Unsichtbare Blicke – Frank M. Reifenberg

  • Die Informationen innerhalb der Spoilermarkierungen kann man mitlesen, muss es aber nicht tun. Sie enthalten keinen Geheimnisverrat, sondern lediglich weitere Informationen zu Personen und Handlungsverlauf.


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    Frank M. Reifenberg: Unsichtbare Blicke – Thriller, Reinbek bei Hamburg 2012, Rowohlt Verlag, ISBN 978-3-499-21617-6, Softcover/Klappenbroschur, 395 Seiten, Format: 21 x 12,4 x 2,6 cm, EUR 12,99 (D), EUR 13,40 (A)


    Dass sich der Band an eine jugendliche Zielgruppe von 16, 17 Jahren richtet, erfuhr ich erst aus dem Internet. Da hatte ich den Roman bereits als „ausgewachsenen“ Thriller gelesen, was wunderbar funktioniert hat. Die Unterschiede zwischen Büchern für End-Teenager und Erwachsene sind nicht mehr besonders groß.


    Vier Handlungsstränge sind es, die in diesem Roman zu einer packenden Geschichte verflochten sind. Und nirgendwo werden „Kaninchen“ aus dem Hut gezaubert – der Leser kann von A bis Z den Hinweisen folgen, miträtseln und sich fragen, ob die Polizei und er auf der richtigen Spur sind.


    >>> Tommi
    DDR 1978, irgendwo an der Ostsee:
    Tommi ist gerade mal 7 Jahre alt, als seine Familie Republikflucht begeht. Die Eltern schaffen es, der Junge nicht. Er kommt in die Obhut eines staatlichen Kinderheims in Thüringen. Wobei ‚Obhut’ nicht ganz das richtige Wort ist für das, was Tommi in den nächsten 10 Jahren in Kleinsdorff widerfährt. Die Jugendlichen dort sind allen erdenklichen Formen des Missbrauchs, der Unterdrückung und der schlimmsten körperlichen und seelischen Gewalt ausgesetzt. Tommi überlebt, weil er sich eine Bande wirklich übler Burschen anschließt.


    Was er nie verwunden hat: Dass eine Eltern ihn einfach so abgeschrieben haben und sich auch nach der Wende nicht um ihn scherten. Sie haben im Westen ein neues Leben angefangen, mit neuen Kindern und ohne ihn.


    >>> Der Entführer
    Thüringen und Bayern, 2011:
    Er, der bis fast zum Schluss ohne Namen bleibt (und, nein, Tommi heißt er nicht!), spioniert junge Mädchen aus und entführt sie. Dabei ist er nicht auf der Suche nach einer willenlosen Sexsklavin. Er sucht eine ganz bestimmte junge Frau.


    Tania Stecker aus Dortmund war wohl nicht die Richtige und wird nach ihrem Verschwinden ermordet in Mecklenburg-Vorpommern aufgefunden.


    Dieses Mal hat er die Richtige im Visier, da ist sich der Entführer sicher. Und er muss ihr nicht einmal persönlich nachstellen um sie zu beobachten. Dank der Hilfe eines Hackers aus den USA konnte er die Webcam ihres Laptops manipulieren und überwacht die Ahnungslose praktisch Tag und Nacht.


    >>> Josefa (Josie) Sonnleitner
    Tief im Westen, 2011:
    Josie ist eine 17-jährige Gymnasiastin, die in einem Seniorenheim jobbt, mit ihrer Freundin Sarah abhängt und in den attraktiven Halbitaliener Felix Diuso verliebt ist.


    Ihre Eltern dürfen von dem Freund nichts wissen, denn sie sind Mitglieder einer extrem konservativen freikirchlichen Gemeinde und mit ihrer Tochter sehr streng. Dass sie mit einem gewissen Geronimo über Gott und die Welt chattet, würden sie ebenfalls nicht gutheißen. Als Felix eifersüchtig reagiert, will Josie den Kontakt mit ihrem Internet-Kumpel abbrechen. Doch sie wird ihn nicht los. So einfach lässt sich ein Geronimo nicht abservieren ...


    >>> Die Sonderermittlungsstelle für Delikte an Kindern und Jugendlichen
    Köln, Sommer 2011:
    Kriminalkommissarin Stella van Wahden, Ende 30, allein erziehende Mutter eines fast erwachsenen Sohnes, leitet die Ermittlungen in Sachen Mädchenmorde. Ihr engster Mitarbeiter ist der japanischstämmige Polizist Miki Saito. Warum er den Spitznamen „Muschimuschi“ trägt, müssen ältere Leser erst einmal recherchieren. Die jugendliche Zielgruppe versteht das vermutlich auch so.


    Es gibt das übliche Kompetenzgerangel mit den Kollegen. Hier sind’s die aus Wuppertal, die nicht akzeptieren wollen, dass jetzt Stella das Kommando hat. Dass der leitende Kriminaldirektor Rüdiger Winterstein nicht gut auf die Kommissarin zu sprechen ist, macht die Sache nicht einfacher.


    Wenn ihre Vermutung stimmt, gibt es acht weitere potenzielle Opfer – und eines davon ist Josie Sonnleitner. Die ist angeblich zu einem Konzert nach Köln gefahren. Doch dort ist sie nie angekommen ...


    Jetzt geraten Stella und ihre Mannschaft gehörig unter Druck.


    >>> Verdächtige und Schuldige
    Wie es sich für einen Thriller gehört, verdächtigt man als Leser zunächst jeden – vom Schulkameraden über den Internetfreak bis hin zum Vater. Und könnte nicht auch der Pförtner ...? Oder der Busfahrer ...? Wenn man dann zu ahnen beginnt, wie alles zusammenhängt, bleibt noch die bange Frage: Kommt die Polizei dem Mädchenmörder rechtzeitig auf die Spur und rettet Josie?


    Wer seit Jahrzehnten Thriller konsumiert, riecht den Braten relativ schnell. Das mag Lese-Routine sein, die man bei der jugendlichen Zielgruppe nicht in diesem Maße voraussetzen kann. Doch trotz einer gewissen Vorhersehbarkeit packt einen die Geschichte und man kann einfach nicht zu lesen aufhören. Das mag an den interessanten Figuren liegen. Hier wurde nichts für Teenager weichgespült. Die Finsterlinge haben ihre Vergangenheit und ihre Gründe und die Guten sind keine Engel. Völlig unerwartet erweisen sich Mitmenschen als Stütze, von denen man nichts erwartet hat. Und solche, die einander nahestehen sollten, haben sich nichts zu sagen. So ist das Leben. Und auf einmal werden aus Romanfiguren Menschen, an deren Schicksal man mit Spannung Anteil nimmt.


    Dieser Roman beeinflusst zweifellos die persönliche Wahrnehmung. Die eigene Webcam wird man eine Weile misstrauisch beäugen. Und bei Pressemeldungen über finanzielle Entschädigungen für ehemalige Insassen der DDR-Jugendwerkhöfe horcht man auf einmal auf. Ein Thriller, bei dem man was lernen kann!


    Mit dem Wissen, dass es sich um ein Jugendbuch handelt, kann man dem Autor auch nachsehen, dass er eine Sechzigjährige mehrfach als alte Frau tituliert. :-) Für Teenies schaut das so aus. Nähert man sich selber dieser Marke, sieht man das freilich ganz anders.


    >>> Der Autor
    Frank M. Reifenberg, seit 20 Jahren Wahlkölner, im Westerwald aufgewachsen, nach dem Abitur Ausbildung zum Buchhändler, danach Texter in Public Relations-Agenturen, später mit eigener Agentur, hat zum Jahrtausendwechsel noch einmal von vorne begonnen: Ausbildung an der Internationalen Filmschule Köln. Schreibt seit über zehn Jahren Drehbücher und Konzepte für Film und Fernsehen, Romane und Erzählungen oder auch mal das Libretto für eine Jugendoper.

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner