Lieber Zitronen
Vor dem Fenster tanzen Schneeflocken. Leicht fallen sie vom Himmel, drehen sich in Pirouetten um sich selbst, einige berühren sich, ziehen sich an, das Gewicht lässt sie auf den Boden sinken, gezwungen, sich dort miteinander in kleinen Verwehungen aufzutürmen.
„In Neuseeland ist jetzt Sommer“, sagt Phil und zieht die Bettdecke über das Kinn, um dann regungslos zu verharren. Nur seine Augen bewegen sich hektisch zum Spiel der Flocken. „Und hier ist eben Winter“, sagt Lisa, schlägt die Decke mit einem Ruck zurück und steht auf. „So ist das eben. Und wenn hier Sommer ist, dann ist da unten Winter.“ „Nun sei doch nicht gleich wieder motzig.“ Phil zieht sie zurück ins Bett, warm und schläfrig, sein Bart kratzt leicht an ihrer Haut, er schmeckt nach der letzten Nacht. „Es ist toll dort, so grün.“
Langsam vergehen die kalten Tage, Schnee wird erst grau und dann Matsch, die Sonne wärmt daraus kleine Bäche, Wiesen erwachen. Phil bringt einen Kea aus der Stadt mit nach Hause, einen olivfarbenen Vogel, der alles untersucht und zerstört, was Lisa ihm in den Käfig legt. „Ich bin verliebt in Dich, ich bin verliebt in Dich“, plappert er ununterbrochen, ungefragt. Phil kümmert sich nicht viel um ihn und Lisa fragt nicht, weshalb er ihn überhaupt aus der Zoohandlung in ihre Küche geholt hat. Seine Augen sehen traurig aus, wenn er das Tier ansieht und leise mit ihm spricht. Wenn Lisa den Kea ansieht ist es, als stehe sie an einer Klippe, unter der ein tiefer, gefährlicher Abgrund droht.
Nachts wird Lisa wach, sie betrachtet Phils schlafendes Gesicht, die geschlossenen Lider, die Fältchen an seinem Mund. Horcht auf seine Seufzer, einmal lacht er sogar laut. Es klingt befreit in ihren Ohren. Seine Hände greifen nach etwas, das nur er in seinem Kopf sieht und in dem Bilder sich zu einem Traum zusammenfügen, der längst nicht mehr ihr gemeinsamer ist. Denn eigentlich ist er schon weg, während sie hier neben ihm liegt und darauf wartet, dass er sie wach küsst. Dieser Mann in ihrem Bett, der ihr noch fremder war, als in diesem Augenblick.
Am Morgen singen Crowded House "Don' t Dream It' s Over aus dem Küchenradio und Lisa schaltet es schnell aus in der Hoffnung, dass Phil es noch nicht gehört hat, aber beim Frühstück summt er die Melodie abwesend vor sich hin. Seine Kiwi isst er mit Hingabe. Am Abend bleibt seine Bettseite leer, seine zurückgelassenen Sachen erdrücken und ersticken sie fast in der viel zu großen Wohnung.
Als die Blätter in Farben von den Bäumen sterben, bekommt Lisa die erste verknickte Postkarte. „Von meiner Küche aus kann ich auf das Meer sehen, Wale ziehen manchmal vorbei. Nach dem Aufstehen gehe ich schwimmen, ich surfe noch vor dem Frühstück. Alles ist grün, auch das Wasser. Ich sehe Deine Augen, Lisa. Phil.“
„Ich bin verliebt in dich, Ich bin verliebt in dich.“ Lisa hängt erst ein großes Tuch über den Käfig des Vogels, aber er plappert immer weiter. Sie lässt Metallica und Lou Reed in ihrer Küche auftreten, hält sich die Ohren zu bis es schmerzt, zittert mit den Wänden im Takt. Ich bin verliebt in dich, ich bin verliebt in dich, hallt es nach in ihrem Kopf. Nach einigen Tagen öffnet sie Käfigtür und Fenster. „Schaffst Du es bis nach Neuseeland?“, ruft sie dem Tier hinterher. „Komm ja nicht wieder...bleib hier“, und ihre letzten Worte sind nur noch ein Schluchzen, aber er ist ohnehin schon weg und kann sie nicht mehr hören.
Lisa kauft Obst beim Gemüsehändler und ihr Blick fällt auf eine Kiste Kiwis. In Gedanken nimmt sie eine Frucht und schmeißt sie auf den Asphalt. So, wie sie als Kind Wasserbomben auf den Asphalt geschmissen hat. Erst zaghaft, weil sie Angst hat, dass das gute Sonntagskleid nass wird und die weißen Strümpfe in den Lackballerinas, aber dann siegt der Spaß. Sie nimmt noch eine Kiwi und noch eine, immer mehr, schmeißt sie unter Lachen auf den Beton, gleich ist die Kiste leer, batschbatschbatsch, die Schalen platzen auf und das Innere matscht auf den Boden, verteilt sich in unterschiedlichen Grüntönen mit schwarzen Punkten darin. Sie formen Phils Gesicht unter ihren Füßen und Lisa steht mittendrin, in all dem Durcheinander aus Augen, Haaren und Lippen, die sie noch nicht mal in ihrer Phantasie das Gleichgewicht halten lassen. Sie tänzelt und balanciert bis ihr schwindelig wird und sie sich einfach fallen lässt, kraftlos und fehl am Platz wie eine gestorbene Marionette.
„Beste Ware aus Neuseeland, neue Ernte. Frisch und knackig.“ Der Verkäufer blickt zu ihr hinunter, auf das beschmutze, feine Kleid. Er wiegt einen Apfel in der Hand. „Ich wollte das gar nicht", sagt Lisa leise und ihr Gesicht fühlt sich heiß an, langsam öffnet sie die Fäuste, schüttelt den Kopf, atmet tief ein. „Ich nehme doch lieber Zitronen. Zitronen sind besser. Die kommen aus Italien, oder? Von denen geht keine Gefahr aus. Und eine Kiwi, bitte.“
Sie legt die Frucht auf den Küchentisch, ganz vorsichtig, wie ein rohes Ei. Betrachtet den zarten Flaum an der Schale, dreht sie, schneidet sie auf, schnuppert daran bis ihr schlecht wird und wirft sie schließlich in den Mülleimer. Öffnet alle Fenster und umarmt den Durchzug, Regentropfen schlagen auf sie ein, jeden einzelnen bittet sie darum. Es ist Herbst mit einem Schuss Sommer darin, sie trinkt Zitrone pur mit schmerzlindernder Säure.
Die ersten Schneeflocken drehen Pirouetten vor dem Fenster, Steph ist schon aufgestanden. Sie zieht die Decke über das Kinn, betrachtet den Tanz der Flocken, das heftige Auf- und Ab und Hin- und Her und Durcheinander der Formen, Rhythmen und zufälligen Berührungen.
„Weihnachten bei dreißig Grad ist komisch, aber wir haben trotzdem einen Tannenbaum“, steht auf der Karte. Lisa lächelt und pinnt sie zu den anderen an den Kühlschrank. Es sind viele mittlerweile, mit unterschiedlichen Motiven. Meer und Schafe, Berge und Schnee, Wiesen und fremd aussehende Menschen, die nicht lachen, aber hübsche Tätowierungen im Gesicht haben.
Sie kauft Äpfel beim Gemüsehändler, er mustert sie belustigt. „Ich nehme die roten aus Neuseeland. Rot ist gut.“ Es sticht fast gar nicht mehr an der Stelle, an der sich das Herz mit Flicken befindet.
Dann kommt der Tag, an dem Lisa sich eine Kiwi kauft, sie behutsam aufschneidet, die verschiedenen Grüntöne betrachtet, den frischen Duft einatmet und das Fruchtfleisch genüsslich aus der zarten Schale löffelt, ohne sie dabei zu verletzen. Bissen für Bissen isst sie, ohne sich übergeben zu müssen. Sie denkt an Phils Gesicht, das grade auf der anderen Seite ihrer kleinen Welt auf den Ozean blickt und versucht, das Glück zu fassen und festzuhalten. Und sie erinnert sich nicht mehr daran, wie es aussieht. Und dann können sie sich vielleicht wieder begegnen, irgendwann. Egal, wo.