Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter! - Anja Maier

  • Lassen sie mich durch, ich bin Mutter: Von Edeleltern und ihren Bestimmerkindern


    Kurzbeschreibung
    Was ist nur mit den Eltern los? Kaum haben sie ihr "[I]Jetzt wirds aber Zeit
    "-Kind, wird es zum sinnstiftenden Projekt. Egal, ob bei der Wahl von Kita und Schule, beim Kauf von Kleidung oder der richtigen Wohnung - das Beste scheint gerade gut genug. Das Kind wird zum Statussymbol. Aber muss wirklich alle Welt Rücksicht nehmen, nur weil Eltern mit ihrer Fortpflanzung das Land vor der Vergreisung retten? Wächst eine Generation kleiner Egoisten heran? Anja Maier hat Familien im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg beobachtet und feststellen müssen, dass aus dem Szeneviertel eine kuschelige Kleinstadt geworden ist. Ihre Geschichten sind vor allem eines: erschreckend wahr, manchmal tragisch - und vor allem urkomisch. [/I]


    Über die Autorin
    Anja Maier, geboren 1965 in Ostberlin, ist taz-Journalistin. Bevor sie das wurde, war sie Schriftsetzerin, Studentin, Redaktionsassistentin und Korrektorin. Mit ihrem Mann, einem rübergemachten Franken, und den beiden Töchtern lebt sie in Brandenburg am Ende einer verkehrsberuhigten Sackgasse. Sie hat vor zwanzig Jahren im Prenzlauer Berg eine Familie gegründet, hat "Die Wende" dort erlebt, die ersten Bioläden und Geburtshäuser eröffnen sehen und auch ausprobiert. Um schließlich die Flucht aus dem dreckigen Szenekiez an den Stadtrand ins Grüne zu ergreifen. Nun ist sie zurückgekehrt in ihren "alten" Kiez, der zu den geburtenreichsten und wohlhabendsten Deutschlands zählt. In den Mikrokosmos um Kollwitz- und Helmholtzplatz, alleine und für drei Monate zu Recherchezwecken. Um dem Mythos von Latte Macchiato- Haltern an Tausend Euro- Designerkinderwagen, Edel- Eltern mit Bestimmerkindern und gelebter Gentrifizierung auf den Grund zu gehen und ein Buch darüber zu schreiben.


    Meine Meinung
    Sicherlich ist das ein polarisierendes Buch. Ich habe selber zwei Kinder und bin gerne am Prenzlauer Berg. Ist nicht weit entfernt von meinem piefigen, grünen Wohnort am Stadtrand. Jedesmal ist ein Ausflug in eine andere Welt, in eine unwirkliche. Dort gibt es Kindermitmachmuseen, Kindercafes (Spezialität "Babycchino", ein Mini- Latte Macchiato für den Nachwuchs- mit Caro Kaffee zubereitet) in denen Kinder sich nicht benehmen müssen und über Bänke und Tische klettern dürfen/sollen/müssen. Es gibt Frittenbuden, die für horrende Preise Biopommes und Biobratwurst anbieten. An jeder Ecke Klamottenläden für hippe Mamas und Kinder, die lustige Namen a la "Kaufrausch" oder "Kauf dich glücklich" haben und Designerware von zB Petit Bateau anbieten. Bioläden über zwei Etagen auf einer Fläche von 600 Quadratmetern. Yogaentspannungskurse für Säuglinge. Zahnarztpraxen, deren Klienten ausschließlich Kinder sind. Überfüllte Abenteuerspielplätze. Biowochenmärkte mit handgenähten Taschen. Schöne Menschen en masse und kaum ein Penner stört das Bild.


    Und vor allen Dingen gibt dort jede Menge zu beobachten. Das, was Anja Maier in ihrem Buch beschreibt, habe ich genau so auch schon hundertmal beobachtet und mich dementsprechend während der Lektüre heftig nickend köstlich amüsiert. Es fängt bei Designer- Kinderwagen an und hört bei Müttern, die einen auf offener Straße darum bitten, die Zigaretten auszumachen, auf.


    Die Autorin lässt Neuberliner zu Wort kommen, die für den Kauf von "Townhouses" ordentlich Geld in die Hand genommen haben, um den Traum von kleinstädtischer Urbanität zu leben. Die für verkehrsberuhigte Straßen und Ruhe ab 22 Uhr kämpfen, weil sie das aus Koblenz oder Baden- Württemberg so gewohnt sind. Sie erwähnt auch den alteingesessenen Knaack- Club Knaack Homepage, der nach Lärmschutzauflagen schließen musste. Sie redet mit alteingesessenen Einwohnern und Cafebesitzern, die genervt sind von stillenden Müttern, die immer und überall ihre Brüste raushängen lassen und damit kinderlose Gäste vertreiben. Cafebesitzer, deren Pacht in ein paar Jahren ausläuft und die mit dem Gedanken spielen, an Ort und Stelle "einen Pornoshop zu eröffnen, mit Allem drum und dran." Sie spricht mit kinderlosen Kiezbewohnern, die vor lauter Verzweiflung überlegen, sich einen Atrappenkinderwagen zuzulegen, damit sie mit ihrem kindergefährdeten Monsterköter wieder unbeschimpft durch die Straßen Gassi laufen können.


    Die Autorin versucht bei aller Bissigkeit immer objektiv zu bleiben und mehr als einmal stellt sie sich die Frage: Bin ich neidisch, weil es zu meiner Zeit anders war? Weil meine Kinder nicht auf eine teure Phorms Privatschule gehen konnten, auf der sie u.a die Möglichkeit gehabt hätten, Mandarin zu lernen? Aber nein, sie ist nicht sozialneidisch, sie schildert Beobachtungen, die mir allzu bekannt vorkommen. Warum nur ist es heutzutage soo unglaublich besonders, Eltern zu sein? Die Autorin fragt sich: was wird eigentlich aus diesen Vollzeitmüttern, die sich ausschließlich über ihre späten Wunschkinder definieren und alles in dessen Förderung stecken? Und vor allen Dingen- welche Generation von Me First- Tyrannen wächst dort eigentlich heran?


    Ich bin gerne im Prenzlauer Berg. Für einen Ausflug, entweder Zoo oder Prenzlauer Berg. Es ist eigenartig dort, lustig. Tagsüber. Abends ist es schön, in meinen piefigen Stadtteil zurückzukehren. In dem es ruhig ist und in dem es auch ein sehr schönes französisches Cafe gibt, in das ich meine Kinder auch manchmal mitnehme. Damit sie lernen, sich zu benehmen. Wie in der richtigen Welt. Das finde ich persönlich wichtig. Abends bin ich lieber in Friedrichshain unterwegs oder in Kreuzberg, alleine und ohne Kinder. Das ist spannender.


    Fazit:
    Dieses Buch spricht mir sehr aus der Seele. Ich hänge ja auch grade genau drinne. Natürlich habe ich mit meinem Sohn auch einen Emmi Pickler Krabbelkurs besucht und bin zum Musikgarten gegangen. Um dann irgendwann festzustellen- das isses nicht. Kinder sind Kinder und sollen Kinder sein. Die Menschheit bringt seit Jahrmillionen ihre Brut ohne TamTam darum zu Welt, also schaffe ich das auch. Und meine Kinder werden ganz sicher auch ohne Yoga- Sprachenfrühförderung- Ballett- Klavier- Nido- Eltern- Tausend- Euro Kinderwagen etcpp groß werden und hoffentlich glücklich. Mittlerweile kenne ich schon drei (schwäbische) Familien, die ihre Eigentumswohnungen am PBerg verkauft haben und hierher gezogen sind. Weil sie keinen Bock mehr auf diesen Irrsinn dort hatten. Sind ganz nett.


    Ein tolles Buch, komisch, genau beobachtet, erschreckend realistisch. Würde mich mal interessieren, ob das auch nur eine Buchhandlung im PBerg an Lager hat. :lache

    Ailton nicht dick, Ailton schießt Tor. Wenn Ailton Tor, dann dick egal.



    Grüße, Das Rienchen ;-)

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  • Zitat

    Original von rienchen


    Ein tolles Buch, komisch, genau beobachtet, erschreckend realistisch. Würde mich mal interessieren, ob das auch nur eine Buchhandlung im PBerg an Lager hat. :lache


    Nene, das hatte ich auch schon in Händen, hier in Leipzig :grin


    Und ich denke auch, dass mir dieses Buch wie dir aus der Seele sprechen würde. Aber genau deshalb werde ich es vermutlich nicht lesen. Ich war kürzlich, mehr aus Versehen, in einem "Familiencafé" in Schleußig, das ist der Leipziger Prenzlberg in klein, und ich war nach fünf minütigem Aufenthalt bereit, die schon leicht ergrauten Vatis zu ermorden, ihre Kinder zu knebeln und in den Keller zu sperren, und sämtliche Bobby Cars, Echtholzkugelbahnen und Haba-Puppen anzuzünden.
    Ich glaube, ein ganzes Buch darüber würde ich nicht ertragen :yikes

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Zitat

    Ich glaube, ein ganzes Buch darüber würde ich nicht ertragen


    Draper, das nehme ich mal als Aufforderung, es Dir bei Gelegenheit zukommen zu lassen. :lache


    Und an der Stelle mit der "Mami- Card" unterhalten wir uns darüber, dass ich auch mal eine bekommen habe. Und ich verrate Dir, was ich damit gemacht habe. :grin


    Ich glaube, der PBerg lässt sich problemlos auf andere Städte übertragen, dort ist es nur kumulierter. Gestern war hier Puppentheater. Meine Kinder saßen vorne und ich habe im Vorraum gesessen und an einem Buch gelesen. Im Raum selber waren mehr Erwachsene, als Kinder, auch in der ersten Reihe und in der Mitte. Sozusagen Sichtnehmer der Zuschauer. Na ja, der "Kleine Eisbär" ist ja auch EXTREM spannend. :lache Die Vorstellung war für ab Vierjährige. Ich weiß auch nicht- war das "früher" auch schon so? Dass die Eltern immer und überall mit dabei hängen? Na ja, auch egal.


    Edit:
    das hier ist auch schön:
    Rainald Grebe- Prenzlauer Berg :grin

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    Grüße, Das Rienchen ;-)

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  • Mami Card :gruebel


    Heute bin ich auf der Buchmesse zufällig in eine Lesung des Buches reingestolpert. Die Frau machte ja doch einen sehr gescheiten Eindruck...


    Aber du kannst du doch nicht so einfach deine Kinder alleine ins Puppentheater schicken. :yikes


    So was muss man doch gemeinsam erleben!
    Und womöglich entwickeln die Kids ein Trauma, weil sie eine Stelle des Stückes falsch verstanden haben und du kannst das nicht richtigstellen, weil du ja lesen musstest. Oder der Bursche auf dem Stuhl nebenan ist so ein verzogener Rüpel und haut deinem Sohn den Schleich-Brachiosaurus übern Schädel und du kannst nicht eingreifen! Oder deine Tochter spielt vor lauter Aufregung an ihrer selbstgefädelten Holzperlenkette, das Ding geht kaputt und keine Mutti weit und breit, die das Kind trösten und die Perlen einsammeln könnte.


    Ich sehe schon, du bist nicht so recht bei der Sache, wenn es um die optimale Förderung deiner Kinder geht :grin

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • und dann drucken die da noch "freche Gören" auf die Karten, zum Beweis, dass sie in ihrem Job versagt haben :wow


    Das ist ja, wie wenn ein Bäcker "verbrannte Brötchen" oder ein Atomingenieur "Kernschmelze" auf seine Visitenkarte schreibt :grin


    Edit meint: harimau, du hast hier nix zu suchen :fetch Wer in der Weltgeschichte rumgondelt, anstatt seine ungeheur wertvollen Gene in die nächste Generation zu retten, kann gar nicht ermessen, was man Großes geleistet hat, wenn man aus einem kleinen Hosenscheißer einen großen Kotzbrocken gemacht hat.

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

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  • Zitat

    Original von DraperDoyle
    Edit meint: harimau, du hast hier nix zu suchen :fetch Wer in der Weltgeschichte rumgondelt, anstatt seine ungeheur wertvollen Gene in die nächste Generation zu retten, kann gar nicht ermessen, was man Großes geleistet hat, wenn man aus einem kleinen Hosenscheißer einen großen Kotzbrocken gemacht hat.


    Aber hallo! Da ich altersbedingt immer langsamer und mein Leben demzufolge vermutlich demnächst unter den Rädern eines Kinderwagens aushauchen werde, mache ich mich über diese Muttis lustig, solange ich noch kann. :crazy

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann

  • Zitat

    Original von harimau
    Aber hallo! Da ich altersbedingt immer langsamer und mein Leben demzufolge vermutlich demnächst unter den Rädern eines Kinderwagens aushauchen werde, mache ich mich über diese Muttis lustig, solange ich noch kann. :crazy


    Ne, ne, bevor du so langsam wirst, dass du einem Kinderwagen zum Opfer fällst, wirst du von einer Horde Muttis gelyncht, weil du


    a) innerhalb einer Sperrzone von 200 Metern um einen Kinderspielplatz rauchst


    b) einem erwartungsvoll sabbernden Zweijährigen was von deinen Pommes rotweiß anbietest


    c) du mit deinem Auto ohne Kindersitz durch eine Spielstraße fährst.


    Aber jetzt sind wir wirklich ein bisschen ot

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • DD, die richtige Antwort ist eindeutig: a. :rolleyes


    Aber noch ein ernstes Wort: rienchen, ich fand die Rezi wirklich klasse. Informativ und sehr schön geschrieben. :knuddel1

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann

  • Zitat

    Original von harimau


    Aber noch ein ernstes Wort: rienchen, ich fand die Rezi wirklich klasse. Informativ und sehr schön geschrieben. :knuddel1


    Danke, meine Muse. :knuddel1


    Ehrlich gesagt habe ich Dich schon vermisst- und dann tauchst Du ausgerechnet in diesem Thread hier wieder auf. :lache Nun, dann habe ich ja schon ein Geschenk für das Herbsteulentreffen, wirst Du Dir aber mit Steffi teilen müssen. :)


    Mami- Card:
    Ja, das ist sie (von Chiclana verlinkt). Die Autorin schreibt in dem Buch sinngemäß dazu: wenn man eine Mami- Card von einer Mami überreicht bekommt und noch bei Sinnen ist, kloppt man das Ding in den nächsten Mülleimer und meldet sich nie wieder bei der Besitzerin der Mami- Card.


    Nun habe ich auch mal auf dem Spielplatz eine überreicht bekommen, das war im letzten Jahr und obwohl ich noch nie von Anja Maiers Buch gehört habe, habe ich intuitiv genauso gehandelt und den örtlichen Mülleimer damit verschandelt. Mami- Card am Kopp. :grin

    Ailton nicht dick, Ailton schießt Tor. Wenn Ailton Tor, dann dick egal.



    Grüße, Das Rienchen ;-)

  • Von dem Buch hatte ich vor einiger Zeit gehört und wollte es mir merken. :bonk
    WIE GUT das grad heute wieder dzau geschrieben wurde, danke an euch Eulen.
    Ich bin sehr gespannt auf das Buch, es könnte köstlich werden.
    Ich bin keine Mutter aber Erzieherin, da erlebt man auch so einiges.


    Und diese Mami-card ist ja super!! :rolleyes

  • Ich hatte beim Lesen meinen Spaß - beim mit der Autorin gemeinsam den Kopf schütteln über diese Edel-Mamas. :grin So urkomisch wie im Klappentext angekündigt, fand ich das Buch allerdings nicht.


    Ganz so gehäuft ist das Auftreten der Edel-Mamas bei uns zum Glück nicht. Doch es gibt durchaus auch einige, die auch wunderbar nach Prenzlauer Berg passen würden. Vermutlich sogar besser als hier her... :lache


    Was mich als Nicht-Berliner auf die Dauer genervt hat, war dass es sehr viel um Berlin ging. Ich hatte mehr Abrechnung mit den Edel-Müttern allgemein und weniger Abrechnung mit Prenzlauer Berg erwartet. In Maßen war auch diese kurzweilig, aber für meinen Geschmack war's zu viel.
    Dafür waren die Mamas wirklich treffend beschrieben...


    Gewundert hat mich das letzte Kapitel, in dem die Autorin plötzlich wieder versöhnt ist mit ihrem Stadtteil und auch mit den vielen jungen Familien dort...


    Alles in allem: 8 Punkte für kurzweilige Unterhaltung.

  • Zitat

    Was mich als Nicht-Berliner auf die Dauer genervt hat, war dass es sehr viel um Berlin ging.


    Das kann ich nachvollziehen. Allerdings- geht man mal durch diesen Stadtteil, ist es nicht zum Aushalten komisch, weil so gut von der Autorin beobachtet! :rofl

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  • Eine Frau, Mutter von fast erwachsenen Töchtern, schon vor Jahren vom Prenzlauer Berg in die brandenburgische Pampa geflüchtet, startet einen heldenhaft Selbstversuch: Drei Monate Prenzl Berg, mitten im neuen Familien-mit-gehobenen-Einkommen-aber-alternativem-Anspruch-Paradies. Das ist natürlich ein ethnographisches Abenteuer, teilnehmende Beobachtung heißt das wohl in der ethnologischen Forschung. Man könnte es auch als „embedded journalism“ bezeichnen, wobei hier nicht so ganz klar ist, wo hier die Fronten verlaufen: Alteingesessene gegen Zugezogene, Eltern gegen Kinderlose, Fußgänger gegen Autofahrer?


    Viel Stoff gibt er jedenfalls her, der Prenzlauer Berg und seine seltsamen Bewohner und Anja Maier hat daraus eine ziemlich vergnügliche Lektüre gebastelt
    Denn die sich da als Trendsetter fühlen, wurden doch eigentlich längst in die Schafherde durchgereicht. Die sich selbst als intellektuelle Elite betrachten sitzen dem gleichen Statusdenken auf wie die belächelte „Unterschicht“, nur dass sie sich ihrer eigenen Bedeutung nicht über den gigantisch großen Fernseher, sondern den gigantisch teuren Kinderwagen versichern. Auch eine akademische Bildung verhindert offenbar nicht, dem falschen Heilsversprechen „Kauf dich glücklich“ zu erliegen und keiner merkt, welch traurige Botschaft sich hinter einem Taschenlabel namens „ichichich“ verbirgt.
    Ansonsten kann man nur über den Konservatismus staunen: Die Kinder als Daseinszweck zumindest der Frauen, das Heim als wichtigstes Betätigungsfeld, die Kernfamilie als Universum.


    Ja, auch mir spricht die Autorin aus der Seele, was schon an den biographischen Parallelen liegen kann. Mein erstes Kind kam zur Welt, als Kinderkriegen zumindest im Osten ein wenig verbreitetes Hobby war, auch bei mir liefen die Kinder eher so mit, auch für uns war heiraten ein reiner Verwaltungsakt. Und unbestritten hat Anja Maier das Talent, den alltäglichen Mutter-Vater-Kind-Wahnsinn auf den Punkt zu bringen.


    Trotzdem ist dieses Buch irgendwie nicht rund, es fehlt der Rote Faden und es erscheint deshalb eher wie eine willkürliche Anekdotensammlung. Die Autorin erwähnt so allerhand Beobachtungen aus diesem kuriosen Mikrokosmos: Gentrifizierung, späte Elternschaft, Einzelkinder und Förderwahnsinn. Doch anstatt das Portrait, oder meinetwegen die Karikatur einer neuen, wohlhabenden urbanen Gesellschaftsschicht zu zeichnen, verheddert sich die Autorin in ihren vielen Denkansätzen, reißt Dinge an, bei denen es sich lohnen würde, ihnen auf den Grund zu gehen, aber dann beginnt schon das nächste Thema. Da wechseln sich kluge Gedanken mit Küchenpsychologie, Stammtischgemaule und „Früher haben wir uns doch auch nicht so angestellt“-Argumenten ab.


    Ich komme mir ja schon wieder vor wie eine Spaßbremse, aber mir fehlte irgendwie die Tiefe. Dieses Buch zu lesen, war wie mit meinem Liebsten im Café zu sitzen und über das, was um uns geschieht, zu lästern. Ein ganz netter Zeitvertreib, wenn man nichts Besseres zu tun hat, aber ohne jeden Erkenntnisgewinn. Die Selbstbestätigung, dass die ja ganz schön bescheuert sind, wir selbst aber zum Glück wissen, wie der Hase läuft.
    Aber die wirklich spannenden Fragen kann Anja Maier, trotz der gelegentlichen Einschübe, in denen Prenzlauer Berg Bewohner selbst zu Wort kommen, nicht beantworten: Wieso wollen Menschen unbedingt in eine Gegend ziehen, die sie stante pede umkrempeln müssen? Warum lassen sich erwachsene Menschen von Kleinkindern terrorisieren? Wofür braucht man SUVs? Und dann die ganz großen Fragen: woher kommt das alles (Maier: aus der westdeutschen Provinz) und wo führt das hin (Maier: zu einem Heer zukünftiger Egozentriker). :gruebel

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • So, nun habe ich das Buch auch endlich gelesen und damit mein vorlautes Auftreten in diesem Fred nachträglich gerechtfertigt. Und ja, es war tatsächlich, wie im Vorfeld vermutet, mein Buch. Das schreibe ich, obwohl ich DDs Kritik im Großen und Ganzen zustimmen muss (Ohne jeden Erkenntnisgewinn würde ich allerdings nicht unterschreiben - das Buch hat mir zumindest einige Denkanstöße vermittelt, so z.B. die Fragen aufgeworfen, warum diese Leute so leben, und warum ich so schrecklich allergisch darauf reagiere. Was sagt mir das über sie, über ihre Ambitionen und Sehnsüchte als Reaktion auf die gesellschaftliche Veränderung der letzten Jahrzehnte, und was über mich selbst?). Ich würde sogar noch stellenweise Langatmigkeit und einige unnötige Wiederholungen hinzufügen, dennoch hat mir die Lektüre einen Riesenspaß gemacht.


    Ich habe oftmals lauthals lachen, im nächsten Moment zutiefst deprimiert oder wahlweise verständnislos den Kopf schütteln müssen. Gerade das Leichte, Anekdotenhafte hat dazu beigetragen, die Sache erstmal nicht allzu ernst nehmen zu müssen und frohen Mutes Spott und Häme empfinden zu dürfen. Das mag menschlich nicht wertvoll sein, aber es befreit enorm. Klein Doofis Rache für den fast täglich zu ertragenden, selbstgerechten Gutmenschenterror, sozusagen.


    Erst kam der Spaß, später dann, wie oben angesprochen, eine ernsthaftere Auseinandersetzung mit dem "System Prenzlberg". Diese an dieser Stelle zu vertiefen, würde mit Sicherheit den Rahmen des Freds sprengen, aber wer das Buch mit der nötigen Distanz liest, wird sich seine Gedanken machen. Leider lösen weder Fluchen noch Schlapplachen reale gesellschaftliche Probleme, und mit einem solchen haben wir es zweifellos zu tun. Auch wenn sie diese Gedanken nicht in den Mittelpunkt stellt, erinnert die Autorin immer wieder daran, dass der hemmungslose Egotrip dieser "Siegermenschen" auf dem Rücken anderer, der "Verlierer" nämlich, ausgelebt wird. Und ob die zielstrebig in die soziale Inkompetenz hinein verhätschelten Kinder am Ende zwangsläufig ebenfalls zu Siegern werden, bleibt abzuwarten. Ich persönlich habe da meine Zweifel, aber meine Vorstellung eines erfüllten, lebenswerten Daseins dürfte sich auch entscheidend von denen der hier portraitierten Eltern unterscheiden.


    Vielen Dank für das Buch, rienchen. Du hast mir eine große Freude gemacht. :kiss


    LG harimau :wave


    P.S. Der Feind ist immer näher, als man denkt. :lache Gestern Morgen saß ich mit Steffi am Frühstückstisch und stellte in meinem grenzenlosen Optimismus die These auf, dass es die im Buch beschriebenen Auswüchse in Ansätzen sicher auch in Hamburg gäbe, aber doch längst nicht in diesem Ausmaß. Im nächsten Moment schlug ich die Zeitung auf, und mein Blick fiel auf den folgenden Anzeigentext eines Geschäfts namens Wohngeschwisterchen im tiefsten Schanzenviertel:


    Beim Kauf eines Bugaboo oder BRIO Kinderwagens (ab 500 Euro) Bekommst Du (!) einen EUR 50,- Warengutschein geschenkt!

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann