost und Gyöngyvér, vermutlich (wer weiß, was noch kommt) ist dies die immer wieder in den Beschreibungen auftauchende „hundertseitige“ Geschlechtsverkehrszene. Aber auch hier ist nicht nur das Hier und Jetzt entscheidend, sondern das Damals, die Herkunft, erfährt der Leser sehr, sehr viel über die beiden Protagonisten. Nádas entblößt die beiden vor des Lesers Augen in einer extremen Art und Weise, man wird Beobachter des Verweigerns und der Hingabe, der Gedanken und Träume, es geht weit über das Körperliche hinaus. „Sie verstand Dinge, von denen er nicht sprach, und wo war dann die Grenze zwischen ihnen.“ (Seite 367) – das gilt nicht nur für die Frau und den Mann, das gilt auch für das von Nádas Gesagte und Beschriebene und mir.
    Nádas schreibt fast schon sezierend über die Menschen und ihre Begegnungen, über alles, was sie bewegt. Und auch in diesem Kapitel hat er mit unglaublichem Können die Szenerien miteinander verwoben, ausgehend von dem „Liebeslager“ über den Internatsaufenthalt Ágosts und den Erinnerungen Gyöngyvérs bis hin zur Vermieterin Frau Szemzó, die wir noch zu ihren Freundinnen begleiten. Ein Damenquartett, das die Grenzen einzuhalten versteht, doch die Grenzen sind so brüchig, so leicht zu überschreiten und dann stehen sie mitten in einem Minenfeld. Es werden wieder so viele Geheimnisse angedeutet, so viele Geschichten sind noch zu erzählen, dass ich mich schon frage, ob die restlichen Seiten wirklich ausreichen.
    So wenig ich von den einzelnen Kapiteln eine Inhaltsangabe, die wirlich aussagekräftig ist, zustande bekomme, so sehr würde ich bei diesem scheitern müssen. Zu viel – fast von allem zu viel, besonders zu viele Erinnerungen, zu viel Schmerz, zu viel Abgründe. „...wer das alles lenkt...“ (Seite 477), auch das klingt an.



    Das erste Buch ist damit gelesen.
    Es entfaltet einen ganz eigenen Sog, aber ich merke, dass es mich auch einiges kostet, mich darauf einzulassen.

  • Lipperin, mir scheint, dass nicht nur die Lektüre Arbeit bedeutet, sondern auch deren Aufarbeitung. Vielen Dank dafür.
    Ich verfolge den Thread gespannt weiter.


    Zitat

    Original von Lipperin: Zitat: ... das Können von Nadás halten mich trotzdem von einem Kauf ab.. Grübeln


    Vielleicht ist Ehrfurcht das richtige Wort für einen Stoff, der drei Handlungsstränge umfasst und die Geschichte über einen größeren Zeitraum spielen lässt. Es verlangt, dass Nádas seinen Stoff im Griff hatte und wenn man dem Feuilleton Glauben schenken darf, dann hat er mit "Parallelgeschichten" ein durchaus lesenswertes Buch geschrieben.

  • Zitat

    Original von Salonlöwin
    Lipperin, mir scheint, dass nicht nur die Lektüre Arbeit bedeutet, sondern auch deren Aufarbeitung. Vielen Dank dafür.



    Das stimmt.
    Ich kann mir auch nicht recht vorstellen, dass das Buch jemanden kalt lässt, eine Reaktion wird es jedem entlocken (und sei es, dass man es abbricht).


    Zitat


    Vielleicht ist Ehrfurcht das richtige Wort für einen Stoff, der drei Handlungsstränge umfasst und die Geschichte über einen größeren Zeitraum spielen lässt. Es verlangt, dass Nádas seinen Stoff im Griff hatte und wenn man dem Feuilleton Glauben schenken darf, dann hat er mit "Parallelgeschichten" ein durchaus lesenswertes Buch geschrieben.


    Da ich bei "Halbzeit" bin, glaube ich sagen zu können, er hat es im Griff, aber ich sehe immer noch nicht den eigentlich Sinn des Ganzen. Vielleicht, hoffentlich bin ich am Ende schlauer.
    Und lesenswert ist es durchaus, es ist ebenso durchaus sehr lesbar. Es erfordert zwar große Konzentration, aber stellt den Leser nicht vor unlösbare Aufgaben. Es gibt auch nur sehr wenige Fremdwörter, die allerdings gehören weitestgehend zumindest nicht zu meinem alltäglichen Sprachgebrauch.



    [SIZE=7]Edit: Ich würde ja doch gerne mal wissen, ob ich es jemals lerne, das Zitieren nämlich. Ich fürchte: NEIN.[/SIZE]

  • Zwischenstand nach 745 von 1724 Seiten



    1. Kapitel des 2. Buches
    Der Leser begleitet einen jungen Mann auf der Margareteninsel auf der Flucht. Jedenfalls rennt er, der junge Mann, von dem ich zunächst dachte, es sei Ágost. Später wurde deutlich, es ist Kristóf, dem wir schon im 3. und 8. Kapitel begegnet sind. Während er im 8. Kapitel noch Ausschau nach einer schönen Frau hielt, jagt er hier hinter etwas oder besser gesagt jemand anderem her und flüchtet, wenn er merkt, dass ihm jemand zu nahe kommt. Er beobachtet und wird beobachtet, will und will doch nicht, es muss dann schon der „Richtige“ sein, der, den er den „Riesen“ nennt. Ein Sezieren auch in diesem Kapitel, ein bis ins Extreme gesteigertes Beobachten der Männer, ihrer Handlungen, des Innen- und Außenlebens, der Gerüche, der Geräusche. Fast glaube ich mich in Sicherheit, endlich kann ich die Seiten mal ein bisschen schneller hinter mich bringen - und dann haut mir Nádas wieder so einen Satz um die Ohren: „Ich kann doch nicht das Leben meiner Mutter wiederholen“ (Seite 515). Also alles wieder zurück, schön langsam lesen, und wo, bitte, ist die Aufklärung dieses Satzes? In diesem Abschnitt jedenfalls nicht, da darf ich weiter rätseln, auch, warum Kristóf jetzt auch noch über Selbstmord nachdenkt.
    Die Andeutung einer neuen Geschichte findet sich auch, Nádas lenkt den Blick von Kristóf zu Pisti, dieser beobachtet den Jungen und macht schon seine Pläne. Kein luftleerer Raum, um niemanden, alles verwoben, alles gleichzeitig, Nádas erzählt so viel und doch habe ich den Eindruck, nach wie vor übrigens, er erzählt nicht alles, er fordert mich, manchmal fühle ich mich fast provoziert.
    Überraschend: Dieser Abschnitt ist aus Sicht Kristófs geschrieben, in Ich-Form.


    2. Kapitel des 2. Buches
    Wir betreten wieder das Minenfeld des 11. Kapitels und lernen die Dobrovan, Bella wird sie von den Freundinnen genannt, näher kennen, ihre zerstörten Träume, ihren Liebhaber (aus der Zeit, in der auch sie jung war, natürlich, hätte ich fast behauptet, aber bei diesem Buch bin ich mittlerweile vorsichtig geworden mit irgendwelchen Prognosen oder Vermutungen), den sie zu benutzen scheint und der sie vielleicht ebenso benutzt, man bekommt einen Blick hinter die Fassaden … und ich, tja, ich wage gar nicht weiterzudenken, was alles hinter den Worten, den Sätzen steckt, in denen die Verachtung deutlich wird, auch der Neid unter diesen vier Frauen.
    Ein kurzes, mich fröstelnd machendes Kapitel.


    3. Kapitel des 2. Buches
    Wieder bei Kristóf, auf der Margareteninsel, wieder hat man den Blick auf das Treiben der Männer, die Jagd, die Flucht, wieder die Sehnsucht und die Angst des jungen Mannes, wieder fühle ich mich eher abgestoßen als angezogen von Nádas Beschreiben. Kristóf, wer ist er eigentlich, der da „... aber es geht doch nicht, dass mein Leben aus so etwas besteht“ (Seite 550) denkt? Wer ist er, der sich so viel vormacht, der glaubt, dass er Liebe finden kann, der erfahren wird, dass die Lust immer noch eine der größten Feindinnen der Todessehnsucht ist, der lockt und an den aus seiner Sicht Falschen gerät. Aber rennen kann er, das muss man schon sagen, auch wenn ich hin und wieder den Eindruck nicht los werde, dass er vor sich selber davonrennt.
    Wieder ein Abschnitt aus der Sicht des Protagonisten.


    4. Kapitel des 2. Buches
    Wer dachte, die Geschichte von Ágost und Gyöngyvér sei zu Ende, sieht sich getäuscht. Der Leser belauscht, was sie sich zu erzählen haben, ihre Träume, ihre Gedanken, ihre Wut. Ernüchterung macht sich breit, und dann „...sie hatten eine Grenze überschritten“ (Seite 601), die beiden Protagonisten - und auch für mich gilt dieses, ich fürchte nur, Nádas interpretiert das für die beiden anders als ich für mich. Am Ende des Kapitels überwog bei mir schlicht ein leiser Ekel.


    Als einziger weiterer Kommentar zu diesem Abschnitt sei angefügt, dass Mitleser Nr. 2 den Kreis verlassen hat. Die Reihen lichten sich also.


    5. Kapitel des 2. Buches
    Kristóf ist ein mitfühlender junger Mann, er sorgt dafür, dass ein hungriger, streunender Hund etwas zu futtern bekommt, dafür steigt er in ein Hotel ein. Es ist weniger dramatisch, als es sich anhört, handelt es sich doch um das „Gemach“, in dem die Essensreste aufbewahrt werden. Vorher wird der Leser noch sehr genau instruiert, wie das so war in diesem Hotel, mit dem Personal, vor allen in den verschiedenen Stockwerken, mit dem Essen und dem, das übrig blieb. Und dann … tja, und dann ... dann geht es ab ins Pissoir. Man ahnt ja schon, dass das nicht nur ein Ort zum Erleichtern ist, oder vielleicht doch, nur eben ein wenig anders als ursprünglich gedacht. Er hat Angst, wittert Gefahr, nicht ganz unbegründet. Er bemerkt die vielen Männer, wie viele genau, ist eigentlich nicht so interessant, was wirklich zählt, ist, dass dort seine „heimliche Liebe“ auch ist, der „Riese“ und sein „Gehilfe“, einer geht anscheinend nicht ohne den anderen. Es gibt zwei kurze Szenen, bei denen mir, Entschuldigung Herr Nádas, Entschuldigung, Kristóf, schlicht ein Lachen herausgerutscht ist, bei der zweiten auch den anwesenden Herren. Überraschenderweise (oder auch nicht?) muss der Junge dann auch noch ans Essen denken, nicht an irgendwelches, sondern an das besondere Reishuhn, das die Bedienstete im herrschaftlichen Haus so gut zubereitet. Der arme Junge, er glaubt, seine Liebe getroffen zu haben, doch der Mann, mit dem er den Rest seines Lebens verbringen will, wird ihn nach der Befriedigung einfach „auf den Boden geworfen“ (Seite 650) haben. Benutzt und weggeworfen. Spannend die Frage, die in mir aufkam, wie er damit wohl fertig wird.
    Verblüffend zunächst der Wechsel vom Ich-Erzähler zum erzählenden Beobachter der Szenerie, was sich aber doch auch wieder erklärt, denn Kristóf erwähnt des Öfteren, es seien zwei oder gar drei Personen in ihm, er beobachte sich teilweise ganz kühl selbst.


    In mir wird die Frage immer lauter, ob „Parallelgeschichten“ eigentlich ein Roman ist oder nicht. Es steht zwar unter dem Titel, aber … vermutlich wird man sagen können, nach konventionellen Maßstäben ist es keiner.


    6. Kapitel des 2. Buches
    Überraschenderweise sind wir mal wieder bei Ágost und Gyöngyvér. Kein Paar, deutlicher wie hier wurde es wohl nie. Zwei Menschen, die miteinander schlafen, ziemlich ausdauernd übrigens (na gut, ich will ja nicht kleinlich sein, wenn man alles zusammenzählt, wird man wohl auf 100 Seiten kommen, dass das Ganze über vier Tage geht, steht jedenfalls irgendwo, ich hab vergessen, mir zu notieren, wo genau). Sie reden sogar miteinander, manchmal ganz schön aneinander vorbei, sie verstehen sich hin und wieder so überhaupt nicht. Eine der interessantesten Stellen in diesem Abschnitt ist das Nachdenken Gyöngyvérs über eine „große blonde Frau“ (Seite 654), die sie wohl kennt, aber nicht weiß, woher, die ihr aber auch Angst macht. Eine zweite, für mich ziemlich heftige Stelle ist der Wechsel von der „schwachen Glühbirne“ (Seite 660) zu den Judendeportationen. Ein braver Beamter tut seine Pflicht, das und anderes wird in so wenigen Sätzen beschrieben, und ich sitze da und weiß kaum wohin mit meiner Wut, weil es schon wieder einen Wechsel gibt und ich nun mit Frau Szemzó eine Wohnung einrichten muss. Das ging mir jetzt alles zu schnell, ich muss aufpassen, der Übergang zurück zu Ágost und Gyöngyvér ist zu fließend, genau wie das Zurückkehren zu Frau Szemzó und Architekten, der sich um die Wohnung kümmern soll. Kein Flirt zwischen den beiden, nein, fast schon ein – vielleicht widerwilliges, anfangs jedenfalls – Werben.
    Frau Szemzó ist eine mehr als interessane Person, für mich die bisher überraschendste, die, auf deren Geschichte ich am meisten lauere. Es muss in ihrem Leben grausame und grauenhafte Brüche gegeben haben, dass wird deutlich. Nádas sagt das in so wenigen Worten, dass mir buchstäblich der Atem stockte.


    7. Kapitel des 2. Buches
    Kristóf, jetzt wieder als Ich-Erzähler, spricht eine Frau an, bittet sie um ein Rendevouz. Eine schöne Frau, aber alles, was ich von ihr wissen muss, sagt Nádas mit anderen Worten, auch hier wenigen nur. Trotzdem glaube ich sie zu kennen. Rührend aber die Unsicherheit des jungen Mannes, alles scheint für ihn zum ersten Mal zu passieren, egal, ob das Geschehen im Pissoir oder das Umwerben der jungen Frau. Seiner sicher ist er jedenfalls, natürlich sei er nicht in sie verliebt. So ein Dummerchen, denke ich, und finde endlich mal wieder einen Grund, um wenigstens zu grinsen, wenn mir das Lachen eh schon wieder vergangen ist, weil es ja wieder eine eingewobene Geschichte, nämlich die der Bombadierung der Häuserzeile, gibt. Einfach mal wieder so ein Abdriften in eine andere Zeit, in einen Schrecken, in eine andere Szenerie, parallele Geschichten eben. Das empfinde ich immer wieder als unglaublich gut gemacht.


    8. Kapitel des 2. Buches
    Madzar, der Architekt, und Frau Szemzó beobachtet der Leser in diesem Abschnitt, plant und verändert die Wohnung, die auch als Praxis dienen soll. Das kürzeste Kapitel bisher, gerade einmal neun und eine halbe Seite lang. Ein Kammerstück, so kommt es mir vor.


    Im Grunde genommen könnte man aus jedem Kapitel einen ganzen Roman machen, oder aus einzelnen Szenen.
    Was mir an diesem Buch, das ich nun wirklich nicht mehr Roman nennen möchte, fehlt, ist ein Personenregister, sind weiterführende Hinweise. Ehrlich gesagt, ich bin mehr als ein wenig angefressen, dass mir das verweigert wird, dass ich einen extra Band kaufen soll, um vielleicht Weiterführendes lesen zu können. Ja, ich verstehe schon, der Autor hat sehr, sehr lange an dem Buch gearbeitet, auch die Übersetzerin hat extrem viel Zeit damit verbracht. Und verdienen muss auch der Verlag, muss auf seine Kosten kommen. Trotzdem!


    9. Kapitel des 2. Buches
    Dieses Kapitel hat mir bisher am Schwersten zu schaffen gemacht, hat mir üble Träume beschert. Das hat einerseits zu tun mit den Menschen, die eine eintätowierte Nummer auf dem Arm haben, mit den Verkrüppelten, zum Beispiel dem Mann, „der nur noch aus dem Rumpf bestand“ (Seite 723) oder der Frau, die Kristóf, aus dessen Sicht das Kapitel geschrieben ist, nur „die Brandwunde“ (Seite 725) nennt. Die Sätze, die diesen beiden Personen gewidmet sind, sind einerseits wieder so genau beschreibend, aber ich lese auch Anteilnahme heraus. Vielleicht liegt es daran, dass Kristóf Assoziationen hat, beide als Mutter und Vater(-Ersatz) anzusehen. „... was soll man denn mit fremdem Schmerz anfangen“ fragt sich der junge Mann (Seite 726), aber kann er wirklich gleichgültig bleiben? Werden die Lebensumstände ihn zwingen, ein Egoist zu werden?
    Zum anderen haben mir die Szenen zugesetzt, in denen beschrieben wird, wie das ging, damals, das Besorgen von Brot, die Bedrohung der russischen Panzer, das Schlangestehen, das Warten, ob man Brot bekommt oder ob sie schießen. Erschreckend dazu das, was Nadás die „Psychologie des Schlangestehens“ (Seite 736)nennt, alptraumhaft, ein anderes Wort fällt mir dazu nicht ein. Und ich bin froh, dass der Abschnitt zu Ende ist.

  • Zwischenstand nach 1150 von 1724 Seiten


    10. Kapitel des 2. Buches
    Die Hauptfigur dieses Kapitels ist Madzar, der Architekt. Seine Gedanken zu „belauschen“, ob sie nun Frau Szemzó betreffen oder den Fluss, auf dem er in Richtung Heimat, nämlich Mohács, fährt, ob seinen Beruf oder seine Vergangenheit, birgt einiges an Interessantem, unter anderem, dass er wohl kein gebürtiger Ungar ist. Es gibt ein paar extrem starke Szenen innerhalb dieses Kapitels, wieder deutet sich so vieles an; was wohin das führen wird, ist noch nicht recht klar, aber sind diese Kleinigkeiten: Hier ist ein Gedanke, dort ist eine Handlung oder ein Gegenstand dazu, hier ist eine Geschichte, dort eine andere, beide stehen in Beziehung zueinander, vielleicht, vielleicht auch nicht, vielleicht nur für den Autor, vielleicht nur für den Leser. Die großen Linien zu erkennen, ist nicht sonderlich schwer, aber das Buch steckt voll von solchen kleinen, manchmal winzig kleinen Strichen, ich überlese sie sicherlich öfters, als mir lieb ist.
    Die zweite wichtige Person dieses Kapitels ist der Kapitän des Schiffes, nämlich der hochwohlgeborene (mein Wort!) László Freiherr und Ritter von Bellardi. Seine Zeichnung durch Nádas ist in meinen Augen schlicht ein Meisterwerk, obwohl er sein Personal wahrlich exzellent zu charakterisieren versteht.
    Ein Name wird erwähnt, „Elisa“ (Seite 767) und schon ist man wieder im 11. Kapitel des 1. Buches, zumindest werde ich daran erinnert. Elisa ist eine bedauernswerte Frau, die ich dort gar nicht erwähnt habe, obwohl sie von einiger Wichtigkeit zu sein scheint. Sie ist schwer krank, dabei will ich es belassen.
    Auch in diesem Kapitel wieder Sätze, die mehr als nachdenklich machen, ein steter Wechsel von Handlung zu Gedanken, von der Gegenwart zur Vergangenheit, von Szene zu Szene.
    Und eines ist klar: Für die Charakterzeichnungen, für manches Bild liebe ich Nádas, dafür kann ich auf manche für meinen Geschmack allzu detaillierte Beschreibung von Sex oder Gewalt sehr gut verzichten.


    11. Kapitel des 2. Buches
    Kristóf berichtet wieder, zum Beispiel, wie er Pisti (man erinnert sich an die Erwähnung im 1. Kapitel des 2. Buches) kennenlernt, wie er ihn erneut trifft, er erzählt von dieser „Art Urlaub“ (Seite 808), bei der die Kinder zur Erholung geschickt werde, ohne dass jemand zu wissen bekam, wohin die Reise ging. Es gibt eine bedrückende Schilderung der bedrückenden Situation in Ungarn nach dem Aufstand, es gibt eine mindestens ebenso bedrückende Schilderung der Situation Kristófs innerhalb der Familie, seine deutlich wahrgenommene Einsamkeit.
    Es ist eines dieser Kapitel, die in mir fast so etwas wie Entsetzen auslösen, das mich wiederum hat frösteln lassen, das aber auch dazu beiträgt, dass ich unbedingt und manchmal mit angehaltenem Atem weiter lesen werde.


    12. Kapitel des 2. Buches
    Madzar in Mohács mit Erinnerungen an die Schiffsfahrt und dem Gespräch mit Bellardi. Es gibt eine Hinweis auf eine „Geheimgesellschaft“. Die beiden Männer schaffen es auf bemerkenswerte Weise, aneinander vorbei zu reden und vom jeweils anderen das Falsche zu erwarten.
    Und tatsächlich gibt es eine Parallele zu Erna und ihrem im Sterben liegenden Mann. Und den Besuch bei einem Holzhändler, es gibt Sätze, Andeutungen auf andere Geschichten, von denen ich hoffe, sie werden erzählt.


    13. Kapitel des 2. Buches
    Der Leser begleitet Madzar beim Holzkauf, fließend der Übergang, wie er den Holzhändler beobachtet und wie jener Madzar beobachtet. Nur ein paar Sätze, wenige Worte und schon ist man wieder beim Architekten. Ich will gar nicht wissen, wie lange man an solchen Szenen arbeiten muss, aber es liest sich einfach klasse!
    Er findet jedenfalls ganz bestimmtes Holz, das ihn sofort fasziniert, von dem er weiß, dass er es haben muss. Gleichwohl habe ich den Eindruck, mit dem Holz stimmt irgendetwas nicht, die Beschreibung dazu weckt in mir ein leises Gefühl von Bedrohung, und das nicht nur, weil die aufeinander geschichteten Hölzer als „Scheiterhaufen“ (Seite 872) bezeichnet werden.
    Ein extrem starkes Kapitel für mein Empfinden, auch, weil der Holzhändler genauer vorgestellt wird, seine Einsamkeit, seine Frau und das Zusammenleben, ganz besonders aber, weil Nádas es auf eine unglaubliche Art und Weise schafft, die Gottverlassenheit dieses Händlers mit Namen Gottlieb, der doch immer seine Gebete spricht, immer in seinen frommen Büchern liest, fast greifbar darzustellen, aber „der Herr hört nicht, auch wenn er nicht taub ist“ (Seite 881). Neben Frau Szemzó ist er die Gestalt, die mich bisher am meisten beeindruckt, die mein Mitgefühl einfordert und meine Gedanken fast an ihm festkleben lassen.
    Aber wenn ich gedacht habe, dieses Kapitel würde mich derart fesseln, dass es die nächsten schwer haben würden: weit gefehlt, denn dass


    14. Kapitel des 2. Buches
    führt mich in ein Lager, es ist wohl kurz vor Ende des 2. Weltkrieges, alles ist schon in Auflösung begriffen und doch funktionieren Grauen, Schrecken, Tod. Das Miteinander und Gebaren unter den Häftlingen wird angedeutet, am Schluss dieses Kapitels wird es zwei weitere Opfer geben. Ein Name taucht auf, der Erinnerung weckt an einen der drei Männer des 5. Kapitels des 1. Buches: „Kovách“ steht da, einfach so, ein „Genosse“ war er, dessen „kleiner Junge“ von einem der beiden Männer, die zu Opfern werden, „geschleust“ (Seite 916) wurde. Hans von Thum zu Wolkenstein hat er geheißen, der Junge, in Deutschland wohl, in Ungarn wurde aus ihm dann János Kovách – und ich bin ein bisschen beruhigt, dass eine der vielen, unendlich vielen Geschichten ein Stück weit ergänzt wird. Auch der Name Döhring taucht auf, so weiß man dann auch, wo man sich befindet.
    Und wer bisher noch nicht wissen wollte, kann nicht umhin, es zur Kenntnis zu nehmen: In den Beschreibungen von Gewalt ist Nádas ebenso detailliert, ebenso akribisch wie bei den Sex-Szenen.


    Mit dem Ende dieses Kapitels ist auch das Ende des 2. Buches erreicht. Ich bin jetzt richtig an das Buch gefesselt, Roman möchte ich es immer weniger nennen, vielmehr habe ich hin und wieder den Eindruck eines modernen Wandteppichs, mit unterschiedlich starken Fäden oder anderen Materialien, mit unterschiedlich starken Farben natürlich auch. Eine Szene steht mir nämlich seit etlichen Seiten vor Augen: Ein Gemach, in dem 300 fleißige Stickerinnen an einem Tuch arbeiten, einem Tuch, das auf einzigartige Weise eine große Geschichte erzählt und doch so viele kleine Geschichten dazu, ein Tuch, das als Teppich von Bayeux bekannt ist. Die Szene ist stammt aus einem der Bücher, die ich über alles liebe, nämlich Marta Morazzonis „Die Erfindung der Wahrheit“. Viele kleine Begebenheiten, viele Personen, alles zusammen wird ein großes Ganzes ergeben. Bei dem Teppich von Bayeux weiß ich es, bei den „Parallelgeschichten“ hoffe ich es, aber was ich bisher gelesen habe, weckt in mir eine Ahnung, dass dem so sein wird.



    1. Kapitel des 3. Buches
    Gyöngyvér, ihre Erinnerungen und ihre Gesangsübungen, nicht zu vergessen ihre Träume beginnen den letzten Abschnitt des Buches. Die Strenge der Lehrerin kann oder will sie nicht verstehen, auch nicht, dass man niemals zufrieden sein darf mit dem, was man erreicht hat.
    Auch in diesem Kapitel sind die Fäden durcheinander gewebt, sprich, der Leser verlässt die verzweifelnde Gyöngyvér, um sich Kristóf zuzuwenden, aber allzu lange bleibt man nicht beieinander, sondern wendet sich wieder der jungen Frau zu in ihren kreisenden Gedanken, auch ihre Kindheit betreffend, die wahrlich extrem gewesen sein muss. In einer wahrlich beängstigenden kurzen Passage horcht der Leser mit ihr „in die Vergangenheit“ (Seite 972) und bekommt eine Ahnung von dem, was Frau Szemzó und ihrer Familie, ihrem Haus geschah. Diese Passage webt den Faden weiter zu Madzar, zu der Zeit, als die Wohnung eingerichtet wurde, als der Architekt die Möbel plant und als er über seinen Freund oder Nichtmehrfreund Bellardi nachdenkt. Die Fäden kreuzen sich, laufen nebeneinander her, mal Gyöngyvér, mal Madzar, mal Kristóf, mal der schwarze Hund, mal ein Geheimrat, und ein dünner, blasser Faden, der den Sohn Gottliebs repräsentiert, eine Ahnung eines Unglücks – oder war es mehr?
    Ein langes Kapitel, das viel fordert, vor allem viel Aufmerksamkeit, aber dennoch mich ein wenig erholen lässt von den letzten beiden Kapiteln des 2. Buches.
    „Parallelgeschichten“ heißt das Buch, aber die Parallelen ergeben sich nicht nur innerhalb der vielen, vielen Seiten, sondern auch zur Situation Ungarns, wie sie sich seit einiger Zeit im Hier und Jetzt darstellt.


    2. Kapitel des 3. Buches
    Owei, owei, hoffte ich nicht, mich weiter ein wenig „erholen“ zu können? Aber jetzt wird es heftig, sehr heftig sogar: Wir sind in Berlin-Dahlem, wir belauschen ein Gespräch unter adeligen Personen, nämlich Otmar Freiherr von der Schuer sowie der Baronin Thum (ja, ja, den Namen hat man schon gehört) und der Gräfin Auenberg. Man denkt an nichts böses, höchstens, dass da zwei sind, die sich ineinander verlieben könnten, aber dann haut es mir um die Ohren: „die Forschungen in Rassenbiologie und Vererbungslehre“ (Seite 1027). Man lernt den wenig braven Freiherrn genauer kennen, erfährt von seinen Erlebnissen im 1. Weltkrieg und in der vom Adel verachteten jungen Republik, was mich aber an den Rand des für mich Erträglichen gebracht hat, waren seine wissenschaftlichen Überlegungen zu „gewissen bevölkerungshygienischen Fragen“ (Seite 1029), sein Karrieredenken, das, was ich „Standesdünkel“ nennen möchte. Nádas charakterisiert diesen Mann zu genau, wollte ich es wirklich so genau wissen? Aber bevor meine Aversion gegen diesen Mann so stark wird, dass ich das Buch zunächst beiseite lege, wechseln wir die Kulissen und begleiten die Baronin und die Gräfin. Ein Duell unter den beiden Frauen, die sich da noch Freundinnen nennen, ist mitzuerleben, sie führen beide eine scharfe Klinge und wissen ihre Treffer zu setzen. Ihre Waffen sind Worte und das antrainierte ach so gute Benehmen. Sodann begleiten wir die beiden Damen zum Hause Schuer.
    Und die Schatten in den Kulissen werden sichtbar, keine guten, wahrlich nicht: Himmler beispielsweise, Kaltenbrunner, Mengele, Rassengesetze, Zwillings- und Augenfarbenforschung. Und Pastor Niemöller war Schuer Seelsorger. Nun ja, was soll man dazu noch sagen?
    Das also auch noch, ich frage mich, was bleibt mir noch nicht erspart?


    3. Kapitel des 3. Buches
    Aufatmen meinerseits, es geht zurück zu Kristóf, er folgt seiner Schönen bei heftigem Wind, wohl eher Sturm durch die Stadt. Vor einer Kirche wird Halt gemacht, es entwickelt sich ein Gespräch, bei dem ich hin und wieder Mühe hatte zu verstehen, was hier eigentlich gespielt wird. Dem jungen Mann scheint es aber ähnlich zu gehen, so dass ich mir wohl keine weiteren Gedanken machen muss.
    Jedenfalls ein weiteres Kapitel zum Luftholen, denn was im


    4. Kapitel des 3. Buches
    folgt, ist ein meisterliches Kabinettstück, wieder habe ich den Eindruck eines Kammerspiels, allerdings eines erweiterten. Wir sind im Hause Schuer beim Essen, es folgt ein peinliches fast verliebtes Getändel mit allzu ernstem Hintergrund, denn die Schatten in den Kulissen verdichten sich, man lernt die Freifrau kennen und bekommt einen Einblick in diese … ähem … Ehe nach Plan (montags halt Wäsche und samstagsnachts … nun ja, halt die ehelichen Pflichten). Es baut sich eine Spannung auf, nicht nur durch die Situation bei Tisch, sondern auch durch kleine Abstecher zum Beispiel zu den Kindern, ganz gewiss aber durch das, was der Freiherr zu sagen beliebt. Er nennt sich Wissenschaftler, was ich zu ihm sagen würde, lege ich besser nicht nieder, es ist kein freundliches Wort. Er prahlt vor der jungen Frau, die ihn förmlich verzaubert hat, nicht nur mit seinen Forschungen, sondern auch mit seiner Kommunistenjagd.
    Dieses Kapitel bietet einiges, was wenig erfreulich ist, das „wissenschaftliche“ Gerede für mich, das (auf Wunsch des Hausherrn) wenig bis ungewürzte Essen für die Gäste, so dass es fast schon eine Erleichterung ist, dass die Kinder sich nicht so benehmen, wie sie sollen und schlussendlich der Junge in Ohnmacht fällt. Wodurch der Zauber verfliegt, auch durch den Umstand, dass niemand sich sorgt um den Jungen, es bleibt also alles beim Alten.
    Und fast zum Schluss des Kapitels bin ich fast schon begeistert darüber, endlich mal etwas zu finden, was sich wie ein Fehler anfühlt: die Baronin ist mit Schuer, der auch ihr Chef ist, im Arbeitszimmer, im Wohnzimmer befindet sich die Gräfin und die „eben eintretende Baronin“, wobei ich mir ziemlich sicher bin, dass die Freifrau es ist, die eintritt. Bemerkenswert, dass erst auf Seite 1149 so eine – für mich – Unsicherheit auftritt.
    Und selbstverständlich verlassen wir das Kapitel nicht ohne Andeutungen auf diesen oder jenen, hier auf Hans, den Sohn der Baronin. Es bleibt spannend.

  • Zwischenstand nach 1394 von 1724 Seiten



    5. Kapitel des 3. Buches
    Wieder begleiten wir Kristóf, diesmal im Wagen des Mannes seiner Angebeteten, er hockt sich überflüssig vorkommend auf dem engen Rücksitz, versucht, sich unsichtbar zu machen, weil er ein Gespräch, ich möchte es fast inszenierten Streit nennen, zu belauschen hat. Es ist schon ein Aufregendes um die Gedankenwelt dieses jungen Mannes, manchmal erscheint er mir fast zu klug für einen 18- oder 19-Jährigen, aber vielleicht hat ihn die Einsamkeit einen genaueren Einblick, eine vorgezogene Reife geschenkt.
    „Sie hatte viele Gesichter. Ich musste mich daran gewöhnen, dass ich immer nur eines sah, und das hatte nichts Physisches“ (Seite 1161) sagt er über die Frau, die sich ihm so schillernd zeigt, dass er gar nicht mehr weiß, woran er ist.
    Es hat wahrlich viele Gesichter, das Buch, ich nehme Szene für Szene, Absatz für Absatz, ja Satz für Satz und muss es zusammenbringen. Selbst wenn ich versuche, den Inhalt eins Kapitels wiederzugeben, weiß ich, dass ich daran scheitern werde, zu dicht ist das Gewebe, zu viel, was wichtig erscheint, zu viele Gedanken der Protagonisten; wie soll man entscheiden, was man „nacherzählt“? Denn ich möchte nicht allzu viel interpretieren, auch wenn meine Auswahl ja schon Interpretation ist.


    6. Kapitel des 3. Buches
    Das einzige Kapitel, das den Namen eines Protagonisten im Titel trägt: Hans von Wolkenstein. Er ist in einem Internat, oder sollte man sagen einer Anstalt, später fällt das Wort „Lebensborn“ (Seite 1196), die Jungen, die dort untergebracht sind, verstehen vieles und das Wichtigste doch nicht, der sich mit der Materie auskennende Leser dafür umso mehr. Rassenbiologische Messungen werden erwähnt. Die Jungen, die sich dem durch Selbstmord entziehen, werden „defekte Exemplare“ (Seite 1181) genannt, man vergleicht sich, interessiert sich besonders für Botanik (Seite 1190) und hält zusammen, gegen die Lehrer, sie versuchen sich gegenseitig zu schützen und beschützen. Ein Haus für besondere Kinder („sie waren allesamt Bastarde“, Seite 1202), nicht nur eines, in diesem sind nur Jungen untergebracht. Ein Kapitel, in dem man sehr viel erfährt über die „Rassenideologie“ der Nazis.
    Es ist wieder eines der Kapitel, die überaus bedrückend sind, zu real sind die Beschreibungen, zu deutlich, um was es ging.
    Auch hier wird deutlich, dass der Freiherr von der Schuer einer historischen Person nachgezeichnet ist, der Vorname stimmt sogar überein: Otmar von Verschuer, sein Assistent war ja Mengele. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass Karla von Thum undKarin Magnussen einiges gemeinsam haben, nicht nur die Augenfarbenforschung.


    Erwähnt wird neben einigen anderen Zöglingen ein Junge namens Kienast und ich frage mich, ob er wohl in einem verwandtschaftlichen Verhältnis zum Kommissar aus den ersten beiden Kapiteln hat.
    Es deutet sich einiges an, unter anderem, dass Hans einer für damalige Zeiten doch eher brisanten Verbindung entstand: Mutter überzeugte Nationalsozialistin, Vater offensichtlich Kommunist, der ihn „entführen“ will, ich würde es per se erst einmal „in Sicherheit bringen“ nennen. Und da der Leser schon die Bekanntschaft des erwachsenen Hans von Wolkenstein gemacht hat, wird diese Entführung wohl auch gelungen sein.


    7. Kapitel des 3. Buches
    Wieder betrachten wir Kristóf, der von seinem „Duell“ mit dem Mann seiner Angebeteten berichtet, diese hat die beiden verlassen, um sich „ausgehfein“ zu machen, später verlässt ihn auch der Mann und der Junge steht allein vor dem Haus, das er zu kennen meint, wiederzuerkennen. „Es war ein Sternhaus“ (Seite 1237), Kristóf wusste nicht recht, was das bedeutete, auch der Begriff „Mezzanin“ war ihm kein Begriff. Woher auch, möchte man denken. Viel erzählt er auch über seine Kindheit, verlassen von der Mutter – freiwillig -, und vom Vater – wohl unfreiwillig -, dem Leben bei den Großeltern.
    Ein Kapitel, das mir fast, aber nur fast eine Atempause verschafft, denn zu greifbar wird die Einsamkeit des Kindes, wird die Suche nach jemandem, der ihm Liebe zu schenken vermag.


    8. Kapitel des 3. Buches
    Nach – wie viel Seiten eigentlich – befinden wir uns wieder im Taxi mit Erna, Gyöngyvér (nein, dieser Name schreibt sich nicht gut, wirklich nicht...) und natürlich dem Chauffeur, der „Beobachtungen rassischer Merkmale“ (Seite 1250) anstellt und von dem sich dann herausstellt, dass es Bellardi ist, jener Freund oder Nichtmehrfreund des Architekten Madzar, den er für eine „Geheimorganisation“ gewinnen wollte.
    Es ist eines der längeren Kapitel, über 100 Seiten geht es, es springt hin und her zwischen den drei Personen, zeichnet die Gedanken, die Überlegungen nach, erzählt wieder von der Vergangenheit der Protagonisten, zum Beispiel Bellardis Verurteilung zu lebenslangem Zuchthaus (Seite 1262), aber man erfährt auch – erfreulicherweise, wie ich finde – endlich mehr zu Professor Lehr, dem Ehemann Ernas, der ebenso berühmt wie berüchtigt gewesen zu sein scheint.Und man erfährt wieder so viele Kleinigkeiten, zum Beispiel, dass der Film „Casablanca“ auch in Ungarn zu sehen war, was mich ja nun doch verblüfft hat, denn obwohl ich ihn nie gesehen, nur darüber gehört habe, hätte ich vermutet, dass er in einem kommunistischen Land eher ein Tabu war. Aber gut, nun weiß ich auch das. Wirklich interessant (für mich) aber ist die kurze Passage über Klemperer Fidelio-Aufführung in Budapest, das ist in so wenigen Sätzen so dicht beschrieben, dass selbst mir ein Schluchzen entschlüpfte (Seite 1265, 1266 nachzulesen … und mein Schluchzen ist nur ein Widerhall auf die Reaktionen des Publikums).


    Jedenfalls „verdichten“ sich meine Gefühle hinsichtlich der Protagonisten: Bellardi erscheint mir immer bedauernswerter, Gyöngyvér ebenso, Erna ist eine Frau, die man für ihre Stärke sicherlich bewundern sollte, den Professor verachte ich nach diesem Kapitel aus tiefstem Herzen, Ágost ist, wenn man sich die Welt von heute so betrachtet, ein Mensch von erstaunlicher Modernität (vielleicht bin ich insoweit auch nur zu zynisch), Madzar jemand, von dem man vermutlich noch einiges zu erwarten hat. Es ist aber allen Genannten gleicht: Sie leben dort in einem Zustand, an dem Liebe nicht vorkommt. Aber sie suchen sie, suchen sie teilweise verzweifelt. Vielleicht deshalb die für meine Begriffe zu ausufernden Sex-Szenen? Weil sie die Leere in ihrem Herzen irgendwie kompensieren müssen? Ach, ich wollte doch nicht interpretieren ...


    Keinesfalls ist mit der Taxifahrt das Kapitel beendet, nein, es gibt noch einen Abstecher ins Lukács-Bad, das wir ja, ebenfalls viele Seiten vorher, verlassen hatten, als ein junger Badehelfer einen epileptischen Anfall erlitten hatten, es geht zu den drei jungen Männern, Hans von Wolkenstein, der ja hier János Kovách heißt, Ágost und eben André Rott, der in einem Gespräch mit einem Mächtigen namens Karakas zum Verräter des einen Freundes wird. Von ungeheurem Interesse meinerseits die Erwähnung der „Eichmann-Papiere“ und das Geschacher darum (Seite 1339), ich werde an eine der aufregendsten Lektüren dieses Jahres erinnert: „Eichmann vor Jerusalem“ von Bettina Stagneth. Und es gibt eine mich beängstigende Studie eines Freundes-Verräters.
    Es gibt aber noch viel mehr, aber dabei belasse ich es jetzt. Außer vielleicht, dass Mária Szapáry (eine der vier Frauen aus dem „Minenfeld-Damenclub“) zur Möderin und Selbstmörderin wurde, was mal eben so in ein paar Sätzen zur Sprache kommt.


    9. Kapitel des 3. Buches
    Kristóf erinnert sich im Treppenhaus des Mietshauses an seine Kindheit, an ein Mädchen, Ilonka hieß sie, er erinnert sich an seine Bemühungen, es allen recht zu machen, nicht anzuecken, er erinnert sich noch an mehr aus seiner Kindheit, die eine einsame war und ihn deutlich geprägt haben muss, was sehr deutlich nicht nur aus dem Verhalten des jungen Mannes, sondern mehr noch an seinen Gedanken abzulesen ist. Er wartet auf Klára, zu einem Fest wollen sie ja gehen, als sie dan auftaucht, von geradezu beängstigender, in den Bann schlagender Schönheit, angetan mit einem geliehenen Nerz, beginnt wieder ein Spiel aus Worten, das zum Streit auswächst – oder ist es doch kein Spiel? Ist es zu tiefer Ernst? Und warum, so frage ich mich seit geraumen, warum braucht Kristóf so viele Worte bei der Person, in die er sich verliebt oder verlieben will, deren Liebe er begehrt. Bei seinem Erlebnis im Pissoir – und dort meinte er doch auch seine Liebe zu treffen – ging es fast ohne Worte ab.
    Jedenfalls endet das Kapitel damit, dass sie immer noch nicht losfahren.


    10. Kapitel des 3. Buches
    Jetzt musste ich aber doch wieder einmal schmunzeln, was aber nicht unwillkommen ist, denn allzu viel zu lachen hat man nicht in diesem Buch: Im 9. Kapitel scheint Klára Kristóf zum Schluss doch so zu verblüffen, dass wir im 10. nahtlos mit dem Blick des jungen Mannes auf sie beide fortfahren. So häufig war doch noch nicht, um nicht zu fragen, kam es überhaupt schon vor? Jedenfalls reden sie weiter, streiten sich weiter, verstehen sich, verstehen sich nicht, würden gerne miteinander „sterben“ (Seite 1385). „Ich habe Angst“ sagt Kristóf zu ihr (Seite 1386), und „damit endete das Lachen“ (auch Seite 1386), was durchaus verständlich ist, denn mit der Liebe es schon ein Eigenes, vielleicht erfahren sie sie, vielleicht ist sie schon da, zwischen ihnen, in ihnen und da kann einem schon Angst und Bange werden. Jedenfalls stellt sich heraus, dass Klára mehr über Kristóf weiß, als dieser ahnt und dass er einen Blick auf seine Tante (Erna) und seinen Cousin (Ágost) bekommt, den er kaum erklärbar findet. Und man fährt immer noch nicht los.



    So, auf zum Endspurt...

  • Mein Notizbuch ist voll! Meine Güte, und was hab ich da alles notiert: Mich aus irgendeinem Grund bewegende, nicht unbedingt immer „schöne“ Sätze, Absätze, die ich noch einmal lesen werde, meine Gedanken zu diesem und zu jenem, meine Vermutungen und Schlussfolgerungen undundund.
    Eigentlich trifft es sich da ja ganz gut, dass ich mit dem Buch auch durch bin :-]und so kann ich – zugegebenermaßen – mit ein wenig Stolz, überhaupt nicht unzufrieden und ziemlich erschöpft zu den letzten vier Kapiteln noch Folgendes vermelden:


    11. Kapitel des 3. Buches
    Lange, lange hab ich darauf gewartet, nun ist es soweit: Dr. Kienast hat noch einen Auftritt und Student Döhring auch gleich mit. Sozusagen noch ein kleines Kammerstück. Aber was für eines! Meine Frage aus dem 6. Kapitel des 3. Buches wird auch beantwortet, es bestehen enge familiäre Verbindungen zwischen dem Zögling Kienast und dem Kommissar. Dieser sieht Döhring im Griff einer Geisteskrankheit, es entwickelt sich ein Gespräch mit eingewobenen Gedanken – oder sollte ich besser sagen: Ich habe den Eindruck eines Duells mit ungleichen Waffen, wobei nicht einmal klar ist, wer eigentlich wessen Gegner ist. Und es gibt sogar mehr als ein Geständnis.


    12. Kapitel des. 3. Buches
    Wieder eines der ganz langen Kapitel, 140 Seiten lang, eines von denen, die keinen Anfang und kein Ende haben, d. h., das stimmt ja gar nicht, es hat seinen Anfang weiter vor in vielen verschiedenen Kapiteln, ein Ende kann es ja nicht haben, weil die Geschichte ja weitergeht, auch wenn ich sie nicht mehr weiterlesen kann. Aber Nádas hat mir so viele Hinweise gegeben, dass ich mir die Richtung aussuchen kann, in welche sich seine Figuren entwickeln werden; bei manchen ist es fast klar, aber was kann nicht alles passieren, wenn einem das Leben in die Quere kommt?


    Der Leser begleitet Kristóf und Klára – und diesmal ist es wieder wie am Anfang des (ganzen) Buches: Ein Erzähler tritt auf, Kristóf ist wieder Teil der Geschichte, nicht Beobachter seiner selbst und dessen, was und wer ihm wiederfährt. „Die Zukunft lief voran, sie hinkten mit ihrem Tun und Sagen gründlich hinterher“ (Seite 1455, 1456) – kann man eigentlich besser sagen, wie es um so viele von uns und ganz besonders von den beiden, die vielleicht daran denken, ein Paar zu werden, bestellt ist? Nun ja, wenn sie nicht so viel geredet hätten und dazu immer wieder stehengeblieben wären, wären sie schon längst da, wo sie hinwollten, nämlich bei der Party irgendwo in Budapest, wo keiner den anderen kennt, und doch kennen sich alle. Aber wenn sie nicht ständig geredet hätten, hätte ich ganz schön was verpasst, also passt es schon wieder. Kristóf jedenfalls erscheint noch ein bisschen klarer vor meinen Augen, ich erfahre etwas über ihn, was ich eigentlich nicht wissen wollte und dass er eine ganz eigene Beziehung zu dem „Riesen“ hat und sie lebt, ohne dass es klar wird, ob die beiden sich jemals wiedersehen wird. Er – der Riese - bekommt sogar einen Namen und mir fällt spontan ein, dass es nun ein Geheimnis weniger gibt und dass es einen Grund haben wird, warum dieser Name nun genannt wird. Klarer wird auch, wessen Tochter Klára ist und wie sich ihr Zusammenleben mit ihrem Freund (?) Simon gestaltet.
    Und es ist soweit: Nach einer langen Autofahrt durch diverse Kapitel, unzähligen Stopps, Gesprächen und Streitereien sind sie da, auf Seite 1521 – dachte ich zumindest, aber sie sind „nur“ in einer Bar, sozusagen zum Warmlaufen, hinterher geht es wirklich zur Party. Es gibt viel zu viele Leute, von denen nur sehr wenige nicht betrunken sind, es gibt einen Satz, der mit acht Worten die (damalige) politische und gesellschaftliche Situation in Ungarn zeichnet: „Mit der Zukunft rechnete damals niemand mehr ernsthaft“ (Seite 1533), dazu passend einen Rückblick auf Silvester 1956. Kristóf, den wir auf der Party hinterherlaufen, trifft Pisti, für mich wenig überraschend sind auch Ágost und Gyöngyvér auf der Party, Klára ereilt etwas Schreckliches und muss ins Krankenhaus. Es kommt so unendlich viel in diesem Kapitel zur Sprache, erwähnt sei nur noch, das Professor Lehr, Ernas Mann, nun doch gestorben ist, dass Ágost und Gyöngyvér heiraten, der Leser erinnert sich auch, warum dass so sein sollte, dass die beiden eine Hochzeitsreise machen und Gyöngyvér verlassen wird, wo und wann verrate ich nicht, nur, dass ich schrecklich wütend war, wie man mit dem armen Menschenkind umgegangen ist. Und die Eichmann-Papiere finden auch noch einmal eine Erwähnung.


    13. Kapitel des 3. Buches
    Ein Mann reißt aus, „endlich war er frei“ (Seite 1592). Frei vom Job, frei von der Familie, aber nicht frei von seinen Gedanken, die sich beginnen im Kreis zu drehen, immer enger, bis sie ihn eingekreist haben und zu einer Handlung zwingen, die sich wie eine konsequente Fortsetzung seines Wesens, seines Lebens, seines Werdeganges darstellt: Er mordet. Auf den ersten Blick steht dieses Kapitel in keinem Zusammenhang mit den übrigen Kapiteln, bis erwähnt wird, dass der Mann, Gefängniswärter war er im Berufsleben, der Bruder des Hauswarts des herrschaftlichen Hauses ist, in dem Erna samt Familie lebt.
    Auch in diesem Kapitel gibt es hinreißende Charakterisierungen, beispielsweise des Wärters, Balter heißt er, eines Pastors und seines Enkels, eines psychisch Kranken – und von Bremsen, nein, nicht die von Autos, sondern die, die so viele Gärtner zu hassen lernen, weil sie so heimlich heimtückisch zuzustechen wissen. Es ist – für mich – kein schönes Kapitel, zu viel Hass, zu viel Gewalt, zu viel Blut.
    Zu Balter und dem Pastor gäbe es so vieles zu sagen, aber Nádas sagt das Wichtigste in einem Satz: „Was auch immer gewesen war, beide waren sie unterwegs aus ihrem Leben hinaus.“ (Seite 1654).


    Kaum kann ich es glauben, aber es ist auf einmal da:
    Das letzte Kapitel des. 3. und damit auch des gesamten Buches
    Das hätte ich nun nicht gedacht: Der Riese hat einen Auftritt, nicht als Liebes- und/oder Lustobjekt, sondern sozusagen einen ganzheitlichen. Er ist Mitglied eines Straßenbautrupps, einer von vier Zigeunern, dazu gibt es noch den Werkmeister Bizsók. Sie werden dem Leser allesamt vorgestellt, man erfährt so einiges über die Sitten und Gedanken der Zigeuner und des Werkmeisters sowieso, man erfährt, dass dieser der Ziehvater von Gyöngyvér ist. Es schließen sich in diesem Kapitel einige Kreise, aber nicht so vollständig, dass man „Ende“ unter den letzten Satz schreiben könnte.
    Der Riese jedenfalls erinnert mich ein wenig, ganz entfernt… manchmal ein bisschen an Kasper Hauser, manchmal ein wenig an Parsifal und auch ein wenig an Aljoscha (aus den Brüdern Karamasov). Überhaupt kam mir während des ganzen Buches immer mal wieder der Name Dostojewskij in den Sinn, was sicherlich damit zu tun hat, dass viele der Personen einen so unendlich einsamen Eindruck hinterlassen. Und ich manchmal den Eindruck von etwas so Zwangsläufigem hatte.
    Wie es sich bei den „Parallelgeschichten“ fast schon gehört, endet das Buch mit einer Aussicht auf eine (mindestens) neue Geschichte, mit einem Schrecken, man weiß aber nicht, wovor man erschrecken muss, es endet offen, weil das Leben ja weitergeht, das der Personen des Buches und meines sowieso, auch wenn ich das Gefühl habe, förmlich in ein Loch gefallen zu sein, als ich auch die letzte Seite ausgelesen hatte.


    Was für ein Buch!
    Und mein vieles Geschreibsel ist nur ein kleiner Teil von dem, was in einer Inhaltsangabe zu stehen hätte.


    Und damit ich aus meinem mentalen Loch herausklettern kann, werde ich gleich im Anschluss "Péter Nádas Lesen" lesen.