Ein Rezensent tritt ab

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    Original von Grisel
    Ich sehe auch nicht ganz, warum es immer ein Amazon vs. Eule sein muss, es geht ja buchstäblich Hand in Hand, denn wohin verlinken wir unsere Rezensionen, damit sie im Verzeichnis aufscheinen?


    Das behaupte ich ja gar nicht. Im Gegenteil wollen die Büchereule und amazon doch das Gleiche: Bücher sollen die Leser finden, die zu ihnen passen, die Eulen aus Spaß an der Freude, amazon, um Geld zu verdienen. Das ist erstmal ja nciht verwerflich.


    Der Unterschied ist die schiere Masse. Amazon hat hunderttausende Rezensenten, die, zumindest für mich, völlig anonym sind. Deren Meinung kann ich, auch wenn sie eine fundierte Rezi geschrieben haben, erst einschätzen, wenn ich mir einen Überblick darüber verschafft habe, wie die so drauf sind. Das ist mir bei einer Plattform dieser Größe einfach zu mühselig.


    Bei den Eulen dagegen sind gerade mal 9000 User gemeldet, von denen ein Großteil noch keinen Beitrag, geschweige denn eine Rezension geschrieben hat. Der Anteil der Eulen also, der mich mit Buchvorstellungen versorgt, ist also überschaubar, ich kenne hier meine Pappenheimer und erst so kann ich ungefähr einschätzen, ob ein Buch etwas für mich ist.


    Durch die Vine-Geschichte versucht amazon nun auch eine gewisse Vorsortierung vorzunehmen, nur eben nicht für mich persönlich, sondern für den "Durchschnittsleser" (das ist jetzt rein mathematisch gemeint). Rezensenten, deren Rezis gut ankommen, scheinen einen Geschmack zu haben, der dem relativ vieler anderer Leser entspricht. Die Wahrscheinlichkeit für mich als Durchschnittskunde, mit einer solchen Empfehlung am Ende zufrieden zu sein, ist dann natürlich höher. Auch das halte ich nicht für verwerflich, aber für mich isses halt nix.

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Zitat

    Original von Buchdoktor


    Lies bitte alle Beiträge hier zum Thema, ehe du eine Vermutung/Behauptung zur Tatsache erklärst.




    Ich hab mich an dem Artikel, um den es hier geht, orientiert:



    Wiedau spricht ein bisschen lauter, ein bisschen schneller als zuvor. „Der Nicht-hilfreich-Button ist wie ein Messer in der Hand eines unreifen Kleinkindes. Schrecklich! Ganz schrecklich.“ Amazon, erklärt Wiedau, schaue dem Treiben tatenlos zu. „Amazon ist doch egal, was da am Boden passiert. Die wollen nur verkaufen.“ Der Konzern habe „ein perfides System installiert, das den Rezensenten zwingt, positive Kritiken zu schreiben.“Kritische Stimmen seien unerwünscht, wer ein Buch nicht mit fünf Sternen bewerte, rutsche in der Rangliste ab. „Kein Kunde kauft ein Buch, das nur drei Sterne hat. Und deshalb straft Amazon sie für solche Rezensionen ab.“ Er selbst, erzählt Wiedau, habe Bücher mit drei oder vier Sternen bewertet. „Sofort bin ich auf der Rangliste abgefallen. Jetzt stehen sogar Leute vor mir, die gerade 40 Bücher rezensiert haben und unter so absurden Pseudonymen schreiben wie ,Hasenpups‘.“



    Denn genau das war es, was ich u.a. mit dem Blick hinter die Kulissen meinte.


    Liebe Grüße
    Kirsten :wave

  • Zitat

    Original von Kirsten Slottke
    Denn genau das war es, was ich u.a. mit dem Blick hinter die Kulissen meinte.
    Liebe Grüße
    Kirsten :wave


    Kirsten, dass ist eine reine Vermutung, weil es zur Entstehung der Rangliste keine Fakten, sondern nur Theorien gibt. Manche Rezensenten bleiben jahrelang auf einem bestimmten Listenplatz, unabhängig davon wie viele Ein-Stern-Rezensionen sie schreiben und wie vielen Autoren-Fans sie mit ihrer Kritik zu nahe treten. Eine glaubwürdige Begründung für Veränderung eines persönlichen Rangplatzes wäre z. B. dass verstärkt I-Phones u. a. Geräte rezensiert werden, die offenbar mehr Kunden interessieren als Bücher. Dass Bücher und deren Rezensenten nun nur noch unter vielen anderen Waren um Aufmerksamkeit ringen, macht liebevolle oder sachkundige Buchrezensionen nicht zu schlechteren Texten.


    Ein weiterer Aspekt ist dem Artikelschreiber und dem Rezensenten entgangen. In den rund zehn Jahren, seit Amazon Rezensionen veröffentlicht, hat sich die Nutzung der Medien völlig umgekrempelt. Die Leute sind inzwischen bei Facebook und auf ihren persönlichen Blogs. Wer das Lesen und den Bücherkauf fördern will, muss auch da hingehen, wo potentielle Leser sind.

  • Hallo Buchdoktor,


    ich stimme Dir völlig zu, mit einem Einwand: Die Spekulationen über die Rezensentenränge haben dazu geführt, dass Thorsten Wiedau nur noch positive Rezensionen geschrieben hat.
    Damit hat er sich in gewisser Weise zum Handlanger eines Systems, dessen Geheimnis Amazon gut hütet, gemacht.


    Warum?
    Was hat diesen Mann getrieben? Kostenlose Bücher? Dann hat dieser Mann einen verdammt hohen Preis gezahlt, nämlich Lebenszeit, die er besser mit seiner Familie oder bewusst ausgesuchten Büchern verbracht hätte und ihn jetzt nicht in eine Verzweiflung gestürzt hätten.

  • Zitat

    Original von beowulf
    Eine Matratze hat 244 Kundenrezensionen, ein polarisierendes Buch wie Finsterau hat 44, darunter im übrigen aus dem amazon vine Programm jede Menge 1- Sterne Beurteilungen.


    Das Volk (gern auch "der Verbraucher" genannt) setzt eben Schwerpunkte! Wer schläft schon gern auf einem Buch - schon gar auf einem polarisierenden ... :lache

  • Da ich mit meinem Beitrag zu diesem Artikel verlinkt bin, möchte ich kurz auf die Diskussion eingehen.


    Es ist meines Erachtens nicht gleichgültig, ob und wie der sogenannte Top-Rezensent sein Pensum bewerkstelligt hat. Ich erachte es im Gegenteil für ziemlich wichtig zu befragen, (1.) ob man überhaupt 10.000 Bücher in der genannten Geschwindigkeit lesen und vor allem erfassen kann und (2.) welche Auswirkungen dies auf die sogenannte "Rezension" hat. Ich behaupte: das geht nicht.


    Niemand scheint sich die Frage zu stellen, wie jemand Kinderbücher, Reiseführer, Kochbücher und Romane in der dem Genre würdigen Form "rezensieren" kann (und damit meine ich nicht nur die Quantität). Hat er jemals ein Rezept aus einem besprochenen Kochbuch nachgekocht? Einen Wanderweg in einem Reiseführer überprüft? Wo liegen die Kriterien? Ich habe mir inzwischen einige "Rezensenten" angesehen. Etliche besprechen nahezu alles durcheinander: Nietzsche, Winnetou, IT-Bücher. Die im Artikel genannten 30 Zeilen sind bei diesen Inflationslesern offensichtlich noch viel - manche referieren Kant in zehn Zeilen (wie drollig dann, wenn eine Empfehlung ausgesprochen wird).


    Ich stimme denen hier im Forum zu, die sich mehr über die Persönlichkeit des angeblich Gemobbten gewünscht hätten. Wo bleibt die Analyse, was Leute dazu treibt, sich in virtuellen Listen nach oben und andere nach unten zu werten? Wäre das nicht die Frage an Amazon gewesen? Wie wäre es mit einem Identitätsnachweis für "Rezensenten" (der könnte ja bei Amazon verbleiben, wenn jemand unbedingt unter Pseudonym schreiben möchte)?


    In Wirklichkeit hat Amazon gar kein Interesse an einer Eindämmung dieses Pseudorezensententums der Zehn- oder Dreißigzeiler. Sie pushen damit ihren Vertrieb. Hauptsache, es gibt möglichst viele Bewertungen und Sterne.


    Noch etwas zu der mehrfach geäußerten These, jemand verkaufe für ein Rezensionsexemplar seine Seele. Ich bekomme auch welche (und weiss daher, welche Verlage beispielsweise Amazon-Schreibern keine schicken), habe aber noch nie einen entsprechenden Druck verspürt. Ich verreisse auch - gebe mir dabei jedoch Mühe, dies nicht auf einer persönlichen Ebene zu tun (in den meisten Fällen kenne ich die Autoren ja nicht).

  • Zitat

    Original von Salonlöwin
    Hallo Buchdoktor,


    ich stimme Dir völlig zu, mit einem Einwand: Die Spekulationen über die Rezensentenränge haben dazu geführt, dass Thorsten Wiedau nur noch positive Rezensionen geschrieben hat.
    Damit hat er sich in gewisser Weise zum Handlanger eines Systems, dessen Geheimnis Amazon gut hütet, gemacht.


    Wenn du in einem Buch entdecken könntest, dass es unkritisch Propaganda eines totalitären Regimes nachplappert, dass ein Sachbuch-Autor nur Dinge empfiehlt, die er selbst verkauft oder dass ein Buch gar nicht für den deutschen Markt funktioniert, kostet das Zeit. Amazon hindert Rezensenten nicht, sorgfältig zu arbeiten und sich mit Nicht-Mainstream zu beschäftigen. Jeder muss mit seinem eigenen Spiegelbild ausmachen, ob man zu seinen Urteilen stehen kann.


  • Ein sehr interessanter Beitrag. Die Amazon-Rezis spielen bei meiner Bücherauswahl absolut keine Rolle. Dazu ist mir der ganze Kram einfach zu undurchsichtig. Amazon will Geld verdienen (durchaus legitim) - Amazon ist aber ganz sicher nicht an irgendwelchen literarischen Diskussionen interessiert die kein Geld bringen.


    In jedem Falle ist es absolut unmöglich die von Wiedau kolportierte Lese- und Beurteilungsleistung zu bringen - wenn man einigermaßen ernsthaft bei der Sache ist. Dieser Mensch wirkt einfach nur unglaubwürdig und lächerlich.


    Aber Amazon hindert eben auch niemand daran, sich dort zum Affen zu machen.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Buchdoktor :
    Beweise gibt es natürlich keine. Wiedau wurde durch das Ranglistensystem dazu getrieben, sich so zu verhalten, wie er es tat. So wie er es beschreibt grenzt das schon an Suchtverhalten.
    Ich selbst wusste bislang nicht einmal, dass es unter Rezensenten eine Rangliste gibt, weil mich das bis dato nicht interessiert hat.
    Ganz klar hat sich in den vergangenen Jahren die mediale Nutzung aller Käufer, auch die der Buchkäufer/Leser, verändert. Und in der Folge auch das Verhalten der Verkäufer. Dementsprechend ist es auch logisch, dass sich Vertriebsstrukturen daran orientieren.


    Liebe Grüße
    Kirsten

  • Ich kipp tot um :konfus


    10.000 bücher :wow ok, die hab ich auch (jedoch nicht gelesen)


    aber 30 minuten für eine rezi...


    :gruebel


    ... da es kaum ein buch gibt, an dem mir alles gefällt, könnte ich gar keine positiven rezis schreiben... wie macht man das? - nur mit selbstverleugnung

    DC :lesend


    Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens I


    ...Darum Wandrer zieh doch weiter, denn Verwesung stimmt nicht heiter.
    (Grabinschrift F. Sauter )

    Dieser Beitrag wurde bereits 3 Mal editiert, zuletzt von MagnaMater ()

  • Vielen Dank für den interessanten Artikel. Ich muss zugeben, dass ich Herrn Wiedau nicht kannte, auch wenn ich bei der Anzahl von Bewertungen sicher eine oder mehrere von ihm gelesen habe. Normalerweise achte ich nicht darauf, von wem die Rezensionen sind - es sei denn, es handelt sich um ein unbekanntes Produkt, das nur 5 Sterne Bewertungen hat. In dem Fall schaue ich nach, ob der Rezensent seine Meinung nur zu diesem einen Produkt geschrieben hat.


    Die Geschichte von Herrn Wiedau erinnert mich teilweise an die Berichte von Ciao-Aussteigern. Ich hoffe, dass er seine Liebe zu Büchern wieder entdecken kann. Erschütternd fand ich auch die Herablassung der studierten Literaturkritiker.

  • Ich stelle einmal eine gewagte These auf: Amazon ist es vollkommen egal, ob x das Buch a oder b kauft. Amazon geht es nur darum, dass x das Buch a oder b bei amazon kauft. Deswegen tut Amazon auf seine Seite ein paar Sachen integrieren, die ein bissl "Community" schaffen, damit Leute diese nutzen, dann bei Amazon schreiben und dann auch wieder bei Amazon kaufen. Deswegen ist es Amazon glaub ich auch sehr egal, ob x das Buch a oder b dann mit 1,2,3,4 oder 5 Sternen bewertet. Amazon freut sich nur, wenn x das Buch a oder b bei Amazon bewertet, will dann aber doch nicht so viel Arbeit mit dem ganzen haben, um da System reinzubringen, nutzt aber geschickt die doch vorhandene Eitelkeit der Menschen, dass wenn es den eine Rangliste gibt, man halt doch ganz gern nicht am letzten Platz wäre.


    Keine geheime Weltverschwöörung von Amazon zur Erlangung der Weltherrschaft durch Auslösung der allgemeinen Anarchie durch einen Krieg jeder gegen jeden aller Amazonrezensionisten, sondern einfach ein geschickt gemachtes Kudenanziehungsprogramm, was manche halt ein ganz kleines bisschen zu ernst nehmen.


    Und Amazon ist dann halt der Böse, weil die guten und reinen Puristen, ja nie was bei Amazon kaufen würden. Amazon ist aber nicht deswegen so erfolgreich, weil sie eine böse kleine perfide Weltverschwörung anzetteln, sondern weil sie mit einer Mischung aus Kundenservice, Kundenbindung und Marktdruck für Kunden auch recht attraktiv sind.

  • Ich sage mal ganz ketzerisch, dass amazon auch nur einem Trend folgt.
    Quadratisch - praktisch -gut lautet die Devise.


    Eine wirklich kritische, fundierte Rezension ist vielen Lesern eh' suspekt. Bloss nicht zu viele Fachbegriffe.


    Allerdings ist es auch sehr ärgerlich, dass zum Beispiel eine 2 - Sterne - Rezi gnadenlos niedergeklickt wird, obschon sie ihre Berechtigung hat.


    Ich lese sehr gerne Rezensionen mit wenigen Sternen.

    "Literatur ist die Verteidigung gegen die Angriffe des Lebens."


    "...if you don't know who I am - then maybe your best course would be to tread lightly."

  • "nachhaken" würde ich das nicht nennen. Im Interview sagt Wiedau übrigens abweichend zur Berichterstattung im Artikel, dass er in 40 Jahren 10.000 Bücher gelesen hat (also nicht in 10 Jahren). Und er relativiert den Begriff Rezension zu 'Zusammenfassungen mit kurzer Meinung' (sinngemäß).

  • Zitat

    Original von newmoon
    Ich lese sehr gerne Rezensionen mit wenigen Sternen.


    Ich auch. Und ganz ehrlich, wieviel % der Käufer eines Buches informieren sich denn vorher darüber, lesen Rezis (auf Amazon oder woanders), Leseproben oder ähnliches? Sind wir Vielleser oder gezielte Leser da nicht eher in der Minderheit?
    Genauso wie die Personengruppe, die anschließend auch eine Rezi verfasst?


    Aus Gesprächen, die ich häufig beim Einkaufsbummel so nebenbei mithörte, ging oft hervor, dass viele Leute Bücher spontan kaufen. Da gefällt das Cover oder der Titel sprach an. Selten hörte ich, dass von diesem Buch schon gutes zu lesen war, tolle Rezis irgendwo standen oder so.

  • Zitat

    Original von GregorKeuschnig
    "nachhaken" würde ich das nicht nennen. Im Interview sagt Wiedau übrigens abweichend zur Berichterstattung im Artikel, dass er in 40 Jahren 10.000 Bücher gelesen hat (also nicht in 10 Jahren).


    Irgendwie machts das auch nicht besser. Dann hätte er mit vier angefangen zu lesen und seitdem konsequent 250 Bücher pro Jahr gelesen.