Muss Grass sagen, "Was gesagt werden muss" ?

  • Mir macht viel mehr Angst, dass hier eine Gewaltbereitschaft gerechtfertigt wird, ein möglicher Präventivschlag als Selbstverteidigungsanspruch deklariert wird und jedem, der sich hier kritisch äußert, Antisemitismus unterstellt wird. Treu nach dem Motto: Angriff ist immer noch die beste Verteidigung.


    Mir fällt die richtige Ausdrucksweise für meine Gedanken zu diesem Thema etwas schwer, da geht es mir nicht anders, als Delphin. Ihre und z. B. agrus Beiträge finde ich aber durchaus gelungen - auch der verlinkte Artikel der Stimmen Israels. Voltaire, ich kenne dich ja auch persönlich und schätze deine Beiträge zu anderen Themen durchaus, aber hier werden wir auf keinen gemeinsamen Nenner kommen. Ganz sicher hängt deine Einstellung zu diesem Thema auch sehr eng mit deiner familiären Geschichte zusammen und ich verstehe durchaus, dass du das anders sehen musst.


    Was mir im Zusammenhang mit diesem Thema wirklich Angst macht, ist diese offene Gewaltbereitschaft. Wer die Lämmer und wer die Schlächter sind, lässt sich schon lange nicht mehr so ganz genau auseinanderhalten.

  • Zitat

    Original von arter
    :write
    Was mich am meisten an dieser Geschichte stört, ist, dass die Diskussion um den Brandherd "Naher Osten" durch dieses Geschreibsel unnötig emotionalisiert und aufgeputscht wird. Intelligente, sich in moralischer Verantwortung wähnende Künstler sollten ihren Einfluss eher in einer Weise ausüben, dass Wogen geglättet werden.


    Das unterschreibe ich. Ich frage mich auch, warum sich Grass ausgerechnet der Nahostproblematik annimmt.


    Er haette ja auch über die Lage im Sudan schreiben können.


    Und er hat auch kein Tabu gebrochen - der Historiker Tom Segev sagt:


    Zitat

    Segev: Aber dieses Schweigen gibt es nicht. Die ganze Welt diskutiert darüber. Auch in Israel. Deshalb war meine zweite Reaktion auf das Gedicht dann auch, dass Günter Grass keine Ahnung hat von Iran, von Atomkraft und Strategie. Es sei denn, er hat sich gestern mit dem iranischen Staatspräsidenten Ahmadinedschad unterhalten oder dem israelischen Premierminister Netanjahu - oder mit beiden.


    Quelle:


    [URL=http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,825782,00.html]http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,825782,00.html[/URL]


    Mir sieht es eher nach Trotz aus. Endlich mal als Deutscher Israel zu kritisieren (können).

    "Literatur ist die Verteidigung gegen die Angriffe des Lebens."


    "...if you don't know who I am - then maybe your best course would be to tread lightly."

  • Zitat

    Voltaire : Man staunt immer wieder, wie schnell doch die Pferde gesattelt sind, wenn es gilt gegen Israel zu reiten.


    Die Pferde werden in einem Land gesattelt, in dem niemand mehr von außen bedroht wird. Würden dieselben ihre Pferde in Tel Aviv satteln, dann wäre die Perspektive der Reiter plötzlich eine ganz andere, denn sie könnten nur einige hundert Kilometer nach Norden-, Osten-, Westen oder Süden reiten. Spätestens jetzt würden sie ihre Meinung ändern.

  • Die Perspektiven ändern sich für die meisten Menschen oft in ihrem Leben. Aber niemals ändert sie sich so krass, wie am Ende des Lebens, wenn der Mensch sich selbst gegenüber Rechenschaft ablegen muss, wie er in seinem Leben mit seinen Mitmenschen umgegangen ist; ob er ihnen dieselben Rechte zugestanden hat, die er für sich beansprucht hat, ob und in welchem Maß er ungerecht gegen andere war oder wieviel Leid er anderen zugefügt hat. Und ich bin sicher, das misst sich nicht in ein paar 100 km.

  • Voltaire, ich habe nichts gegen Israel.


    Im Gegenteil, mich faszinieren Land und die Leute. Ich hatte und habe in L.A. zahlreiche Iraelis in meinem Freundeskreis. Nicht wenige von denen finden die Hardliner-Ausfälle ihrer Regierung genauso hirnrissig wie Ahmadinedschads Hetzparolen.
    Pauschale Feindseligkeit gegen eine Gruppe aufgrund ihrer Nationalität, ihres Aussehens, ihrer Glaubensrichtung, ihrer Herkunft oder der Farbe ihrer Schultaschen erscheint mir so dermaßen absurd, dass ich es kaum in Worte fassen kann. Antisemitismus und Judenfeindlichkeit empfinde ich als ungefähr so zeitgemäß wie die katholische Inquisition oder den Ku Klux Clan - ein gräßliches Relikt, das geächtet gehört. Ich weiß aber nicht, ob das Ziel - solches Gedankengut schlicht auszurotten - damit erreicht werden kann, dass man jedem, der ein Wort der Kritik an israelischer Politik äußert, sofort Antisemitismus unterschiebt und zur Hexenjagd bläst. Ich persönlich stelle diesbezüglich nämlich allmählich Ermüdungserscheinungen fest. Ich kann es nicht mehr hören. Es geht mir auf die Nerven. Ja, ich hab's begriffen. (Ähnlich gehts mir übrigens auch mit der Gleichberechtigungsdiskussion - ich habe es nie als Problem erlebt, also warum wird's mir jetzt an jeder Ecke als Problem reingedrückt??)


    Also - wie kommst Du auf die abwegige Idee, in meinen Äußerungen Antimilitarismus mit Israelfeindlichkeit gleichzusetzen? Diese Gleichschaltung ist ungefähr so sinnvoll wie ein Vergleich, ich sei israelfeindlich, weil ich gern Jeans trage, und die pöbelnden Steinewerfer mit Nazisymbolen auf der Jacke ja auch Jeans tragen.


    Ein bisschen Sachlichkeit, bitte.

  • Zitat

    Original von newmoon
    Er haette ja auch über die Lage im Sudan schreiben können.


    Ja hätte er. Jetzt gehen wir mal alle in uns und fragen uns, ob sich dann eine ähnliche Aufregung ergeben hätte. Die Antwort lautet wahrscheinlich nein. Und anschließend stellen wir uns kurz die Frage, ob die Menschen, die im Sudan sterben und drangsaliert werden, weniger wert sind als die Menschen, die potentiell in Israel und Iran sterben werden, falls zwei Hornochsen aufeinander losgehen müssen.

  • Zitat

    Original von arter
    :write
    Was mich am meisten an dieser Geschichte stört, ist, dass die Diskussion um den Brandherd "Naher Osten" durch dieses Geschreibsel unnötig emotionalisiert und aufgeputscht wird. Intelligente, sich in moralischer Verantwortung wähnende Künstler sollten ihren Einfluss eher in einer Weise ausüben, dass Wogen geglättet werden. Eine einseitige öffentliche Stellungnahme in der Art, das ist nicht nur kontraproduktiv sondern ich würde sogar soweit gehen, es als Kriegstreiberei zu bezeichnen. Die Geschichte hat schon oft gezeigt, dass aus Konflikten Kriege geworden sind, weil sich immer wieder Kriegshetzer gefunden haben, die eine Masse von Menschen mit latent vorhandenen Abneigungen eine hassende Meute verwandelt haben.



    arter,


    ich weiß nicht, welche Geschichte Du kennst. Die, die ich kenne, hat nicht einmal in dreitausend Jahren irgendwo auf der Welt einen Krieg zu verzeichnen, der durch einen einzigen 'Kriegshetzer' entstanden wäre. Um einen Krieg anzufangen, brauchte es in meiner Geschichte immer viele zusammenwirkende Komponenten, darunter eine profitorientierte Waffenindustrie, expansionslüsterne Politiker - und Wirtschaftsgruppen, eine Bevölkerung, die vor allem ökonomisch in bedrängter Lage und damit manipulierbar war, und eine außenpolitische Konstellation, bei der einflußreiche andere Staaten bei dem geplanten Übergriff mindestens wegsahen, im Regelfall aber billigend gegenüberstanden.



    Dein Standpunkt zur Rolle von 'intelligenten Künstlern' ist Dein Standpunkt, tatsächlich ist er der eines Menschen, der Kunst zur Beschaulichkeit möchte. Das darfst Du so halten.
    Deswegen aus jemanden, der Dich aus Deiner Beschaulichkeit aufstört, einen Kriegstreiber zu machen, ist weit gegriffen. Sehr weit.
    Bevor Du Grass so etwas vorwirfst, solltest Du vielleicht selbst einmal überlegen, warum Du in dieser Weise zuschlägst. Jemanden einen 'Kriegstreiber' zu nennen, ist ein schwerwiegender Vorwurf. Die Belege dafür fehlen mir im Fall von Grass.
    Dir schlage ich vor, die eine oder andere Rede des israelischen Ministerpräsidenten aus den letzetn Wochen zu lesen.
    Danach können wir uns über den Begriff 'Kriegstreiber' und wo er einzusetzen ist, noch einmal unterhalten.



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • newmoon und beisswenger


    Grass hat über Israel und den Iran geschrieben, weil in dem Gebiet im Moment ein Angriffskrieg droht, der durchaus mit Atomwaffen geführt werden kann, deren Einsatz das Land, in dem wir leben, möglich macht.
    Wenn dieser Krieg ausbricht, sind wir mitschuldig. Ist Euch das klar? Ganz klar?
    Denkt darüber nach.
    Es ist höchste Zeit.


    Und wenn Ihr keine Lust dazu habt, dann setzt Euch hin und beschäftugt Euch mit dem Sudan oder China oder Guatemala oder Afghanistan oder ... Wieviele Krisenherde hat die Welt?
    Ey, nicht darauf warten, daß andere was tun. Ärmel hochkrempeln, selbst tätig werden.
    Ein kenntnisreiches Statement zum Sudan wäre auch mal was Schönes hier im Forum.



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • magali : Ich schätze, wir sind zum ersten Mal überhaupt einer Meinung. Danke, dass du in diesem Thread das an- und aussprichst, was die ganze Zeit in kruden verschnörkelten Gedanken in meinem Kopf ist, sich aber leider nicht zu verständlichen Sätzen, die man niederschreiben könnte, formen will.
    Weiter so. :anbet

  • Zitat

    Original von magali
    newmoon und beisswenger


    Grass hat über Israel und den Iran geschrieben, weil in dem Gebiet im Moment ein Angriffskrieg droht, der durchaus mit Atomwaffen geführt werden kann

    Ist das tatsaechlich der Fall ?

    Zitat

    deren Einsatz das Land, in dem wir leben, möglich macht.


    In der Tat zum Kotzen, aber die boomende dt. Wirtschaft (wie von der Politik suggeriert) hat auch etwas mit den Waffenexporten zu tun, und wenn der Lebensstandard in Dtl. sinken würde, wäre das Gejammer gross. Dies am Rande.


    Zitat

    Wenn dieser Krieg ausbricht, sind wir mitschuldig. Ist Euch das klar? Ganz klar?Denkt darüber nach.Es ist höchste Zeit.

    Bist Du nicht und bin ich nicht.


    Zitat

    Und wenn Ihr keine Lust dazu habt, dann setzt Euch hin und beschäftugt Euch mit dem Sudan oder China oder Guatemala oder Afghanistan oder ... Wieviele Krisenherde hat die Welt?Ey, nicht darauf warten, daß andere was tun. Ärmel hochkrempeln, selbst tätig werden.Ein kenntnisreiches Statement zum Sudan wäre auch mal was Schönes hier im Forum.

    Ich helfe wo ich kann und gerne auch lokal. Die Leute, die sich hier z.B. für Tibet engagieren, aber der alten Nachbarin nicht einmal die Einkaufstüten die Treppen hochtragen, kann ich leider nicht ernst nehmen.


    All' dies sollte kein persönlicher Angriff sein. Ja, Israel macht auch Fehler, aber Fakten zu verdrehen, wie Grass es tut, ist einfach nicht richtig.

    "Literatur ist die Verteidigung gegen die Angriffe des Lebens."


    "...if you don't know who I am - then maybe your best course would be to tread lightly."

  • Zu dem langen Statement von Voltaire:


    Grundsätzlich:


    kein Staat hat ein Recht auf einen Präventivkrieg.
    Damit darf man nicht einmal drohen.
    Israel verstößt damit gegen die UN-Charta, die es mitunterzeichnet hat, und auch gegen Grundlagen des Völkerrechts.
    Netanjahu hat in seinen letzten Äußerungen ein Recht Israels auf einen Präventivschlag behauptet. Ein solches Recht gibt es nicht, für niemanden.


    Das Land wird in seiner Säbelrasselei von unserem Staat unterstützt. Wer das mitmachen will, macht das mit.
    Wer nicht militaristisch denkt, protestiert dagegen. Aus der Verkettung unserer Geschichte mit der Israels heraus wagen viele hierzulande nicht, es zu tun. Grass versucht, diese Ketten zu sprengen und zeigt einen Weg zu einer Verantwortung, die ohne Krieg ein Zusammenkommen ermöglichen möchte.


    Zitat

    Man möge sich nur an 1967 erinnern. Mit einem Präventivschlag kam Israel einem Angriff Ägyptens nur um wenige Stunde zuvor. Hätte Israel hier nicht mit dieser Entschlossenheit gehandelt, das Land wäre nicht das was es heute ist. Und auch den ägyptischen Angriff während des Friedensfestes 1973 konnte Israel nur unter großen Verlusten zurückschlagen. Wie kann man erwarten, dass Israel das Geschrei aus Teheran nur als großmäuliges Säbelrasseln einordnet? Nach den Erfahrungen aus den Jahren 1967 und 1973?


    Diese Behauptungen sind falsch. Seit Beginn der 1970er ist Konsens auch in der israelischen Geschichtsschreibung, daß Nassers Vorgehen defensiv war, der Krieg bereits im März 1967 als Planspiel im Pentagon durchgeprüft wurde und, abgesehen vom Nutzen, Israel international als verfolgte Unschuld dastehen zu lassen, der Krieg vor allem innenpolitische Gründe hatte.
    Es tut mir auch leid, aber Israel ist ein Staat, wie andere auch, und deswegen muß man mehrere Faktoren berücksichtigen, wenn man die jeweilige Lage beurteilen will.


    Die 'großen' Verluste 1973 haben sich die Israelis selber zuzuschreiben, zugrunde liegt politisches und militärisches Versagen noch vor Kriegsbeginn. Auch das ist bekannt.


    Das vermisse ich überhaupt in Diskussionen über Israel. Ich finde vor allem bei den BefürworterInnen der aggressiven zionistischen Politik keinerlei Hinweise auch nur auf rudimentäre Kenntnisse über tatsächlichen die politischen Verhältnisse im Land. Ihr macht es Euch einfach bequem, indem Ihr Euch Schauergeschichten über arme Verfolgte greinend in Euren bequemen Sesseln zurücklehnt und jeder, die nicht mit Euch greint, Antisemitimus, Rassissmus oder Nähe zu den Nazis vorwerft.


    Wacht auf. Israel ist ein modernes Land, mit einer ganz modernen Politik, sie heißt 'Großmachtpolitik'. Israel ist eine bis an die Zähen bewaffnete Großmacht, die seit Jahrzehnten über schwache Nachbarn herfällt. Libanon? jemand mal das Wort gehört?
    Und hier hocken Leute und entschuldigen das mit einem Recht auf Selbstverteidigung.
    Israel ist ein Land, das bis heute nicht bereit ist, sich klare Grenzen zu geben.
    Hat sich von den BefürworterInnen des Zionismus jemand Gedanken darüber gemacht, was das bedeutet? Völkerrerchtlich? Außenpoltisch?
    Gut, Israel bombardiert den Iran. Wer wird der nächste sein?


    Hat sich jemand von Euch einmal mit Zionismus beschäftigt? Wißt Ihr, was für eine Ideologie das eigentlich ist?
    Wißt Ihr, wo die Opposition in Israel steht? Kennt Ihr Bücher von Ilan Pappe? Schlomo Sand?


    Auf der anderen Seite fehlt ebenso Wissen über den Iran. Außer von DraperDoyle und Delphin habe ich hier noch nichts über dieses Land gehört, was auch nur im Ansatz unter 'Information' fallen würde. Statt dessen ergehen sich die BefürworterInnen des Zionimus in antiislamischen Tiraden, die stracks aus der letzten Fasnachtsbütt stammen.
    Auch das ist bequem.


    Voltaire


    ja, bitte, nenne mich 'Antisemitin' und 'Israelhasserin'. Von einem in Deinem gegenwärtigen Geisteszustand ist das ein Kompliment.
    Ich hoffe, Du bist bald wieder nüchtern.



    Was den Rest angeht, so freue ich mich daß es hier Eulen gibt, die sich ganz klar gegen Kriege, Erstschläge und Säbelrasseln aussprechen.
    Ich werde nie verstehen, daß es Menschen gibt, die eine solche Meinung nicht haben.



    :wave


    magali



    edit: Möglichkeit eines eklatanten Mißverständnisses beseitigt. :bonk

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von magali ()

  • Es ärgert mich, dass Grass - oder wer auch immer sich positiv über den Text von Grass, oder gegen einen Angriff Israels auf den Iran äußert- gleich in die antisemitische Ecke gedrängt wird, so als würde es nur zwei Möglichkeiten geben, entweder man ist für einen Präventivschlag Israels, oder man spricht dem Land und den Menschen dort das Existenzrecht ab. Das erinnert mich ganz stark an George.W. Bushs "Either you are with us, or you are with the terrorists.", wodurch suggeriert werden soll, dass es nur diese beiden Möglichkeiten gibt - und wer will in Deutschland schon als Antisemit da stehen. Hierbei muss man sich bewusst machen, das es sich um ein falsches Dilemma handelt, also ein (häufig, aber nicht immer beabsichtigter) Fehlschluss, der eine Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten als Notwendigkeit darstellt, obwohl weitere Entscheidungsmöglichkeiten existieren. Stigmatisierung von Abweichlern als Antisemiten, falsche Dilemmata und dazu noch ein bisschen suggerierter Zeitdruck ("in sechs Monaten hat der Iran ganz sicher die Atombombe"), und schon haben wir den idealen Nährboden für eine schlechte, auf Gruppendenken basierte Entscheidung.


    Ich bin kein Freund der Iranischen Regierung. Auf der Israel-loves-Iran-Seite gibt es Kommentare von Iranern, die aus Angst vor dem eigenen Geheimdienst keine Israelis auf ihre Freundeliste bei Facebook nehmen können. Die wahrscheinlich schon mit Trick 17 arbeiten müssen, um überhaupt an der staatlichen Internetzensur vorbei auf die Facebookseite zu kommen. Aber wenn ein totalitäres, menschenverachtendes Regime Grund genug sein soll, ein Land anzugreifen, dann müssen wir uns wirklich fragen, wieso wir nicht Saudi-Arabien bombardieren, wo die Menschenrechte noch mehr mit den Füßen getreten werden als im Iran.


    Ich kann dagegen sein, den Iran anzugreifen und trotzdem Israel nicht das Existenzrecht absprechen, was zum Teil schon mal daran liegt, dass ich nicht glaube, dass der Iran die Existenz Israels gefährdet. Ich hab das Gefühl, dass es von einigen schon als beschlossene Sache gesehen wird, dass der Iran auf jeden Fall Israel angreifen wird und dass das schon gar nicht mehr hinterfragt wird, sondern nur noch überlegt wird, wie man einen iranischen Angriff verhindern kann. Aber wie viele Kriege hat der Iran denn in den letzen 100 Jahren begonnen? Abgesehen davon, dass ich die iranische Regierung nicht für suizidal halte.


    Ich frage mich auch, wie die Befürworter eines Präventivschlags sich das vorstellen. Wenn ich Benjamin Netanjahu und Ehud Barak faseln höre, dass bei einem Präventivschlag höchstens 300-500 Israelis ums Leben kommen werden, kann ich nur mit dem Kopf schütteln. Zum einen finde ich auch 300-500 getötete Israelis schon 300-500 getötete Israelis zu viel und wäre auch ernsthaft angepisst, wenn meine Regierung meinen Tod oder den 500 meiner Mitbürger mal eben als Kollateralschaden in Kauf nimmt. Zum anderen ärgert es mich, dass mit keinem Wort erwähnt wird, wie viele Iraner man denn einplant bei dieser Aktion zu töten - ebenfalls als Kollateralschaden wahrscheinlich.


    Und glaubt eigentlich wirklich jemand, dass der Iran sich nicht wehren wird? Haben wir von den Kriegen ins Afghanistan und Irak wirklich nichts gelernt? Der Iran ist nicht der Irak, der durch den ersten Golfkrieg 1991 und die darauf folgenden strengsten UN-Sanktionen aller Zeiten schon mehr als geschwächt war, als die USA und ihre Freunde einmaschiert sind. Und auch die Iraker haben sich gegen die Besatzungsmacht gewehrt. 2011, nach acht verdammt langen Jahren und unzähligen Toten auf beiden Seiten sind die letzten amerikanischen Truppen abgezogen - mit fragwürdigem Erfolg.


    Ich könnte echt kotzen. Der Iran wird längst angegriffen. Seit Jahrzehnten. Durch massive Sanktionen, durch das Abkappen vom SWIFT-System, [URL=http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,808414,00.html]durch Bombenattentate auf iranische Wissenschaftler[/URL], durch immer wieder zitierte Fehlübersetzungen, mit den Androhnungen eines Präventivkrieges. Wenn die Iraner sich bedroht fühlen, darf man sich nicht wundern. Aber die Rede ist immer nur von Israel, das sich bedroht fühlt. Ich wundere mich seit Jahren, dass der Iran so ruhig bleibt. Ganz so durchgeknallt kann Ahmadinejad nicht sein.


    Gestern habe ich irgendwo den Spruch gelesen: "Don't Iraq Iran". Die "Operation Iraqi Freedom" hat den Irakern kein Stück an Frieden gebrach und den Amerikanern kein Stück an Sicherheit. Oder glaubt irgendjemand, dass die Angst vor terroristischen Angschlägen seit 2003 gesunken ist? Seit Jahren wird ein Klima der Angst propagiert, und ich bin fest davon überzeugt, dass Israel sich kein Stückchen sicherer fühlen wird, wenn es den Iran angreift.


    Der Iran hat eine hochgebildete, junge Bevölkerung. Die meisten sind unter 30 und haben weder mit der Islamischen Revolution noch mit Terrorismus noch mit der Vernichtung Israels etwas am Hut. Wenn Mossadeqh nicht 1953 mit Hilfe des CIA gestürzt worden wäre, hätten wir heute vermutlich einen demokratischen, säkularen Iran. Ich wünschte, wir würden dem Land Möglichkeiten geben, wieder in die internationale Staatengemeinschaft aufgenommen zu werden und uns ansonsten nicht in interne Angelegenheiten des Landes einmischen.

  • Zitat

    Original von beowulf
    Magali: Ceterum censeo... vergessen?


    beo,


    bitte!!


    Cato hätte den Satz bis heute wiederholen können, wenn Rom hätte nicht militärisch aufrüsten und expandieren wollen. Der vielbewunderte Kulturbringer Rom war ein aggressives, imperialitisches, rundum militaristisches Staatswesen, dem es einzig um Hegemonie ging.
    Das ist genau ein Beispiel für das, was ich schrieb. Ein einzelner kann keinen Krieg auslösen. Dazu braucht es eine komplexe Gemengelage.



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Zitat

    Original von newmoon

    Ist das tatsaechlich der Fall ?


    Ja. Netanjahu (holy, cannoli, ich habe den Namen nie so oft geschrieben, wie in den letzten 24 Stunden hier, das ist die reine Beschwörung. Ich hoffe, Bibi erscheint mir nicht heute nacht. :yikes) läßt keinen Zweifel daran, daß er das möchte. Die innerisraelische Situation ist wackelig. Und das Land ist seit langem daran gewöhnt, einen Krieg anzuzetteln, wenn's innen wackelt.
    Ich finde es angebracht, sich Sorgen zu machen.


    Aber die Angst vor einem Krieg war nur der Anlaß, das Thema 'Israel' überhaupt zur Spache zu bringen und das war okay.
    Ich finde es auch deswegen gut, weil sich viele Menschen Gedanken machen, ich rede mit NachbarInnen, schreibe Mails, es gibt gute Interviews, auch wenn der Shitstorm (ich hab's benutzt!!!) überwiegt.



    Zitat

    deren Einsatz das Land, in dem wir leben, möglich macht.


    Zitat

    in der Tat zum Kotzen, aber die boomende dt. Wirtschaft (wie von der Politik suggeriert) hat auch etwas mit den Waffenexporten zu tun, und wenn der Lebensstandard in Dtl. sinken würde, wäre das Gejammer gross. Dies am Rande.


    Du, ganz ehrlich, wenn es der Waffenindustrie schlecht geht, hungere ich gern.
    Was ist das denn für ein Argument, sag mal? Hauptsache, mir geht's gut, ist mir doch wurscht, daß die Kohle durch die Produktion von Streuminen und Atom-Sprengköpfen reinkommt?
    Nö. Nicht hier bei mir.




    Zitat

    Wenn dieser Krieg ausbricht, sind wir mitschuldig. Ist Euch das klar? Ganz klar?Denkt darüber nach.Es ist höchste Zeit.

    Bist Du nicht und bin ich nicht.[/quote]


    Globalisierung, newmoon. Wir haben alle Blut an den Händen und Armen bis zum Ellenbogen hoch.
    Ich tue, was ich kann, damit es nicht noch höher steigt.




    Zitat

    All' dies sollte kein persönlicher Angriff sein. Ja, Israel macht auch Fehler, aber Fakten zu verdrehen, wie Grass es tut, ist einfach nicht richtig.


    Angriff auf mich? Kein Problem, wenn's um Israel geht, fliegen die Fetzen, ich bin das gewöhnt. Schreib drauflos.


    Was ich nicht verstehe: wo fälscht Grass?
    Es kann sein, daß er sich irrt, aber wo verdreht er Fakten er?

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Zitat

    Original von beowulf
    Eine explosive Gemengelage benötigt entweder eine Person die sie entschärft wie es Gandhi war oder eine die zündelt, keine Dynamitstange explodiert ohne Zünder.


    Lieber Beo, ist Dir aufgefallen, daß auf den Fotos von Gandhi noch so ein, zwei Leutchen sitzen? Und weißt Du, wieviele Jahre er gebraucht hat, bis er sein Ziel erreicht hatte? Fast fünfzig.
    Die zweite Sache ist die, daß sich Gandhi ohne die Angriff der Nazis auf England, was desen Kräfte einfach anderswo gebunden hat, möglicherweise am Ende doch nicht hätte durchsetzen können.


    Die Dynamitstange fällt nicht aus den Wolken und sie liegt nie von ungefähr da, wo sie liegt. Auch die Zünder werden dann angebracht, wenn man sie in Gebrauch nehmen will. Darüber aber entscheiden viele, nicht bloß einer.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Delphin


    :write :write


    Ganz toller Beitrag.
    Danke besonders für Deinen deutlichen Hinweis darauf, daß einer eine falsche Alternative suggeriert wird.


    Ich möchte an der Stelle zu bedenken geben, daß in der israelischen Politik durchaus damit gerechnte wird, daß der Iran wegen der Palästinenser nicht zurückschlägt, sie also eine Art Geisel sein sollen.
    Abgesehen davon, daß hier einfach rücksichtslos mit Menschenleben egal, wo, gespielt wird.


    Grass selbst sagt in seinem Gedicht ganz deutlich, welche Strafe darauf steht wenn man sich hierzulande nicht an die offiziell verordnete Lesart hält:
    ...'das Verdikt 'Antisemitismus' ist geläufig.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Zitat

    Original von magali



    Ja. Netanjahu (holy, cannoli, ich habe den Namen nie so oft geschrieben, wie in den letzten 24 Stunden hier, das ist die reine Beschwörung. Ich hoffe, Bibi erscheint mir nicht heute nacht. :yikes) läßt keinen Zweifel daran, daß er das möchte. Die innerisraelische Situation ist wackelig. Und das Land ist seit langem daran gewöhnt, einen Krieg anzuzetteln, wenn's innen wackelt.

    Diese Sichtweise finde ich ziemlich einseitig, auch finde ich nicht, dass Israel ständig "schwache Nachbarn angriff". Hallo ? Dem Land wird seit Jahrzehnten das Existenzrecht abgesprochen, Busse werden zerbombt und was nicht alles...


    Zitat

    Du, ganz ehrlich, wenn es der Waffenindustrie schlecht geht, hungere ich gern. Was ist das denn für ein Argument, sag mal? Hauptsache, mir geht's gut, ist mir doch wurscht, daß die Kohle durch die Produktion von Streuminen und Atom-Sprengköpfen reinkommt? Nö. Nicht hier bei mir.

    Ich sage jetzt mal ganz polemisch, dass Wohlstand den Deutschen sehr wichtig ist. Dann die Moral.




    Zitat

    Globalisierung, newmoon. Wir haben alle Blut an den Händen und Armen bis zum Ellenbogen hoch.
    Ich tue, was ich kann, damit es nicht noch höher steigt.

    Entschuldigung, bitte etwas weniger Pathos. Im sicheren Deutschland von Krieg zu reden... ich könnte jetzt meine persönlichen Erlebnisse zum Thema Krieg zum Besten geben, lasse es aber lieber.


    Zitat

    Was ich nicht verstehe: wo fälscht Grass?
    Es kann sein, daß er sich irrt, aber wo verdreht er Fakten er?


    Er verdreht Ursache und Wirkung und vermutet ein Tabu da, wo gar keines ist.

    "Literatur ist die Verteidigung gegen die Angriffe des Lebens."


    "...if you don't know who I am - then maybe your best course would be to tread lightly."

  • newmoon


    das sind halt Ansichtssachen.



    Eines ist KEINE Ansichtssache:
    Israel wird nicht das Existenzrecht abgesprochen. Die Behauptung ist falsch. Israel weigert sich, Grenzen zu nennen. Niemand kann einen Staat ohne Grenzen anerkennen.
    Israel will keine Grenzen nennen, weil es keine Grenzen will, sondern sich ausdehnen können, wann immer es möchte. Das ist offizielle zionistische Ideologie.


    Man kann auch nicht sagen, ich dürfe nicht von Krieg oder von Blut an den Händen reden, weil ich in einem 'sicheren' Land lebe. Ich lebe in einem Land, das Krieg führt, wirtschaftlich wie militärisch. Ich bin gegen Kriege. Gegen Waffen. Gegen Militär. Soldaten und was immer dazu gehört.
    Um diese Meinung zu haben, brauche ich nicht in Tarnuniform in einem selbstgeschaufelten Graben zu hocken und die Granateneinschläge zählen.


    Persönliche Kriegserfahrungen darfst Du mir gern erzählen, beeindrucken tun sie mich nicht. Mir tun alle leid, die in einem Land leben, in dem es Militärpflicht gibt oder die aus Armut allein beim Militär Ausnildungs - udn Lebenschancen bekommen.
    Wer freiwillig hingeht, darf nicht erwarten, daß ich Tränen vergieße.



    zu Grass:


    wäre das, was er sagt, kein Tabu, wäre der Aufstand nicht so groß. Dann würde Voltaire nicht mit Schaum vor dem Mund 'Antisemitismus' schreien.
    Und eine viel zu große Zahl von JournalistInnen sich nicht öffentlich durch irrwitzige Stellungnahmen unsterblich blamieren.


    Grass hat zielgenau aufs Hühnerauge getroffen.




    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus