Die Buchvorstellung sortiere ich bei den Klassikern ein, weil dieser große kleine Roman in Frankreich als "Klassiker über den Antisemitismus" gilt.
Inhaltsangabe (laut Verlagsseite)
Der Erzähler des Buches entstammt der gutsituierten und streng konservativen Schicht von Paris. Sein Vater ist Untersuchungsrichter, seine Mutter eine ehrgeizige Dame der Gesellschaft, die Atmosphäre trocken. Unter seinen Schulkameraden befindet sich ein besonderer Mensch, der nicht sehr anziehend wirkt, aber durch seine ausgezeichnete Bildung beeindruckt: Silbermann. Weil Silbermann Jude ist, wird er mehr und mehr zum Opfer von Ausgrenzung und Angriffen. Dass er Stolz dagegenzusetzen versucht, verschlimmert die Lage nur. Und als der Erzähler sich auf seine Seite schlägt, steht auch ihm plötzlich eine gesamte Gesellschaft feindlich gegenüber. Aber durch Silbermann gewinnt er auch Einblick in eine neue Welt der Kultiviertheit, des Luxus und der Liebe zur französischen Literatur. Dann kommt Silbermanns Vater vor Gericht, und der Vater des Erzählers wird über ihn das Urteil zu sprechen haben …
„Silbermann“ ist wunderschöne Prosa, die tief in ein bitteres Problem einführt.
Zum Autor
Jacques de Lacretelle wird im überaus lesenswerten und informativen Nachwort der beiden Übersetzer ausführlich vorgestellt. 1888 geboren, hochbetagt 1985 verstorben, wurde er früh Mitglied der Académie francaise. Als Schriftsteller setzte er sich wohl durchaus mit Themen auseinander, die als Tabu galten, beispielsweise der weiblichen Homosexualität oder wie im vorgestellten Roman „Silbermann“ mit dem Antisemitismus, was, wenn man ihn gelesen hat, durchaus bemerkenswert erscheint, denn Lacretelle gehörte zeitweise als aktives Mitglied zu den „Feuerkreuzlern“, einer Gruppierung, die sich „durchaus militant“ (Seite 163) und auf „heroischen Nationalismus“ (a.a.O.) fixiert gab. Es mag aber ein wenig versöhnen, dass – wie die Übersetzer ausdrücklich feststellen – diese Gruppierung in Person ihres Chefs nicht nur den französischen Antisemitismus, ganz besonders aber den Totalitarismus der Nazis ablehnte.
Die Übersetzer (auszugsweise dem Buch entnommen)
Irène Kuhn und Ralf Stamm übersetzen seit den achtziger Jahren Texte aus dem Französischen. Beide haben in Frankreich und Deutschland studiert und später unterrichtet. Unter anderem übersetzten sie allein oder auch gemeinsam Werke von Eugène Ionesco, Marcel Pagnol, Charles Baudelaire und Bernard-Henri Lévy.
Meine Meinung
Ein wunderschön gemachter schmaler Band, insgesamt 185 Seiten stark. Den Einband schmückt ein Gemälde von Simone Lucas, sein Name trägt den Titel „Trugbild“.
Der Romantext endet auf Seite 148, es schließt sich ein hervorragendes Nachwort der Übersetzer zu Autor, historischem Kontext und Übersetzungsproblematik an, gefolgt von weiterführenden und erhellenden Anmerkungen.
Es ist eine Sache, ein Nachwort am Ende des Buches zu lesen oder eben auch nicht. Für mich sind Nachworte eher als Vorworte zu behandeln, wohl wissend, gerade dort einiges zu Roman und/oder Schriftsteller zu finden, besonders, wenn er – mir resp. in Deutschland - so unbekannt ist wie Jacques de Lacretelle. So habe ich nach Kenntnis des Nachwortes das Buch sicherlich aus einem etwas anderen, vielleicht mit einem Hauch Misstrauen versehenen Blickwinkel gelesen, als ich das getan hätte, wäre mir des Autors Mitgliedschaft in der rechten Gruppierung nicht bekannt gewesen. Auch der historische Kontext, den die Übersetzer gut und ausführlich darstellen, hat mir bei der Einordnung des Gelesenen immens geholfen.
Der Autor zeichnet seine Figuren durchaus scharf. Erkennbar geht es ihm um Realismus, nicht um Überhöhung, in welche Richtung auch immer. So wird David Silberman, Hauptfigur und Namensgeber des Romans, nicht unbedingt als sympathisch dargestellt. Er hat Charakterzüge, die nicht in jedem Fall einnehmend sind. Der Junge, etwa 15 Jahre alt und von körperlicher Gestalt nicht gerade ein Adonis, hat einen Traum, dem er alles unterordnet. Kameradschaft mit anderen Schülern scheint ihm wesentlich unwichtiger zu sein als sein unbedingter Drang, Wissen anzuhäufen und dieses Wissen auch anzubringen. Er will, das Beste als Jude und als Franzose in sich vereinend, Großes als Schriftsteller vollbringen. Er scheitert, natürlich, möchte man fast sagen, letztlich an seinen Idealen, die mit dem immer stärker werdenden Nationalismus und damit einhergehenden Antisemitismus vor dem 1. Weltkrieg schlicht nicht vereinbar waren.
Bemerkenswert empfinde ich die Ehrlichkeit des Ich-Erzählers und einzigen Freundes, den Silbermann hat. Er ist durchaus in der Lage zu hinterfragen, warum er die Freundschaft seines jüdischen, von anderen immer mehr ausgegrenzten Mitschülers sucht, warum er ihn verteidigen will, warum er sich „opfern“ (dieser Ausdruck wird im Roman mehrfach von ihm selbst gebraucht) will. Als in der letzten Begegnung der beiden Freunde Silbermann ihm in einer großen Rede den Spiegel vors Gesicht hält, ist es mit der Freundschaft nicht nur wegen des Weggangs Silbermans aus Frankreich vorbei – zu viel Wahrheit verträgt sich eben schlecht mit den ach so heroischen Gedanken und Gefühlen. Zu hinterfragen wäre vielleicht, ob 15-jährige wirklich schon in der Lage sind, ihre Position, ihre Gründe des Pro und Contra, ihre Wirkung etc. so klar, so detailliert zu durchdenken, zu analysieren, wie es ihnen der Autor zuschreibt.
„Silbermann“ ist eine große Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus (dem ganz latenten, seit je her vorhandenen, nie aus der Welt zu schaffenden, immer gewaltbereiteren). Verblüffenderweise – und das ist für mich ein ganz großes Plus des Romans – gibt es keine einzige rein positive Gestalt. Ob nun die Schüler, ihre Koalitionen untereinander, die Eltern oder gar die hehre Lehrerschaft, sie alle werden in ihrem Bestreben demaskiert, stets den als „richtig“ erkannten Weg einzuhalten, stets das zu tun, was man halt so tun muss, um gesellschaftlich anerkannt zu sein, stets auch um das klare Urteil – oder die ebenso klare Verurteilung – zu wissen. Auch Silbermann, ich erwähnte es oben, ist keine durchweg positive Gestalt. Er wird zum Opfer, bei dem wegzuschauen dem Personal des Romans nicht schwerfällt, auch, weil er eben genau so ist wie er eben ist. Seine Abrechnung (dessen Bitterkeit für mich nachvollziehbar ist) in seiner großen Rede an den Freund listet zwar all die Vorurteile und Vorwürfe, all die Verdächtigungen auf, denen sich Juden wohl zu allen Zeiten ausgesetzt sahen, aber sie geht letztlich ins Leere, und das nicht nur, weil er sich zu einer für mein Empfinden fatalen Darstellung seines Volkes hinreißen lässt, sondern weil ganz einfach der einfache Weg der Anpassung, ohne Opfer, ohne Anstrengungen, ohne Gefahr für den Ich-Erzähler letztlich der leichter gangbare erscheint.
Die Sprache des Romans ist klar und eindeutig, sie unterstreicht den Ernst der Geschichte. Den beiden Übersetzern ist Dank abzustatten für ihre Leistung; an keiner Stelle erschien mir auch nur ein Hauch von Unsicherheit gegeben zu sein.
„Silbermann“ ist ein beeindruckender, zutiefst trauriger und demaskierender Roman über den Antisemitismus. Er ist daneben auch ein ebenso beeindruckender Roman über die Freundschaft unter Schülern. In beidem ist er vielleicht ein wenig vergleichbar mit Fred Uhlmans „Der wiedergefundene Freund“. Beiden Büchern haftet etwas kammermusikalisches an, Lacretelle ist aber ungleich ernster, strenger in seinem Ton. Und es bleibt – nicht ohne Bitterkeit - festzuhalten, dass beide Texte von großer Zeitlosigkeit sind.
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