Hochzeitsflug – Yusuf Yesilöz

  • Ich wage, ein Buch vorzustellen, das ich fast nicht vorstellen kann, aber es hat ein zu wichtiges Thema, als das nicht darauf aufmerksam gemacht werden sollte.
    Falls es hier falsch einsortiert ist, bitte ich um Pardon.



    Inhaltsangabe
    Als Beyto mit seinen Eltern das Flugzeug besteigt, um seine Verwandten im tscherkessischen Dorf in der Türkei zu besuchen, freut er sich, die Freunde aus der Kindheit wieder zu sehen, obwohl ihm die Trennung von seinem heimlichen Geliebten Manuel nicht leicht fällt. Umso grösser ist sein Schock, als er überraschend mit seiner Cousine Sahar verheiratet wird. Völlig allein gelassen, stürzt Beyto in einen Strudel von Gefühlen. Die grosse Wut auf die Eltern lässt ihn jede Ehrfurcht vor ihnen vergessen, die kindliche Zuneigung zu Sahar, die er nie verloren hat, verwirrt ihn, die Angst, Manuel gegenüberzutreten, lähmt ihn. Beyto, selber noch fast ein Kind, erfährt einzig von seiner Lehrlingsbetreuerin Tania Unterstützung, und weg vom Dorf im Osten und von der Stadt im Westen, wo er seit vielen Jahren lebt, findet er langsam wieder etwas Halt. Ironisch und humorvoll nimmt Yusuf Yes¿ilöz die Leserinnen und Leser mit in eine reiche Welt voller Geschichten, die in einem schmerzhaften Widerspruch steht zur grossen Einsamkeit des jungen Beyto.


    Der Autor
    Yusuf Yesilöz wurde 1964 in einem kurdischen Dorf in Mittelanatolien geboren und kam 1987 in die Schweiz. Dort lebt er mit seiner Familie und arbeitet als freier Autor, Filmemacher und Kolumnist für eine Zeitung.



    Meine Meinung
    Ein schön gemachtes Buch, 199 Seiten stark, mit einem doch großzügigen und augenfreundlichen Druck. Ein Schutzumschlag, der mit zu den schönsten zählt, die ich kenne, kein Wunder, ziert ihn doch Niklaus Stoecklins „Blühender Kaktus“.


    „Hochzeitsflug“ ist ein Teil der Geschichte von Beyto und seinen Eltern, von den Erwartungen, die an ihn gestellt werden, von dem Druck, dem er durch die Tradition seiner Familie, seines Dorfes und seiner Religion ausgesetzt ist. Es ist die Geschichte über eine arrangierte Ehe, über das, was wir auch Zwangsheirat nennen, diesmal aus der Sicht des männlichen Parts der Verbindung. Ich muss gestehen, dass ich mir bisher wenig Gedanken gemacht habe, was eigentlich in den jungen Männern vorgeht, die solchem ausgesetzt sind; mein Augenmerk liegt in der Regel auf den Mädchen und jungen Frauen, die, in westlichem Standard und Lebensweise heimisch geworden, nun in die von den Familien oftmals seit Jahren bestehenden Pläne integriert werden sollen. Bei Beyto, dem Ich-Erzähler, kommt erschwerend seine Homosexualität hinzu, ein Umstand, den er seinen Eltern und damit seiner Familie verschweigt, weil „so etwas“ schwerlich mit dem Denken dieser hierarchisch und archaisch geprägten (Herkunfts-)Gesellschaft vereinbar ist.


    Yusuf Yesilöz hat mich auf den wenigen Seiten des Romans mitgenommen in diese so andere Welt des tscherkessischen Dorfes mit seinen Traditionen, mit seinen festgezurrten und doppelt und dreifach verknoteten Strukturen, aber auch mit seinen Geschichten und Traditionen, in die die Moderne sehr langsam, sehr behutsam wenigstens in Form des Materiellen Einzug hält. Noch Lesern meiner Generation, der in den 1950er Jahren zumal im ländlichen Raum Geborenen, wird das eine oder andere – abgesehen mal von der Religion, nicht aber unbedingt von den Auswirkungen der zur Schau getragenen Religiosität - wie mir bekannt vorkommen: Die unbedingte Pflicht gegenüber der Familie einschließlich der, genau das zu tun, was der Familie dient, der Respekt, der den Eltern und Großeltern geschuldet wurde, die Verneinung des Individuums und seiner eigenen Ansprüche und Bedürfnisse.


    Der Autor beschreibt gut die beiden Welten: Die der Bischofstraße, die wohl in jeder größeren Stadt nicht nur des westlichen Europas liegen könnte, und in der der junge Beyto sich heimisch fühlt und in der die Eltern lediglich arbeiten und sich Abend für Abend über das Dorf und das Leben dort, eben jene andere Welt unterhalten, ihre Sehnsucht so permanent aufrecht erhalten und gar kein Interesse daran haben, dieses Leben (dort) aufgeben zu wollen. Es wird deutlich, wie sehr die beiden auf die Vernetzung innerhalb des Familienverbandes angewiesen sind, wie sehr ihr Leben und Denken davon beeinflusst und geprägt wird. Die Eltern, auch viele Bewohner des Dorfes, besonders Sahar, Beytos schöne Braut, sind für mich sehr real geworden, auch wenn sie eher skizziert als mit breitem Pinsel gemalt sind.


    Mit Beyto habe ich mich lange beschäftigt, lange über ihn nachgedacht. Er durfte ein gewisses Maß an Mitgefühl von mir in Anspruch nehmen, allerdings kann ich nicht verschweigen, dass ich ihn hin und wieder am liebsten einmal durchgeschüttelt hätte. Er ist von einer Passivität, von einer Distanziertheit sich selber und seinem Los gegenüber, mich mich ziemlich erstaunt hat. Er respektiert und liebt seine Eltern, respektiert in gewisser Weise auch die Regeln der Tradition, lässt sich treiben, lässt alles auf sich zukommen, blendet aus, welche Pläne – ihm nicht unbekannt – für ihn bestanden. Er erklärt sich seinen Eltern nicht, weder was die Heirat noch was die Homosexualität betrifft, manchmal erschien er mir fast wie gelähmt, mal wie desinteressiert. Erst seine Ehe und die Erwartungen, die seitens der Familie daran geknüpft sind, setzen einen Prozess in Gang, den ich dem jungen Mann beinahe nicht mehr zugetraut hatte.


    Das Ende des Buches hat mir außerordentlich gut gefallen; Yusuf Yesilöz widersteht der Gefahr eines allzu süßlichen Happy End, er lässt das Buch mit einem Ausblick auf – vielleicht – Kommendes, mit einer Hoffnung auf einen entscheidungsfreudigeren Beyto ausklingen.


    Und der Grund, warum ich das Buch gelesen habe? Wollte ich nicht wissen, was eigentlich in den jungen Menschen vorgeht, die mit strenger, stark hierarchisch und oft auch archaisch geprägten Kultur und Religion erzogen, in der Moderne der westlichen Kultur und des Konsumdenkens angekommen, damit konfrontiert werden, beide Welten in ihrem Leben Raum zu geben, geben zu müssen? Wenn es diesbezüglich ein Fazit für mich gibt: Die Fragen bleiben, sie lassen sich wohl nur individuell beantworten. Einen anderen Einblick in die Problematik habe ich bekommen – und ich habe gelernt, dass nicht nur für die jungen Frauen arrangierte Ehen große Sorgen und Nöte bereiten können.


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    ASIN/ISBN: 3857916222