Seltsam distanziert
Die Hauptfigur des neuesten Romans von William Boyd ist der junge englische Schauspieler Lysander Rief, der ein sexuelles Problem hat und sich Abhilfe durch den Psychoanalytiker Dr. Bensimon verspricht. Zu diesem Zweck reist er nach Wien, wo er im Wartezimmer des besagten Doktors die geheimnisvolle Hettie Bull kennenlernt und der Künstlerin mit Haut und Haaren verfällt. Daraus ergeben sich die verschiedensten Verwicklungen, zumal beide schon anderweitig gebunden sind. Im Zuge dessen kommen Mitarbeiter der englischen Botschaft, der Geheimdienst, mehrere attraktive Damen und hohe Militärs ins Spiel und auch Lysanders Mutter steht immer wieder im Vordergrund. Den historischen Rahmen liefert der beginnende Erste Weltkrieg, in dem Lysander ebenfalls eine kleine Rolle zugewiesen wird. Im Namen der Regierung hat er den Auftrag, einen Landesverräter zu enttarnen. Auf seinen zweckgebundenen Reisen lernt er anständige und weniger anständige Menschen kennen und stolpert von einem persönlichen Brennpunkt zum nächsten…
Es gibt Bücher, bei denen ich am liebsten nie ans Ende käme, so gut gefallen sie mir. Bei dem neuen Roman von William Boyd war das leider nicht der Fall. Dabei klang der Klappentext so vielschichtig wie tiefgründig. Entpuppt hat sich die Geschichte dann aber schnell als eine merkwürdige Ansammlung von Themen, die nicht recht zusammenpassen wollten. Jedenfalls nicht auf die Art und Weise, in der William Boyd sie miteinander zu verknüpfen versucht. Mal geht es auf einer Handvoll Seiten um den Parallelismus in der Psychoanalyse, dann liegt Lysander ebenso kurzzeitig im Schützengraben herum, um im nächsten Moment mit seiner Mutter einen gemütlichen Plausch in ihrem Garten zu halten. In regelmäßigen Abständen werden auch seine sexuellen Bedürfnisse und Ängste erneut aufgegriffen. So flapsig, wie ich es geschrieben habe, stellte sich mir persönlich die Handlung auch wirklich dar. Alles sehr oberflächlich und stark vereinfachend präsentiert. In letzter Zeit fallen mir immer öfter Romane in die Hände, die nicht sonderlich viel Umfang haben, aber umso mehr verschiedene "weltbewegende" Themen darin unterbringen wollen. Wo ist die packende Intensität so manch früherer Werke geblieben, wie z.B. bei Boyds "Eines Menschen Herz"? Keine positive Entwicklung!
Zwischendurch wechselt der Autor des Öfteren zwischen der Perspektive des Ich-Erzählers und der dritten Person. Erstere Passagen sind mit "Autobiographische Untersuchungen" überschrieben und sollen Lysander durch ihre Tagebuchform dabei helfen, sein Seelenleben leichter zu erforschen. Der tiefere Sinn dahinter erschloss sich mir jedoch nicht, da die betreffenden Textstellen für mich im Grunde nur eine geringfügig abgeänderte Wiederholung bereits geschilderter Ereignisse darstellten. Den Anfang und das Ende erzählt ein Unbekannter, dessen Identität im Dunkeln bleibt. Neben mehreren eingestreuten sinnfreien Gedichten von Lysander wirkten diese Besonderheiten im Erzählstil auf mich übertrieben künstlich und auf eine beinahe karikierende Art intellektuell. Ich fühlte mich von William Boyd etwas auf den Arm genommen und an sein Buch "Nat Tate" erinnert.
Zwei Dinge muss ich dem Autor jedoch lassen. Erstens hat er sehr gute Recherchearbeit geleistet, was die historischen Details in Bezug auf Mode, Essen und Getränke, Kunstströmungen und ähnliches anbelangt, zum Zweiten verfügt er über ein enorm ausgeprägtes, ästhetisch orientiertes Sprachgefühl und das Erzählte liest sich sehr angenehm. Eventuell hat er sich zu sehr auf seine Rahmenhandlung konzentriert, denn die Figuren des Romans bleiben allesamt blass und farblos. Leere Hüllen, die eine langweilige und arg konstruierte Handlung transportieren. Lysander habe ich seine etwas härteren Seiten nicht abgekauft, sowenig ließen sie sich für mich mit seinem ansonsten extrem weichen, manchmal weinerlichen Wesen vereinbaren. Auch hier hätte der Autor bessere Arbeit leisten können. Was Boyd seiner Leserschaft mit "Eine große Zeit" sagen will, ist mir schleierhaft. Das Buch hat mich leider emotional nicht im Geringsten angesprochen und ich gebe ihm nur aufgrund der zu Beginn des Absatzes angesprochenen positiven Aspekte gutgemeinte 6 Eulenpunkte.
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