Zum Buch
Fast schon eine Autobiographie könnte man diesen wunderschöne Band nennen. Tony Judt, gezeichnet von einer der für mich entsetzlichsten Krankheiten, nämlich ALS, unternimmt in schlaflosen Nächten Reisen im Kopf zurück zu einigen Lebensschauplätzen, unter anderem das London seiner Kindheit und Schulzeit, das Cambridge des Studiums, und reflektiert viele Lebensstationen, beispielsweise seine Zeit als Touristenbegleiter und die Situation nach 1989, als er Midlife Crisis-geplagt Tschechisch lernte, um mit seinen Kollegen jenseits des Eisernen Vorhangs diskutieren zu können.
Der Autor
Tony Judt, geboren 1948, verstorben 2010, studierte in Cambridge und Paris. Ebenfalls in Cambridge lehrte er, unter anderem auch in Berkeley und New York. Er war Mitglied verschiedener Gesellschaften, unter anderem der Royal Historical Society.
Der Übersetzer
Matthias Fienbork, geboren 1947, studierte Musik und Islamwissenschaft. Er übersetzte unter anderem W. Somerset Maugham, Amos Elon und Barack Obama.
Meine Meinung
224 Seiten hat dieser schmale Band, es gibt vornweg ein Vorwort, drei Teile und einen Epilog; insgesamt verzeichnet der Index 25 Prosastücke, meisterhafte autobiographische Miniaturen allesamt.
Der Hanser-Verlag hat das Buch in einen sehr passenden und für meine Begriffe wunderschönen Schutzumschlag gehüllt, der einen starken Bezug zum Inhalt hat: Tony Judt liebte Eisenbahnen und er liebte es, mit ihnen zu fahren, einfach um des Fahrens willen. Eine Brücke - offensichtlich sehr hoch über vielleicht einem Tal, der Hintergrund im Grau-Blau und Weiß-Grau verschwimmend - irgendwoher kommend und irgendwohin führend: ein Sinnbild, vielleicht nur für mich, für sein Leben.
Von einer Krankheit gefesselt, zur Bewegungsunfähigkeit verdammt, unternimmt Tony Judt Reisen. Nacht für Nacht, wenn die Schlaflosigkeit sein treuer Begleiter ist, sucht er Stätten, Begebenheiten und Momente seines Lebens auf, die für ihn wohl mit die wichtigsten waren, die ihn geprägt haben. Er lamentiert nicht, sondern nimmt die Erkrankung als eine Herausforderung an. Welche Bitterkeit sein Los mit sich brachte, hat er allenfalls in wenigen Worten und überaus dezent beschrieben. Als Leserin habe ich zwar zu keinem Zeitpunkt und an keiner Stelle des Buches vergessen können, unter welchen Bedingungen er krankheitsbedingt leben musste, aber Tony Judt hat einen wunderbaren Ton, er kann herrlich plastisch, mit Esprit und Eleganz erzählen, so dass es ihm leicht gefallen ist, mich völlig für seine Erinnerungen zu vereinnahmen.
Er schlägt einen weiten Bogen, vom Nachkriegsengland bis nach Amerika nicht nur der Bush-Ära, vom jungen sozialistisch Geprägten bis zum Mahner nicht nur in kultureller Hinsicht. An keiner Stelle des Buches – und das ist für mich die ganz große Stärke – ist Judt unpersönlich, es ist immer seine Anteilnahme, seine Betroffenheit, seine Hingabe und seine Ablehnung spürbar. Er macht kein Hehl aus seinen politischen und anderen Ansichten, legt deutlich den Finger auf das, was nach seiner Meinung viel zu leicht hingenommen wird, über das man aber nachdenken und vielleicht korrigieren sollte, zum Beispiel in einem der für mich eindrücklichsten Prosastücke, nämlich „Wörter“ (Seite 149 bis 155), wo er über die „Professionalisierung“ (Seite 153) des „akademischen Schreibens“ oder über die „Verarmung“ (Seite 154) unserer Sprache in Zeiten von Facebook, Twitter etc. nachdenkt.
Tony Judt erzählt viel über sein Leben, über seine familiären Verhältnisse erfährt man dagegen recht wenig, ausgenommen sind seine Eltern, denen er mehr Raum widmet. Diese „Reduzierung“ habe ich als sehr angenehm empfunden; ein „wo komme ich her“ erscheint mir wichtiger als eine Beschreibung diverser Ehen resp. Scheidungen. Mir hat diese Form von Erinnerungen besser gefallen als so manch linear erzählte Lebensgeschichte; die kurzen, aber ungemein prägnanten Prosastücke erscheinen mir wie ein literarisches Konzentrat eines reichen, sehr bewusst gelebten Lebens. Die Krankheit hat den Körper des Autors gelähmt, aber nicht seinen Geist: Wenig zahm ist das, was er zu sagen hat, er provoziert nicht um des Provozierens willen, sondern er regt Gespräche und das eigene Nachdenken an.
Fazit
Ein sehr kluges und berührendes Buch, einer tödlichen Erkrankung abgetrotzt und das nicht nur deshalb zum Nachdenken einlädt. Mich hat Tony Judt damit reich beschenkt.
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