Die kanadische Erzählerin wird auch bei uns immer bekannter und das ist gut so. Ihre Geschichten, sie schreibt seit über vierzig Jahren, spielen meist im ländlichen Ontario, da, wo auch sie aufwuchs. Aber es sind keine Geschichten 'vom Land', ganz im Gegenteil. Munro erzählt von Menschen und ihren Gefühlen, die gerade vor dem einfachen, zuweilen geradezu dumpfen Hintergrund ihre universale Dimension annehmen.
Die Erzählungen, klassische angelsächsische 'Short Stories', erschienen zunächst in Zeitschriften, dann auch vermehrt in Sammlungen zusammengefaßt. Die deutsche Übersetzungen behalten in der Regel die von der Autorin bestimmte Auswahl der Geschichten bei. Sie sind bewußt zusammengestellt worden, die Geschichten beziehen sich oft aufeinander, indem Themen, die in der einen angesprochen wurden, in einer anderen weitergeführt oder erst ausgearbeitet weden. Bezüge können hergestellt werden, Verhaltensweisen werden neu beleuchtet, es entsteht eine gewisse Symmetrie und Mehrdimensionalität.
Dennoch steht jede Geschichte für sich.
Die Welt, die Paar - Beziehungen und überhaupt die Beziehungen der auftretenden Personen untereinander, ist merkwürdig lieblos. Die Menschen sind voneinander abgesondert, vereinzelt, selbst wenn sie seit zwanzig Jahren verheiratet sind oder jahrelang füreinander gearbeitet haben. Abgesondert und vereinzelt erleben sie ihre Ent-Täuschungen im Wortsinn. Was sie für wahr gehalten haben, erweist sich als falsch und oft genug ist es das, was man 'Liebe' nennt. Einsam aber erleben sie auch ihre Glücksmomente, die Haushälterin bei ihrem Ausbruch aus dem bisherigen Leben, die krebskranke Ehefrau auf einer schwimmenden Brücke, die angehende Schriftstellerin in einem Café auf der Flucht vor ihrer Familie und den Erinnerungen.
Es sind vollkommene Glücksmomente, aber Munro wäre nicht Munro, wenn sie nicht auch diese nur dazu benutzen würde, um zu zeigen, daß dieses nur individuell zu empfindende Glück die jeweilige Person nur noch weiter von den anderen entfernt.
Ihre Sprache ist schlicht und unaufdringlich. Ausgwogen. Schön. Ganze Gefühlswelten erschließen sich in einem Halbsatz, die Bilanz einer Ehe findet man in einem kleinen Abschnitt aus fünf, sechs Sätzen. Es wird nicht erklärt und es wird vor allem nicht analysiert. Es wird nur beschrieben. Der Standort, der Ausgangspunkt der Beobachtung kann sehr rasch wechseln, von einem Absatz zum nächsten.
Munro ist weniger eine Erzählerin, deren Stimme einem in den Ohren klingt, während man liest, sondern eine, die einem ihre Augen leiht. Ihre Geschichten zu lesen, heißt, mit ihren Augen Menschen zu sehen. Und das, was man beim Lesen hört, sind die Stimmen und die Worte eben dieser Menschen.
Ein Erlebnis.
magali