Abzählen – Tamta Melaschwili

  • Der Klappentext verrät zum Inhalt:
    Mittwoch, Donnerstag, Freitag – drei aufregende Tage für Ninzo und Ketewan, genannt Zknapi. Drei Tage, an denen die 13-jährigen Freundinnen nicht nur die üblichen Freuden und Leiden des Mädchenseins erleben, sondern auch erfahren, was es heißt, in einer gottverlassenen Konfliktzone zu leben, in der sonst bloß noch Kinder, Alte und Krüppel verblieben sind. Gewitzt muss man sein, sich was einfallen lassen. Sonst kommt man nirgendwohin, nicht an Kleider, nicht an Monatsbinden, nicht an Zigaretten und auch nicht an Milch für das Brüderchen. Was zu Friedenszeiten Recht und schicklich war, gilt nun schon lange nicht mehr. Krieg ist mehr als reine Männersache, und doch muss man bei aller mädchenhaften Gerissenheit manchmal ganz, ganz tapfer sein.


    Und zur Autorin:
    Tamta Melaschwili, Jahrgang 1979, wuchs in Georgien auf. Sie verbrachte ein Jahr als Migrantin in Deutschland, wo sie zu schreiben begann. Gegenwärtig lebt sie in Georgien und arbeitet über Frauenrechte und Genderfragen.
    „Abzählen“ ist ihr Debütroman.


    Sogar die Übersetzerin ist ausführlich vorgestellt:
    Natia Mikeladse-Bachsoliani wurde 1966 in Meißen geboren und studierte Germanistik und Literaturwissenschaften in Leipzig. Sie lebt in Tbilissi,arbeitet beim dortigen Goethe-Institut und übersetzt aus dem Georgischen.



    Meine Meinung:
    Der Romantext umfasst gerade einmal 104 Seiten bei durchaus großzügigem, augenfreundlichen Druck. Keine Seite, kein Wort zu viel und keines zu wenig.


    „Ich wollte zum Ausdruck bringen, dass die Tragödie, wie sie in „Abzählen“ geschieht, überall passieren kann: in Georgien, Kosovo oder Ruanda.“
    (Seite 112, Nachbemerkung der Autorin)


    Die Handlung des Romans spielt erkennbar zu Kriegszeiten, auch wenn dieser selbst quasi „vor der Tür“ bleibt. Von einem Toten wird berichtet, es treten am Rande einzelne Kämpfer auf. Den Schrecken des Krieges, seine Auswirkungen darzustellen gelingt Tamta Melaschwili trotzdem auf grandiose Weise. Die Autorin hat den Text so reduziert, dass er wahrlich aus allen Kriegsschauplätzen der Welt stammen könnte. Einer Landschaft, einem Land kann man den Roman allenfalls anhand der Namen zuordnen, ansonsten wird man als Leser auf wohl in Kriegs- und Konfliktzeiten Allgemeingültiges gestoßen: den Hunger, nicht nur nach Lebensmitteln; die Abwesenheit der Männer, bis auf die wenigen üblichen Ausnahmen; der Versuch, trotz der Not die Menschlichkeit zu bewahren und die bittere Notwendigkeit für etwas, was ich mit Anpassung an die Gegebenheiten umschreiben möchte.


    Spröde, fast schon lakonisch und bar jeder Rührseligkeit, mit einer konsequenten Reduzierung auf das Wesentliche erzählt Tamta Melaschwili Szenen aus dem Alltag eines Krieges, nicht dem der Soldaten, sondern dem der Daheim- und Übriggebliebenen, der Jugendlichen, fast noch Kinder und zum Erwachsenwerden gezwungen. Drei Tage, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, immer von neuem, immer wechselnde Szenarien, in fast gleich bleibendem Tempo, ohne dass ich als Leserin Zeit oder gar Muße hatte, zu Atem zu kommen, so dicht ist das Erzählte. Jede Szene hat ihr eigenes Drama, dabei gelingt der Autorin eine Steigerung, ein Schlusspunkt, den man befürchtet, fast schon erwartet hat und der mich trotzdem mit unglaublicher emotionaler Wucht traf, so dass ich mich beinahe so leer fühlte wie sich die Seite des einzigen aus der Reihe scherenden Tages fast am Schluss des Buches darstellte, des Samstags, dessen Text aus einem einzigen Satz besteht.


    Für mich ist dieser Debütroman eine Entdeckung; mein Highlight des Monats März und eines des Jahres 2012.



    Übrigens:
    Keinesfalls unbeachtet lassen sollte man die „Nachbemerkung“ der Autorin am Schluss des Buches. Dort berichtet sie sehr ausführlich über ihr Schreiben und ein bisschen über ihr Leben.


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  • Diese wunderbare Rezi ist leider an mir vorbeigegangen. :-(
    Nun aber wird mich nichts davon abhalten dieses Buch auf meine Wunschliste zu setzen. :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Seit Lipperins Rezension stand das Buch auf meiner Liste. Heute habe ich es endlich in der Bibliothek gefunden und wérde es als nächstes lesen.
    Die ersten Sätze verraten auch schon einen eigenwilligen Stil.


    Edit: Eine Szene finde ich besonders anrührend. Als Ninzo und Zknapi vor dem Kindergarten einen kleinen Jungen mit Bonbons trösten und ihm sagen: "Wenn der Krieg zu Ende ist, fehlts uns an nichts mehr.",
    Da ist er ganz ungläubig. "Der´Krieg geht zu Ende?"


    Erschütternd, dass ein kleiner Junge anscheinend nur die schlimmen Zustände eines Kriegs kennt.