Norwegerpullover
Sie strickt Norwegerpullover in Braun- und Beigetönen, keine Farben, nur Töne, denn die Lila-Phase ist längst vorüber. Früher summte sie dazu Rio Reiser und Ina Deter, doch das hat sie aufgegeben. Das gehörte in die Achtziger, als wir gemeinsam auf die Straße gingen gegen Franz Josef Strauß, den Schnellen Brüter und Cruise Missiles. Als es zum ersten Mal Weißbier gab vor dem Programmkino, ein trübes Gebräu, in dem ein Zitronenschnitz schwamm.
Sie strickt Norwegerpullover für ihre Enkelkinder. Die beiden Töchter, die sie selbstverständlich allein großzog, hüten heute Kinder und Gärten. Vielleicht wird sie dort einmal unterkommen, wenn sie es nicht mehr alleine schafft. Doch noch schafft sie es, sie hat jetzt Ernst, der auch Rio Reiser und Ina Deter mochte.
Sie strickt Norwegerpullover für ihre Freunde. An Geburtstagen beglückt sie uns mit kratzigen Ungetümen aus handgeschorener, handgesponnener Wolle von albanischen Schafen. Irgend etwas müsse man tun. Die Menschen dort brauchen unsere Solidarität, keine Soldaten. Die Nadeln klappern heftig. Wie einer wie der Joschka nur seine Ideale verraten kann.
Sie strickt Norwegerpullover und erwähnt, daß morgen die nächste Chemo beginnt. Natürlich würde sie lieber eine Bachblütentherapie machen, aber Ernst meine, damit hätte sie früher anfangen müssen. Sie läßt den halbfertigen Ärmel in den Schoß sinken, straft uns mit einem Hundeblick. Und wozu das alles? Damit das Leben um ein paar Tage verlängert werde? Und wenn wir dann sagen: Ach Hilde, denk doch mal nach! dann runzelt sie die Stirn, nimmt die Nadeln wieder auf und murmelt, das sei ja klar, sie sei blöd und könne nicht denken.
Sie strickt Norwegerpullover, läßt in dem Schweigen die Nadeln klappern und wischt sich dann schließlich mit dem Handrücken über die Nase. Schade, daß alles so schnell vorbei sei, sie habe noch so viel vorgehabt. Reisen. Ich entsinne mich dunkel, daß ihr im Auto sogar vorne schlecht wurde, daß sie in Eisenbahnabteilen stets in Fahrtrichtung saß, daß sie nie ein Flugzeug bestiegen hat, und das größte Schiff, mit dem sie je gefahren ist, verkehrt als Rheinfähre zwischen St. Goar und Goarshausen.
Sie strickt Norwegerpullover, während Ernst sanft ihre Schultern massiert. Komm, flüstert er, ich fahre dich zu Enzo und spendiere dir Saltimbocca alla Romana. Sie zieht die Nase hoch, morgen kotze sie nur wieder, und bleibt sitzen.
Wir werden sie in einem Norwegerpullover beerdigen, beige-braun und kratzig. Und die Nadeln in ihre Finger flechten. Statt eines Rosenkranzes.
©2003 Iris Kammerer