Guy Delisle: Aufzeichnungen aus Jerusalem [Graphic Novel]

  • Guy Delisle: Aufzeichnungen aus Jerusalem
    Reprodukt Verlag 2012. 336 Seiten, Klappenbroschur
    ISBN 978-3-943143-04-1. 29€
    Handlettering: Olav Korth
    Orignaltitel: Chroniques de Jéruslem
    Übersetzer: Martin Budde


    Verlagstext
    Guy Delisle ist wieder auf Reisen. Diesmal begleitet er seine Frau, die für die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen arbeitet, nach Israel. Zwischen Haushalt, Kinderpflege und dem Versuch, ein neues Projekt in Angriff zu nehmen, erkundet der Zeichner die Heilige Stadt und kommt ganz allmählich hinter einige ihrer unzähligen Geheimnisse.
    In gewohnt lakonisch-humorvoller Manier beobachtet Guy Delisle den Alltag in Jerusalem und zeichnet so ein sehr persönliches Bild eines Landes, das wie kein zweites von jahrzehntelangen blutigen Konflikten geprägt ist.


    Der Autor/Zeichner
    Guy Delisle wurde 1966 in Quebec geboren und studierte ab 1984 plastische Kunst in Toronto. Von 1986 bis 1988 hat er für das Zeichentrickstudio CinéGroupe in Montréal gearbeitet, anschließend ging er nach Europa und arbeitete bei verschiedenen Studios in München, Berlin und Valencia. Seit 1991 lebt und arbeitet Guy Delisle in Montpellier.
    Bereits während seiner Studienzeit veröffentlichte Guy Delisle erste Comics und nahm darüber hinaus auch an verschiedenen Ausstellungen teil. Nach einigen Jahren, in denen er sich vor allem dem Zeichentrickfilm widmete, erwachte die Lust an Comics wieder und er veröffentlichte diverse Comic-Alben bei L´Association: "Réflexion" (1996), "Aline et les autres" (1999) und schließlich "Shenzhen" (2000), das im September 2005 bei Reprodukt in deutscher Sprache erscheint. Nachdem seine beiden ersten Bücher noch der Erkundung der formalen Mittel des Mediums Comic gewidmet waren, erzählt er in "Shenzhen" in autobiografischen Vignetten von einem längeren Aufenthalt in der chinesischen Metropole, in die es ihn verschlagen hat, um die Produktion einer Zeichentrickserie zu beaufsichtigen. Mit einem besonderen Augenmerk auf die alltäglichen Rituale präsentiert der Autor in "Shenzhen" ein modernes China und findet einen eigenen Blickwinkel auf die kulturellen Unterschiede zur europäischen Lebensweise.
    Mit "Pjöngjang" hat Guy Delisle kurz darauf ein weiteres Buch bei L´Association vorgelegt, in dem er auf ähnliche Weise seine ungewöhnlichen Erlebnisse in der nordkoreanischen Hauptstadt festhielt. Guy Delisles Zeichenstil ist einfach und markant – überflüssige Details wird man in seinen Büchern vergeblich suchen.
    Von 2001 bis 2004 veröffentlichte Guy Delisle bei Dargaud die Serie "Inspecteur Moroni" um einen tollpatschigen aber gutmütigen Polizeiinspektor.
    Quelle: Verlagswebseite


    Inhalt
    Die frankokanadische Ärztin Nadège reist im Auftrag von Ärzte ohne Grenzen für ein Jahr nach Jerusalem, wo sie im Gazastreifen in einer Station für Nachsorge, Kinderheilkunde und psychologische Beratung arbeiten wird. Ehemann Guy betreut tagsüber die Kinder und will wieder verstärkt als Zeichner arbeiten. Die Familie wohnt im Ostteil Jerusalems, in einem annektierten Gebiet, das bis 1967 arabisch war. Die berufstätige Mutter wird täglich von einem NGO-Fahrzeug zur Arbeit im Gazastreifen gefahren. Seinen kleinen Sohn Louis hatte Delisle bereits während Nadèges vorhergehendem Einsatz im Buggy durch Birma geschoben. Delisle bringt seine gewohnt listige Betrachtungweise des Alltags in Krisengebieten und Diktaturen in "Jerusalem" zur Perfektion. Seine kritischen Beobachtungen sparen Kritik am Sinn humanitärer Einsätze nicht aus. Vordergründig entdeckt der junge Vater die Stadt, erledigt Einkäufe, führt Besucher herum und freundet sich mit einem Vater in ähnlicher Situation an. Die Mauern, die jüdische, christliche und muslimische Bewohner voneinander trennen, die Siedlungspoltitk Israels und die überall präsenten Waffen dokumentiert der Chronist aus Kanada bei aller vorgegebenen Naivität sehr kritisch. Torpediert z. B. den Friedensprozess, wer im Einkaufszentrum der Siedler kauft? Wie die Familie sich um einen gemeinsamen freien Tag bemüht, sagt mehr über die Lebenswirklichkeit Israels aus als manch aufwändige Analyse. (Nadège hat Freitag/Samstag frei, Luis als Schüler einer jüdischen Schule Samstag/Sonntag und das Kindergartenkind Alice Freitag bis Sonntag). Bei der Rückkehr nach Israel von einer Veranstaltung aus Norwegen kommt der Chronist sich wie eine Displaced Person vor. Als Mann einer in Gaza arbeitenden Ausländerin ist er bei der Wiedereinreise jedes Mal ein Fall für den Security Chef. Jeder Betrachter wird in dieser Chronik eines Israelaufenthaltes andere Schlüsselszenen finden: Drei Erwachsene unterschiedlicher Religionen schubsen nebeneinander einträchtig ihre Kinder auf den Spielplatzschaukeln an, Guys Workshop-Teilnehmer, die seit Jahren die Stadt Nablus nicht mehr verlassen haben oder vielleicht der Shabbat Elevator, der am Feiertag automatisch auf- und abfährt, damit kein Knopf betätigt werden muss.


    Fazit
    Das Lettering in Großbuchstaben der eintausend Gramm schweren Graphic Novel gibt eine gemächliche Lesegeschwindigkeit vor und lässt dem Betrachter dabei großzügigen Raum, die Zeichnungen auf sich wirken zu lassen. Delisles Sicht als Zeichner auf die Stadt und ihre Umgebung vermittelt ein erstaunlich differenziertes Bild eines Staates, in dem man sich als Ausländer ohne Anleitung wohl kaum zurechtfinden wird. Unbedingt lohnenswert.


    10 von 10 Punkten

  • Das Buch hat mir wieder sehr gut gefallen. Guy Delisle ist wie wie in "Aufzechnungen aus Burma" nicht beruflich in Jerusalem, sondern begleitet wieder seine Frau, die für "Ärzte ohne Grenzen" arbeitet. Im Comic beschreibt er einerseits seinen Alltag als Hausmann, der sich um die zwei kleinen Kinder kümmert, während seine Frau arbeitet. Andererseits nutzt er aber auch jede Gelegenheit, um Land und Leute kennenzulernen und auch möglichst viel in Zeichnungen festzuhalten.


    Besonders gut gefällt mir sein Blick für alltägliche Absurditäten und auch, dass er Dinge nicht vorkaut, sondern dem Leser die Möglichkeit lässt, eigene Bilder zu entwickeln. Z.B, am Anfang des Buches weint seine Tochter und lässt sich auch nicht beruhigen. Ein fröhlicher und recht korpulenter Mitreisender spielt mit ihr und sie beruhigt sich sehr schnell. Dabei fällt dem Autor die eintätowierte Nummer am Arm des Mitreienden auf und ihm wird bewusst, dass es sich um einen Überlebenden aus einem KZ handeln muss. Der Autor sagt dann nur, dass er so viele Schreckensrbilder aus der Zeit gesehen hat, dass seine Phantasie verrückt spielte. Er zeichnet dann aber nicht die Bilder, die ihm durch den Kopf gehen, sondern der Leser hat hier die Chance, in der Vorstellung seine eigenen Bilder einzufügen. Diese Technik zieht sich durch das ganze Buch.


    Der Autor stellt sich wieder als Fremder in einem fremden Land dar, der seine Umgebung mit einer gewissenen staunenden Naivität betrachtet. Er ist offen für alle Menschen, hat wenig Berührungsängste und schließt gleichermaßen Freundschaften mit Juden, Moslems und Christen. Als Atheist findet er so manche religiös motivierte Praktik absurd, und kann insbesondere religiösen Fanatikern nicht den Respekt zollen, den diese einfordern.


    Der Comic ist insgesamt schon ganz schön kritisch, insbesondere in Bezug auf die israelische Siedlungspolitik und den Umgang der Israelischen Regierung mit den Palästinensischen Autonomiegebieten, bzw. mit den Palästinensern überhaupt. Auch wenn alle Seiten ihr Fett wegbekommen, und auch klar wird, dass es auf allen Seiten auch ganz normale, harmlose, nette Menschen gibt, die nur in Frieden leben wollen, würde ich den Comic nicht als unparteiisches Portrait der israelischen Gesellschaft bezeichnen, wie ich es in einer Rezension in der Frankfurter Rundschau lesen konnte.


    Ich habe aus Kostengründen die englischsprachige Ausgabe gelesen.
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