Mini-LR "Junges Licht" von Ralf Rothmann

  • Eigentlich ist es eher eine Mikro-LR. Buchdoktor und ich wollen gemeinsam das Buch lesen.


    Natürlich ist jeder herzlich willkommen, der mitlesen und -plaudern möchte. :wave


    Edit: Termin entfernt, LR ist gestartet...

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Franz Kafka

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  • Ich wurde auf den Autor durch ein Zitat aus einem seiner Bücher aufmerksam. Das schlug voll bei mir ein. Bisher habe ich drei Bücher von Rothmann gelesen:
    Hitze
    Flieh, mein Freund
    Feuer brennt nicht


    Ich bin restlos begeistert von der sprachlichen Qualtität des Autors. Er kreiert Wortbilder, die einfach nur zum Niederknien sind. Außerdem gefällt mir sein extrem genauer Blick auf das Leben.


    Etwa die Schilderung einer betagten Künstlerin und ihre halsbrecherischen Aktivitäten, um einen kleinen Farbtupfer auf ihrer riesigen Leinwand zu plazieren (in "Hitze"). Sie hat sich nachhaltig bei mir eingegraben.


    Auch besitzt der Autor einen feinen Humor, den er dezent in seine Texte einfließen lässt.


    Ebenso traut sich Rothmann daran, Sex zu beschreiben. Und das macht er auch noch gut. Es ist weder kitschig-schwülstig noch pornografisch - genau richtig, wie ich finde. Und keinesfalls "überdosiert".


    Rothmanns Werke sind Bücher, die gehaltvoll sind. Deshalb freut es mich sehr, mich mit dir darüber austauschen zu können. Das vertieft für mich den Lesegenuss noch weiter.


    Wenn ich mich weiter so in Begeisterung schreibe, kann ich nicht mehr bis Sonntag warten! :grin

  • Bisher habe ich herausgefunden, dass dieser Roman aus zwei Perspektiven erzählt wird, aus der eines ungenannten Mannes, der im Bergbau arbeitet, und aus der Sicht eines Zwölfjährigen, der recht langweilige Sommerferien verbringt.
    Die Zeit lässt sich genau eingrenzen, so dass ich mir die Schilderung der Atmosphäre dieser Jahre von dem Buch verspreche.

  • Aha. *tapp,tapp* Du hast also schon gespickt... :lache


    Mache ich jetzt auch. Und schon gehts los: Das Buch beginnt mit einem (Song-?)Zitat von L. Cohen:


    Here is the night,
    The night has begun;
    And here is your death
    In the heart of your son.


    Soll das auf einen Vater-Sohn-Konflikt hinweisen? Auf einen düsteren Roman? Ich hoffe nicht! Zumindest lässt mich der Titel (Junges Licht) auf Helleres hoffen.


    Edit: Tippfehler beseitigt

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Franz Kafka

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  • Es geht um einen Vater (einen Bergmann) und seinen Sohn. Auch um die Nacht, die Nachtschicht, die Arbeit unter Tage und lange, wahrscheinlich nicht sehr dunkle Sommernächte.


    Durch ein Kinoplakat (Ursus der Rächer) lässt sich eingrenzen, das der Roman 1960 spielt (oder später, falls jemand das Kinoplakat hängen ließ). Eine interessante Zeit, in der die Deutschen sich nach und nach gutes Essen, neue Möbel, größere Wohnungen, einen fahrbaren Untersatz und erste Urlaube in Italien gönnten. Es gibt im Bergwerk, in dem "der Mann" und der Vater des Icherzählers Julian arbeiten, schon italienische und portugiesische Begleute, die in einem Wohnheim wohnen.


    In der Fachsprache des Bergmanns wird die Welt unter Tage beschrieben, Wörter, die wie eine Fremdsprache wirken und doch leicht verständlich sind für die, die nur die Erdoberfläche kennen, wie z. B. Julians Mutter. Der Arbeitsplatz des "Mannes" im Bergbau wirkt düster, man spürt die Beklemmung durch das Eingeschlossensein unter Tage sehr nah, aber auch die Schönheit bestimmter Einzelheiten. Z. B. findet der Bergmann ein Stück Kohle mit dem Abdruck eines prähistorischen Tiers, das aber leider zu Staub zerfällt .

  • Klappentexte können ja sehr gefährlich sein. Entweder sie verraten bereits zu viel vom Roman oder sie wecken falsche Erwartungen. Auf der Rückseite von "Junges Licht" geht es dagegen sehr puristisch zu. Da steht nur:


    "Wenn du dich für die Freiheit entschieden hast, kann dir gar nichts passieren. Nie."


    Beste Voraussetzungen für die Lektüre. Ich lasse mich gerne überraschen. Ich fange heute Abend an zu lesen.


    Deine Einführung Doc, hat mir sowieso schon den Mund wässrig gemacht. Ich habe mich zuvor nicht über den Inhalt des Buches informiert. Es ist von Rothmann, deshalb wollte ich es lesen, egal um was es geht. :-]

  • Das Buch ist 2004 erschienen. Ich lese die Taschenbuchausgabe. Der Suhrkampverlag steht für mich für Qualtität und höheres, literarisches Niveau. Schade finde ich, dass der Text noch in der alten Rechtschreibung verfasst ist. Aber das liegt am Erscheinungsdatum.


    Szene 1 umfasst nur zweieinhalb Seiten. (S. 7 bis 9) Geschrieben ist sie in der personellen Erzählperspektive aus Sicht eines Mannes. Man erlebt, wie ein Mann in einen Bergwerksstollen steigt. Der Erzählung konnte ich nicht entnehmen, was im Bergwerk abgebaut wird, stelle mir jedoch das Naheliegendste vor: Kohle.


    Ich erlebe sofort das Talent von Rothmann atmosphärisch zu schreiben. Hier ein Beispiel, was ich unter einem verdichteten Text verstehe:


    ...; dann ruckte der Korb an, die Gitter klirrrten, und die Lampe unter dem Blechdach zitterte derart, daß die toten Fliegen in der Milchglasschale hüpften.


    Ich fühle mich nicht wohl in der Dunkelheit des Stollens. Ich lese mit angehaltenem Atem und möchte eigentlich wieder fort von diesem Ort. Der Mann erhält (noch?) keinen Namen. Ich erfahre nicht wie er aussieht oder wie alt er ist, sondern nur das Unmittelbare, sein Tun in diesem Moment.


    Etliche Fachbegriffe, die ich noch nie zuvor gehört habe, stören den Textfluss nicht. Im Gegenteil, sie haben die beruhigende Wirkung auf mich, dass der Autor weiß, von was er schreibt. Er kennt sich aus. Das gefällt mir.


    Hier ein paar der Wörter:
    Gezähekiste
    Schrapper
    Strebs


    Was hat es mit dieser Sandsteinplatte auf sich? Was bedeutet dieser Satz:
    ..., und dann hörte er es, leise nur, doch so deutlich, daß es keinen Zweifel gab. ... Doch das Wasser setzte plötzlich aus, das Rieseln verstummte - wenn auch kaum länger als ein, zwei Herzschläge lang. Und ging dann unverändert weiter.


    Das las sich spannend wie ein Krimi. Ich habe schon die Decke einstürzen sehen. Ich bin gespannt, wie das weiter geht.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Franz Kafka

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  • Spannend ist das, was der Bergmann aus seinen Beobachtungen folgert. Wir als Laien können seinem Schluss nicht folgen. Wasser ist auf dem Grund (das da nicht sein sollte?), eine Sandsteinplatte hängt zu tief (was sie nicht sollte?, damit der Schacht ausgebaut und abgestützt werden kann).

  • Szene 2, S. 9 bis 15
    Ich-Perspektive, aus der Sicht eines Jungen, Alter unbekannt, aber schon etwas älter, weil er bereitwillig seine Matchbox-Autos an den Nachbarjungen verschenkt hat; ich schätze ihn auf 12 bis 15


    Beschrieben wird der erste Ferientag, wir erfahren, dass der Junge noch eine kleine Schwester hat. Sie schlafen beide im gleichen Zimmer. Die Beschreibung der Umgebung zeigt eher ländliches Gebiet und schönes Wetter. Die Erwähnung von Sandspielzeug (Förmchen) aus Weißblech lassen zum ersten Mal vermuten, dass der Roman nicht in der Jetztzeit spielt. Heutzutage sind solche Förmchen immer aus Kunststoff.


    Der Vater scheint bereits auf der Arbeit zu sein. Erwähnt wird es nicht, aber ich nehme einfach an, der in Szene 1 beschriebene Mann ist der Vater. Wir erfahren von der Wohnsituation (beengte Mietwohnung), lernen ein Nachbarkind kennen und die Mutter, die mir geistig abwesend erscheint. Wir erfahren, dass sie in die Stadt muss zu einer Untersuchung. Das könnte ihre Nachdenklichkeit erklären.


    Der große Bruder soll in der Zeit auf seine kleine Schwester aufpassen.

  • Die Förmchen aus Weißblech sind für mich ein Stolperstein; erst wenn man beide Sorten kennt, unterscheidet man Sandspielzeug aus Weißblech und Plastik.


    Zwischen dem Bergmann und Julians Familie muss ein Zusammenhang bestehen, den wir im eigenen Kopf herstellen, angedeutet wird er nicht.


    Seite 15 -26
    Julian schneidet sich mit einer Rasierklinge des Vaters in den Handballen, um als "Verletzter" keine Hausuafgaben abgeben zu müssen. In der Schule werden die Kinder mit dem Lineal geprügelt und am Ohr gezogen - mit dem Einverständnis der Eltern. Der Verbrauch an Holzlinealen, Kleiderbügeln und Kochlöffeln muss immens gewesen sein. Julian gehört zu einer Kinderbande, dem Tierclub, die Hasen, Meerschweinchen und sogar einen Hund in ihrer Hütte halten. Die Kleekampbande, eine andere Kinderbande, hat ein Baumhaus. Was wir oft nostalgisch und unüberlegt als tolle Kindheit idealisieren mit Herumstreifen in Wald und Feld, hatte deutliche Schattenseiten.

  • Zitat

    Original von Buchdoktor
    Die Förmchen aus Weißblech sind für mich ein Stolperstein; erst wenn man beide Sorten kennt, unterscheidet man Sandspielzeug aus Weißblech und Plastik.


    Da hast du recht! Ein Zeichen dafür, dass ein heutiger Autor zurück blickt.


    Szene 3, S. 15 bis 27
    weiterhin in der Ich-Perspektive aus Sicht des Jungen geschrieben
    Die Szene enthält einen großen Rückblick. Wir erfahren von den Ereignissen, die zwei Tage zurück liegen.


    Als der Junge Selbstverstümmelung betreibt, lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Wie groß muss die Angst vor dem strafenden Lehrer sein, um auf so eine Idee zu kommen!?! :yikes Er reibt sich sogar noch Schwefel von einem Streichholz in die Wunde!


    Durch diese Schilderung hat man nun einen genaueren Anhaltspunkt, in welcher Zeit die Geschichte spielt. Verprügeln der Kinder mit einem Holzlineal ist zum Glück schon lange aus deutschen Schulen verschwunden.


    Die bisher genannten Nachnamen kommen mir alle etwas seltsam vor:


    Der Lehrer Herr Dey, die Kunstlehrerin Latif, der Vermieter Gorny, die Mitschüler Tsimanek und Godtschewski


    Was auch nicht ganz passt: Der Lehrer spricht von Schülern mit einer Rechenschwäche. Die "gab" es begrifflich doch damals noch gar nicht! Ein Kind mit Dyskalkulie wurde einfach als dumm bezeichnet.


    Nicht stimmig fand ich auch folgende Bemerkung:


    Warum er um diese Zeit in der Heide war statt unter Tage - der Gedanke kam mir nicht vor Angst, gefragt zu werden, weshalb ich nicht in der Schule saß.


    Das ist ein kleiner Bruch in der Erzählperspektive. Entweder er hat es sich gefragt oder eben nicht. Aber wenn nicht, kann er es auch nicht erwähnen.


    Zumindest gibt uns der Autor einen Hinweis, dass etwas mit diesem Herrn Gorny nicht zu stimmen scheint.


    Den Namen des Jungen erfährt man in dieser Szene noch nicht.


    Die Prügelszene, als der Junge von der Mutter mit dem Holzkochlöffel verdroschen wird, macht die Frau nicht sympathischer.


    Der Tierclub wurde zwar erwähnt, aber bisher weiß ich noch nichts Genaueres darüber. Ich habe aber so eine dumpfe Angst, dass es den Jungs nicht um Tierliebe sondern um Machtausübung (und vielleicht Tierquälerei?) geht.


    Dass das Baumhaus nicht für eine idyllische Kindheit sondern Kämpfe unter verschiedenen Kindergruppen geht, hat der Autor für mein Empfinden gut heraus gearbeitet.

  • Die ungewöhnlichen Namen lassen sich dadurch erklären, dass es im Ruhrgebiet traditionell polnische Zuwanderer gab und nach dem Zweiten Weltkrieg evtl. noch mehr Familien mit polnisch/osteuropäisch klingenden Namen als Flüchtlinge in die Region kamen.


    Mit der Rechenschwäche stimme ich dir zu, man hätte denjenigen vieleicht als schlecht in Rechnen bezeichnet. "Der Junge" Julian ist 12, sein Klassenkamerad soll nach den Sommerferien aufs Gymnasium. Das hakt für mich auch. Entweder ist der Freund zwei Jahre jünger, Julian mal sitzengeblieben oder die Ruhrpottler hatten ein anderes Schulsystem als der Rest ...?


    Julian macht auf mich einen sehr ernsten Eindruck, gar nicht wie ein Kind.


    Auf Seite 13 gab es eine stimmige Beschreibung, die Räder des Förderturms drehten sich "wie die Kutschenräder in Bonanza". Ungewöhnlich, dass ein Kind als Beobachter für solch besondere Einzelheiten dient.

  • Ich habe gerade geguckt, seit wann es die Fernsehsendung Bonanza eigentlich gibt. Wiki sagt mir, dass die Erstausstrahlung in Deutschland im Oktober 1962 stattfand. Laut meiner Eltern war zu dieser Zeit ein Fernseher im Haus eine Seltenheit.


    Was das im Ruhrgebiet anders? Ich hatte jetzt nicht den Eindruck, dass die Familie so begütert sei.


    Aber den Vergleich, den der Autor dem Jungen in den Mund legt, ist schon sehr "poetisch". Ich bin mir nicht sicher, ob das ein Zwölfjähriger tatsächlich so denken würde.


    In den bisher von mir gelesenen Büchern von Rothmann hatte er erwachsene Protagonisten. Es scheint, als sei ein Kind als Prota eine größere Herausforderung.


    Du hast schon einen Wissensvorsprung. Alter und Namen des Jungen habe ich noch nicht erfahren. Ohnehin finde ich den Namen für diese Zeit äußerst unpassend. Damals hießen Jungs Günther oder Wolfgang, aber nicht Julian. :gruebel

  • Zitat

    Original von Rosha
    Ich habe gerade geguckt, seit wann es die Fernsehsendung Bonanza eigentlich gibt. Wiki sagt mir, dass die Erstausstrahlung in Deutschland im Oktober 1962 stattfand. Laut meiner Eltern war zu dieser Zeit ein Fernseher im Haus eine Seltenheit.


    Was das im Ruhrgebiet anders? Ich hatte jetzt nicht den Eindruck, dass die Familie so begütert sei.


    Das mit dem Fernsehapparat ist richtig. Als Bergmann hat Julians Vater durch Schichtzulage und (gratis) Kohlendeputat sehr viel besser verdient als andere.
    Ich kann mir vorstellen, dass jede Familie sich zunächst etwas anderes geleistet hat, die einen Möbel auf Abzahlung, die anderen ein Badezimmer und die nächsten einen Fernsehapparat. Die "Ausstattung" der Familie wird später noch öfter Thema ...


    Zitat

    Aber den Vergleich, den der Autor dem Jungen in den Mund legt, ist schon sehr "poetisch". Ich bin mir nicht sicher, ob das ein Zwölfjähriger tatsächlich so denken würde.In den bisher von mir gelesenen Büchern von Rothmann hatte er erwachsene Protagonisten. Es scheint, als sei ein Kind als Prota eine größere Herausforderung.
    Du hast schon einen Wissensvorsprung.


    Szene für Szene voranzugehen, fällt mir schwer, weil ich mehr nach den Zusammenhängen gesucht habe. Wie funktioniert die Familie, wie ist die Rolle der Mutter, was für ein Junge ist Julian.


    Zitat

    Alter und Namen des Jungen habe ich noch nicht erfahren. Ohnehin finde ich den Namen für diese Zeit äußerst unpassend. Damals hießen Jungs Günther oder Wolfgang, aber nicht Julian. :gruebel


    Das ist sicher mit Absicht geschehen, um eine besondere Hoffnung auszudrücken (die Schwester heisst Sophie) oder sich von - anderen - klassenbewussten Arbeitern abzugrenzen, die den Sohn nach dem Patenonkel oder dem Großvater genannt hätten. Durch die Begegnung mit der Familie der Vermieter stellt sich später noch die Frage: was ist in Julians Familie anders und wie ist es dazu gekommen?



    S. 27 bis 34
    Hier geht es um die beengten Wohnverhältnisse, selbst die Vermieter leben beengt, und dass das Geld nicht für einen Urlaub reicht. Ich habe mich gefragt, ob es wirklich schon üblich war zu verreisen oder ob das auch nur einzelne Familien taten. Meine Vorstellung vom Ruhrgebiet ist, dass die Leute Schrebergärten hatten oder selbst an ihren eigenen Häusern gebaut haben. Wer im Sommer Arbeit in Haus und Garten hat, verreist nicht. Vielleicht hatte der Vater keine Lust zu verreisen und ist dem Thema ausgewichen? Die Widersprüche zwischen den einfachen Lebensverhältnissen trotz des guten Verdiensts des Vaters ziehen sich durch die ganze Handlung. Das kann Julian evtl. nicht genauer wissen, weil Kinder damals nicht alles wissen durften.

  • Zitat

    Original von Buchdoktor
    Szene für Szene voranzugehen, fällt mir schwer, weil ich mehr nach den Zusammenhängen gesucht habe. Wie funktioniert die Familie, wie ist die Rolle der Mutter, was für ein Junge ist Julian.


    Dann ergänzen wir uns in den Beiträgen gegenseitig. Ich will Szene für Szene durchgehen, weil ich mich u. a. auch für das Plotgerüst interessiere, das dem Roman zugrunde liegt.


    Und leider schaffe ich es derzeit wirklich nicht, schneller zu lesen, weil ich sehr viel Schreibarbeit erledige. Ich hoffe, das geht für dich in Ordnung, wenn ich so weiter trödle... ?(


    Szene 4, S. 27 bis 34
    Ich-Perspektive aus Sicht des Jungen
    Obwohl die Gornys die Hausbesitzer sind, geht es bei ihnen nicht üppig zu. Bereits zum zweiten Mal wird hier betont, dass es bei den Gornys immer nur Graubrot gibt, nie etwas anderes. Und die Platzsituation ist mit vier Kindern noch deutlich beengter als in der Familie des Ich-Erzählers.


    In diesem Abschnitt erfährt man den Namen des Jungen (Julian), sowie den Nachnamen der ganzen Familie (Collien). Das von der Wohnung der Colliens untervermietete Zimmer scheint von einer Gorny-Tochter bewohnt zu werden. Marusha (oder Maria?) wurde anscheinend mit in die Ehe gebracht, denn Herr Gorny ist nicht ihr Vater. Sie ist 15 und Julian scheint in ihrer Gegenwart etwas eingeschüchtert. Und man hat den Eindruck, dass Julian jünger sein muss. (Doc hat ja schon gesagt, dass er 12 ist, aber ich lese trotzdem noch so, als wüsste ich es nicht...)


    Marusha scheint ein ziemlich selbstbewusstes und raffiniertes Mädchen zu sein. Sie weiß, wie sie mit Julian und seiner Mutter umgehen muss.


    Die Mutter raucht Kette. (Von der Zigarettenmarke Chester habe ich bisher noch nichts gehört.) Durch die Geste, als sie Marusha eine halbe Zigarettenpackung schenkt, erhält sie eine weiteren Charakterzug, den ich jedoch nicht richtig interpretieren kann.


    In der heutigen Zeit ist es eine Sünde, einem 15-jährigen Mädchen Zigaretten zu schenken. Für die damalige Zeit könnte es als großzügige Geste ausgelegt werden.


    Als die Mutter Julian zwingt vor den Augen Marushas die Hose auszuziehen, damit sie sie in die Waschmaschine stecken kann, beweist sie so viel Feingefühl wie ein Holzhammer. Dass es ihrem Sohn peinlich ist, von dem Mädchen in der schäbigen Feinrippunterhose gesehen zu werden, merkt die Mutter nicht oder es ist ihr egal. Bislang ist die Figur der Mutter sehr negativ dargestellt.

  • Es ist schon deutlich geworden, dass in diesem Roman Dinge wichtig sind, die nicht beschrieben werden, sondern die man sich als Leser denken muss. Nur ein Stoff-Zipfel ragt irgendwo hervor und den restlichen Vorhang muss ich mir vorstellen. (Gibt es dafür einen Fachausdruck in der Literaturwissenschaft?) Aus der Perspektive eines Kindes wirkt diese Sicht besonders glaubwürdig, weil Kinder (damals?) mit Beschlüssen der Erwachsenen eher überrumpelt wurden und nicht mit in die Entscheidung einbezogen waren. Vermutlich hat der Vater einfach angeordnet, dass ein Urlaub nicht drin ist. Wer Julian ist, erfahre ich u. a. durch seinen Blick auf Marusha, die wie der Prototyp eines raffinierten Früchtchens wirkt. Meine Vermutung ist, dass Julian noch nicht in der Pubertät ist und eine Art letzten Sommer seiner Kindheit vor sich hat.


    Die Einschätzung der Vermieter-Familie könnte zuerst klischeehaft vermuten lassen, dass sie wohlhabend sind, weil sie die Hausbesitzer sind und Colliens Mieter bei ihnen. Das Aufdröseln der Lebensbedingungen beider Familien im Laufe des Buches erfolgt parallel zu Julians Reifung, der sich in diesem Sommer verstärkt dafür interessiert, was Väter arbeiten und was man sich mit dem Einkommen der Familie leisten kann.

  • Zitat

    Original von Buchdoktor
    Es ist schon deutlich geworden, dass in diesem Roman Dinge wichtig sind, die nicht beschrieben werden, sondern die man sich als Leser denken muss.


    Ja, ein Schreiben fernab jeder Redundanz. Ich finde das großartig. Rothmann lässt dem Leser viel Platz für Gedanken, holt einen damit auch tiefer in den Text.


    Es würde mich auch interessieren, ob es dafür einen Fachausdruck gibt. Vielleicht sollten wir einen Aufruf an alle LiteraturwissenschaftlerInnen hier im Büchereulenhaus starten. :-)


    Ich bin bisher sehr zufrieden mit dem Roman. Rothmann schreibt sehr atmosphärisch, ich kann das Buch "fühlen".

  • Szene 5, S. 34 bis 39


    Ich-Perspektive aus Sicht von Julian


    Die Mutter ist in der Stadt bei ihrem Arzttermin und Julian muss auf seine kleine Schwester Sophie aufpassen. Über das Alter des Mädchens bin ich mir immer noch nicht schlüssig geworden. Einerseits erscheint sie mir noch recht jung (vielleicht 5 Jahre) und dann benimmt sie sich wieder wie ein Teenager im Zickenalter.


    Ohnehin kommt mir Sophie wie ein verzogenes, verwöhntes Rotzgör vor. Dass sie anfängt zu heulen, weil sie nicht in Urlaub fahren werden, kommt mir unnatürlich vor. Mit ihrer Nörgelei ist sie bei ihrem Bruder ohnehin an der falschen Adresse. Die emotionalen Daumenschrauben müsste sie beim Vater ansetzen.


    Allerdings kam mir auch der Gedanke, dass das Mädchen vielleicht nur die Worte der Mutter wiederholt. Dass sie den Frust der Mutter nacherzählt.


    Wie Julian mit seiner Schwester umgeht, lässt ihn besonnen und älter wirken.


    Als die Mutter zurückkommt, ist sie wieder abwesend, genervt und gleichgültig. Und gleich bereit, die Schuld für Sophies Weinen bei Julian zu suchen. Der Junge hat es wirklich nicht leicht.


    Die Sprechstimme von Sophie finde ich nicht ganz gelungen. Die Schilderungen zeigen mir ein kleines Mädchen, aber sie spricht in einer anderen "Altersklasse".


    Beispiel:


    "Ich möchte Kartoffelpuffer mit Marmelade. Und Erdbeermilch, aber gut verquirlt. Hör mal, der Julian hat gesagt, wir könnten zur Stadtranderholung. Stimmt das?"

  • ###Out of topic###


    Dein (neuer) Spruch von Wagenbach in deiner Signatur gefällt mir übrigens sehr gut. Solange man ein Buch liest, tritt wirklich Entschleunigung ein. Die Zeit spielt keine Rolle, man achtet nicht auf sie. Wenn ich mir allerdings meinen gigantischen SuB anschaue, entsteht durchaus ein Gefühl des Gehetztseins. So vieles, was ich lesen will und sooo wenig Zeit dafür. :cry


    Aber das Gute daran ist, dass nie ein Gefühl von Mangel entstehen wird. Ich kann jederzeit aus dem Vollen schöpfen und mich daran erfreuen, dass unzähliche (Lese-)Möglichkeiten offenstehen. :-]