Nach einem düsteren Prolog, der ein brutales Ereignis schildert, welches zwanzig Jahre zuvor geschah, beginnt der Roman mit einem Ausschnitt aus der Berliner Gerichtszeitung, datiert vom 22. Juli 1890. Das Blatt, in alter deutscher Schrift gedruckt, informiert über den Mord an einer jungen Handschuhnäherin, die zwei Tage zuvor gekreuzigt und anschließend bis zur Unkenntlichkeit verbrannt wurde. Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren, und die Polizei zieht den Kriminalpsychologen Dr. Otto Sanftleben zu den Verhören hinzu, denn dieser hat sich ausgiebig mit der Körpersprache von Straftätern befasst. In der Zwischenzeit geschieht ein weiterer Mord, ebenfalls an einer jungen Frau. Daneben werden auch mehrere anarchistische Anschläge verübt, die man, aufgrund der Beweislage, den Sozialdemokraten anlastet.
Als sich Sanftleben in eine Zeugin verliebt, kann er sich seines eigenen Urteils nicht mehr sicher sein. Für ihn und den mit dem Fall betrauten Commissarius beginnt eine nervenaufreibende Suche nach dem Motiv und nach dem Mörder.
Im Lauf der Ermittlungen trifft Dr. Otto Sanftleben mit einigen interessanten, vielschichtigen, auch zum Teil undurchsichtigen Charakteren zusammen. Besonders von der jungen Revueschauspielerin Friederike Dürr ist er fasziniert, denn sie erinnert ihn stark an seine verflossene Liebe. Dass die schöne Rike mit ihren Annäherungsversuchen bei Otto offene Türen einrennt, kann man gut nachempfinden. Die Zusammenarbeit mit dem zuständigen Commissarius Funke gestaltet sich größtenteils harmonisch, aber Ottos Engagement und besonders seine liebste Freizeitbeschäftigung bringen ihm nicht nur Freunde bei der Polizei ein, denn Sanftleben ist leidenschaftlicher Radsportler, und bei seinen Übungsfahrten in der Berliner Innenstadt, wo striktes Zweiradverbot herrscht, kommt er häufig selbst mit dem Gesetz in Konflikt.
In der Rahmenhandlung lernt man auch sein privates Umfeld kennen, seinen Bruder Ferdinand, den Tüftler, der sich um die technischen Belange von Ottos Fahrrad kümmert, den farbigen Leibdiener Moses, einen rebellischen jungen Mann, den Otto bei sich aufgenommen hat und sein Elternhaus „Klein-Sanssouci“, wie er es liebevoll nennt,.
Otto Sanftleben, nach außen hin der korrekte, erfolgreiche Wissenschaftler und Schriftsteller, hat auch durchaus seine menschlichen Macken und Schwächen. Besonders wenn bei seinem Sport etwas nicht nach Plan läuft, kann er ganz schön unangenehm und auch ungerecht werden. Davon können sein Bruder und der Leibdiener ein Lied singen. Die persönlichen Dialoge des Dreiergespanns, die sich aus diesen kleinen Konflikten entwickeln, lassen jede Menge Sympathie für Otto, Ferdinand und Moses aufkommen.
Ein Großteil der Handlung spielt in Berlin. Das Flair jener Zeit ist ganz wunderbar getroffen und farbig beschrieben. Die Lebensart, die soziale Lage und politische Spannungen in der Hauptstadt des Deutschen Kaiserreichs, das alles ist lebendig und wirklichkeitsnah geschildert.
Die Geschichte ist übersichtlich strukturiert, den jeweils wechselnden Schauplätzen gemäß in kleine Kapitel unterteilt, die immer gerade dann enden, wenn etwas Wichtiges passiert.
Dazwischen gibt es einige düstere, rätselhafte Passagen, die das Geschehen aus der Sicht des Mörders beleuchten, wobei man mehr über dessen beängstigenden Geisteszustand, seine Beweggründe, seine Vergangenheit und seine Situation erfährt, aber fast bis zuletzt tappt man im Dunkeln, wer er wirklich ist. Einige Spuren führen in die Irre oder verlaufen wieder im Sand, man grübelt beim Lesen und kann bis zum Schluss eigene Spekulationen und Vermutungen anstellen. Alles in allem ist Tim Piepers zweites Buch ein rundum gelungener historischer Krimi, der beste Unterhaltung und viel Spannung zu bieten hat.