Schreibwettbewerb Mai/Juni 2012 - Thema: "Die andere Seite"

  • von Prombär



    „Du hier, ich hier“, lächelte sie und deutete mit ihrem Daumen über ihre Schulter. Als sich unsere Wangen berührten, hörte ich ein leises, schmazendes mb ganz nah an meinem Ohr. Während es bei allen anderen bei einem bloßen Berühren der Wangen blieb, deutete sie auch immer einen Kuss an. Das machte sie besonders. Ihr Name war Anna und ich, ja, ich liebte sie. Sie wusste das aber nicht und ich hatte nicht den Mut, ihr das zu sagen. Sie war wunderschön, fand ich, wenn auch nicht klassisch. Sie war lebensfroh, lachte immerzu, war charmant und die Männer verliebten sich reihenweise in sie. Das wusste sie auch nicht und keiner hatte wohl den Mut, ihr das zu sagen. Sie wusste nicht um ihre Wirkung. Als ich sie zum ersten Mal sah, verliebte ich mich in sie. Ich kam in den Raum zur Chorprobe, kannte keinen, stellte meinen Regenschirm in den Ständer und schälte mich aus meiner Regenjacke, als sie wie ein Wirbelwind auf mich zugeeilt kam und mich zum Klavier schob. Sie wollte nicht wissen, ob ich Klavierspielen konnte, sie ging einfach davon aus. Erst später erfuhr ich, dass sie mich mit dem eigentlichen Klavierspieler verwechselt hatte. Wie im Film war das. Im Laufe der Wochen und Monate verflog meine anfängliche Verliebtheit. Mein Herz machte keine Saltos, wenn sie mit mir sprach, aber eine Wärme durchflutete mich. Zuneigung war das Wort, das mir in den Sinn kam, wenn ich an sie dachte. Liebe. Unsere Gespräche waren belanglos. Sie war immer im Mittelpunkt, jeder wollte etwas von ihr und sie wusste nicht um ihre Wirkung. Sie war ein Sonnenschein. Jeder liebte sie. Sie war bezaubernd und sie war witzig. Ich liebte ihren Humor. Nach der Chorprobe standen wir grüppchenweise zusammen und unterhielten uns. Ich wollte nie einen Abschied, aber das war immer unser intimster Moment. Sie reiche mir ihre Hand und lächelte, weil ich mich in die falsche Richtung wandte: „Gizmol! Die andere Seite!“ Ich hielt inne. Ich wusste, dass man hier zuerst die linke, und dann die rechte Wange berührte, küsste, aber dieses Wissen hätte uns diesen Moment gekostet. Und ich liebte sie ... wegen diesem Moment und überhaupt. „Du hier, ich hier“ lächelte sie und deutete mit ihrem Daumen über ihre Schulter. Als sich unsere Wangen berührten, hörte ich ein leises, schmazendes mb ganz nah an meinem Ohr.