Marie Hermanson: Himmelstal
Insel Verlag 2012. 427 Seiten
ISBN-13: 978-3458175308. 14,99€
Übersetzerin: Regine Elsässer
Verlagstext:
Himmelstal, idyllisch in den Schweizer Alpen gelegen, ist das Paradies auf Erden. Hier können sich reiche Patienten von ihrem Burnout-Syndrom erholen. Sie verbringen ihre Tage am Pool, genießen die frische Luft und die Aussicht auf die Berge. Als Daniel seinen Zwillingsbruder Max in der Kurklinik besucht, ist er von der »Zauberberg«-Atmosphäre so angetan, daß er beschließt, noch ein paar Tage länger zu bleiben. Max will in dieser Zeit ein paar Geschäfte in Italien erledigen und bittet seinen Bruder, ihn zu »vertreten«. Aber in dem malerischen Alpental ist nichts, wie es scheint, und für Daniel beginnt ein gefährliches Verwechslungsspiel. In ihrem atemberaubenden Psychothriller entwirft Marie Hermanson eine Welt, in der Gut und Böse nicht mehr zu unterscheiden sind.
Die Autorin:
Marie Hermanson, 1956 geboren, hat etliche Jahre ihres Lebens als Journalistin gearbeitet. Sie debütiert mit einer Sammlung von Erzählungen, die, so ein Kritiker in Schweden, Zeichen sind "einer großen, sich entwickelnden Autorin, welche die altnordische Saga mit den besten Exempeln angloamerikanischer Fantasy und Science Fiction zu vereinen versteht und deren Wurzeln bis hin zu Poe reichen." Diesem Debüt folgen die Romane Schneewittchen (1990) Die Zwillingsschwestern (1993) sowie Die Schmetterlingsfrau (1995), Romane "über den alltäglichen Horror in unserer eigenartigen Zeit". Ihr Roman Muschelstrand erschien 1998. Die Autorin lebt in Göteborg.
Inhalt:
Ob Marie Hermanson sich auf den Zauberberg-Effekt verlassen hat? Ihr Ich-Erzähler reist aus Schweden in die Schweiz, um seinen Bruder in einer psychiatrischen Klinik zu besuchen. Leider nimmt der junge Mann während der dreistündigen Autofahrt von Zürich nach Himmelstal kaum etwas von seiner Umgebung wahr und die Aussicht "entspricht dem, was ein Tourist in den Alpen erwartet." (S. 28) Aha. Der Beginn des Buches, das als atemberaubender Psychothriller beworben wird, wirkte auf mich zunächst lahm. "Hübsche kleine Häuser" gibt es in Schweden sicher auch. Max und Daniel sind eineiige Zwillinge, die seit ihrer frühen Kindheit getrennt bei Vater und Mutter aufwuchsen. Daniel war ursprünglich Dolmetscher am Europaparlament und wechselte seinen Beruf, weil ihn das Gefühl beim Dolmetschen deprimierte, seine Worte gehörten immer anderen Menschen. Die bei ihm diagnostizierte Depression betrachtet er selbst eher als Erkenntnisschock über sein Leben. Nun ist Max, wie er behauptet, in der Schweiz wegen seines Erschöpfungszustands in Behandlung und wünscht sich dringend einen Besuch seines Bruders. Daniel weiß es besser, sein Bruder leidet an einer bipolaren Persönlichkeits-Störung, früher hätte man ihn als manisch-depressiv bezeichnet. Wenn Max eine überschäumende Phase hat wie zur Zeit, vermag kaum jemand, seinen Plänen etwas entgegenzusetzen. Symptom seiner Krankheit ist auch die mangelnde Krankheitseinsicht. Max hält sich für völlig gesund und sieht nur schwer ein, warum er Medikamente nehmen soll. Er überredet seinen Bruder Daniel zu einem raffinierten Kostümwechsel, weil er angeblich außerhalb der Klinik etwas Wichtiges zu erledigen hat - und verschwindet als Daniel mit dessen Pass und dessen Handy. Als Max nach Tagen noch nicht wieder in die Klinik zurückgekehrt ist, stößt Daniel in Himmelstal auf eine unsichtbare Wand, als er dem Personal verdeutlichen will, dass er nicht Max ist. Für einen Psychothriller ist dies eine aparte Ausgangssituation: wenn ein Bruder eine dissoziative Störung hat, dann vielleicht auch der andere? Kann Daniel die Situation evtl. falsch beurteilt haben und Max ist gesund? Ist Dr. Obermann wirklich Psychiaterin oder sind die Ärzte in dieser Einrichtung die Verrückten? Was ist mit den Dorfbewohnern, die ebenso abgeriegelt leben wie die Patienten der Klinik - sind sie auch psychisch krank? Daniel fühlt sich wie in einem neuropsychiatrischen Guantanamo - wer einmal drin ist, hat drin zu bleiben, selbst wenn er tatsächlich nicht psychisch krank ist.
Fazit:
"Himmelstal" entwickelt seine Wirkung durch die Fortschreibung des Gedankens, wie und wo ein Staat nicht therapierbare psychisch kranke Gewalttäter unterbringt, um die Gesellschaft vor ihnen zu schützen. Die streng abgeriegelte Klinik im düsteren Gebirgstal wird bei Marie Hermanson zu einer Nachfolgerin historischer Leprakolonien mit Safari-Tourismus für Forscher aus aller Welt. Das Verwirrspiel um Daniels Erlebnisse in den Schweizer Alpen fand ich weder ungewöhnlich fesselnd noch besonders gruselig. Dennoch gelang es Marie Hermanson, mich mit subtilen Hinweisen ähnlich den Dornenranken bei Dornröschen zu umgarnen und festzuhalten. Ich wollte wissen, ob Daniel mich als Leser evtl. manipuliert und ob in Himmelstal vielleicht doch die Psychiater die Kranken sein könnten. Stilistisch hätte der Roman etwas mehr Glanz vertragen.
8 von 10 Punkten